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Das Zeitalter, dem Leo X. in Italien soviel Glanz verlieh, indem er die Künste und Wissenschaften wieder erwecke, die solange unter Unwissenheit und Ungeschmack begraben waren — dies Zeitalter war für den Norden weniger ruhmreich. Deutschland lebte noch in tiefster Unwissenheit und schmachtete unter einer barbarischen Regierung ohne Sitten und Kenntnisse. Die menschliche Vernunft, des Lichtes der Philosophie beraubt, war ganz in Stumpfsinn verkommen. Klerus und Volk standen auf der gleichen Stufe und hatten einander keinen Vorwurf zu machen.

Zu dieser Zeit, da die Priester mit der menschlichen Leichtgläubigkeit so groben Mißbrauch trieben, da sie die Religion ausnutzten, um sich zu bereichern, da die Pfaffen das zügelloseste Leben führten; unternahm es ein einfacher Mönch, alle diese Mißstände zu reformieren. Durch sein Beispiel gab er den Menschen den Gebrauch der Vernunft wieder, der ihnen jahrhundertelang verboten gewesen war, und der menschliche Geist, durch die wiedererlangte Freiheit mit neuem Mut erfüllt, begann den Bereich seines Wissens nach allen Richtungen zu erweitern.

III
Die Religion unter der Reformation1

Ich will die Reformation nicht unter dem Gesichtspunkt der Theologie oder der Geschichte betrachten. Ihre Dogmen und die Ereignisse, die sie hervorrief, sind so bekannt, daß es nicht der Mühe lohnt, sie zu wiederholen. Eine so große und einzigartige Umwälzung, die fast ganz Europa ein anderes Antlitz gab, verdient mit den Augen des Philosophen betrachtet zu werden.

Die katholische Religion, die sich auf den Trümmern der jüdischen und heidnischen erhoben hatte, bestand seit fünfzehn Jahrhunderten. Demütig und sanft zur Zeit der Verfolgungen, aber herrschsüchtig, nachdem sie sich durchgesetzt hatte, ging sie selbst zur Verfolgung über. Alle Christen waren dem Papst Untertan, an dessen Unfehlbarkeit sie glaubten. Daher war seine Macht größer als die des unumschränktesten Despoten. Ein armseliger Mönch erhob sich gegen eine Macht, die derart fest begründet war, und halb Europa schüttelte das römische Joch ab.

Alle die Ursachen, die diese außerordentliche Umwälzung herbeiführten, bestanden lange, ehe sie zum Ausbruch kam, und bereiteten die Geister zu dieser befreienden Tat vor. Die christliche Religion war so entartet, daß ihr ursprünglicher Charakter nicht mehr zu erkennen war. Im Anfang ihres Bestehens war ihre Moral von höchster Heiligkeit, aber der Hang des Menschenherzens zur Verderbnis hatte sie bald


1 Vgl. S. 26 ff. und Bd. VIII, S. 103 ff.