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Nun aber war die Welt von einem Vorurteil beherrscht, das Frankreichs Plänen ungemein hinderlich war. Dies ungünstige Vorurteil beruhte auf einem alten Irrtum, der mit der Zeit immer mehr Gewicht erlangt hatte. Man flüsterte es sich ins Ohr, Frankreich trachte nach der Weltmonarchie — worin man ihm freilich schweres Unrecht tat! Einzig und allein dieser Gedanke hatte alle großartigen Pläne Ludwigs XIV. gestört und nicht wenig zur Verminderung seiner Macht beigetragen. Ein so schädliches Vorurteil mußte notwendig ausgerottet, ja ganz aus dem Gedächtnis getilgt werden.

Frankreichs guter Stern oder, um im Stil der Priester zu reden, der Schutzengel, der über seine Vergrößerung wacht, kurz, alles trug zur Zerstörung jener Meinung bei, die Frankreichs Interessen so zuwiderlief. Ludwig XIV., vor dessen Ehrgeiz Europa so oft erbebt war, hatte seine ruhmreiche Laufbahn beschlossen, nachdem er am Ende seiner Regierung die Ungunst des Schicksals erfahren. Frankreich kam unter Vormundschaft, und die Schwäche des Monarchen steckte auch die Regierung an. Das Land erlitt alles Unheil, das mit vormundschaftlichen Regierungen unzertrennlich verknüpft ist. Der Regent war ein aufgeklärter Fürst und besaß alle gesellschaftlichen Vorzüge, alles, was das Glück des Bürgers ausmacht, aber nicht die Festigkeit, die für Die unerläßlich ist, denen die Zügel der Regierung anvertraut sind. Die Folge war die innere Zerrüttung des Staates durch die berüchtigten Lawschen Aktien1, die fast alle Privatleute ruinierten. Das Geld, das dadurch einkam, floß nur in die Kassen des Regenten und einiger Sekretäre von Law.

Nach dem Tode des Herzogs von Orleans übernahm der Herzog von Bourbon vorübergehend die Regierung, fand aber bald einen Nachfolger in Kardinal Fleury2. Der ergriff das Staatsruder mit sicherer Hand und stellte nicht allein die Finanzen und die innere Ordnung im Lande wieder her. Er tat noch mehr. Durch sein Geschick, seine geistige Schmiegsamkeit und seine scheinbar große Mäßigung erwarb er sich den Ruf eines gerechten, friedliebenden Ministers. Um die tiefe Weisheit seiner Haltung recht zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß man durch nichts mehr das Vertrauen der Menschen gewinnt als durch einen hochherzigen, selbstlosen Charakter. Diesen Charakter spielte der Kardinal so gut, daß Europa, was sage ich? die ganze Welt ihn wirklich für das hielt, wofür er sich gab. Frankreichs Nachbarn schliefen friedlich neben einem so guten Nachbarn, und bei den Ministern, deren Staatskunst im höchsten Rufe stand, galt es als unwandelbarer Grundsatz, man könnte bei Lebzeiten des Kardinals, der von solchem Charakter und schon so bejahrt war, vor Frankreichs Unternehmungen sicher sein. Das war Fleurys Meisterstück, und insofern ist seine Staatskunst vielleicht der von Mazarin und Richelieu überlegen.

Nachdem der geschickte Minister seine Pläne so weit zur Reife gebracht hatte, trat er plötzlich mit ihnen hervor. Das Manifest des Allerchristlichsten Königs fußte zwar


1 Vgl. S. 140.

2 Vgl. S. 146.