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38. Epistel an das Bett des Marquis d'Argens105-1
(7. Februar 1754)

O du, geschaffen süßer Rast zum Lohn,
Gerät, umschattet von des Morpheus Mohn,
Dem holden Schlaf als Helfer treu ergeben,
Dem herben Leid zur Sänftigung beschert,
Laß durch mein Lied ein Weilchen dich beleben
Und fühl', 0 Bette, deinen ganzen Wert.

Die Einsicht hat bis heut sich dir verschleiert,
Welch hehrem Geist dein Pfühl den Rücken deckt;
's ist d'Argens, der die Dunkelmänner schreckt,
Den ganz Paris als großen Isaak feiert,105-2
Der Vorurteil und Dummheit niederstreckt.
Sein fruchtbar Hirn ersinnt auf deinem Kissen
Gar manchen Plan, läßt reifen manchen Band,
Der bald darauf der ganzen Welt bekannt,
Weil die Verleger ihn zu schätzen wissen.

Doch, liebes Bett, was dir dein Glück beschied,
Wie könnte das dein stumpfer Sinn ermessen!
Denn niemals für Corinna war Ovid
Von solcher heißen Liebesglut besessen,
Nie von so wilder Leidenschaft durchdrungen,
Wie dein Marquis für deine Reize zeigt.
So oft er von dir scheidet schmerzbezwungen,
Umsonst, daß seine Qual er uns verschweigt:
Kein Liebender, der jemals treuer war!
<106>Weit eher hätt' im Drang verwegner Taten
Nisus den Freund Eurnalus106-1 verraten,
Sich Orpheus drein gefügt, auf immerdar
Eurydice vereinsamt zu vermissen,
Hätte Penelope, fern von Ulyssen
Sein herrenloses Reich mit ihrer Hand
Verschleudert an den ersten besten Fant,
Als daß dein unvergleichlicher Marquis,
Ein zweiter Seladon, ein treuer Schäfer,
Wenn Dämmerung zur Ruhe lockt die Schläfer,
Nur eine halbe Nacht sich dir entzieh'.

Für deine Federn, draus der Moder haucht,
Für deine schmierig abgeschabten Tücher,
Den Vorhang, löcherig und angeraucht,
Die Kissen, deren Überzug verbraucht,
Verließe sicherlich dein Herr die Bücher,
Die Freunde, die Verwandten, Geld und Güter,
Als deiner muffigen Matratzen Hüter.

Gibt's ein Gefühl, das dauernd sich bewahrt?
Im Rausch zu schwinden ist der Liebe Art;
Zieht irgendwo den zärtlichsten Gedanken
Die Zeit in fünfzig Jahren keine Schranken?
Ward Amor je gesehn mit grauem Bart?
O Bett, nur du — beinah möcht' ich drum zanken -
Zwangst unsern d'Argens, nicht von dir zu wanken.

Doch welch ein Wunder! Die geschwinde Fahrt
Der Zeit, bei der sonst alles geht in Scherben,
Läßt nur noch glühender ihn um dich werben:
Denn vormals hat er höchstens nur die Nacht
In deiner Modergrube zugebracht;
Doch jetzt, nachdem in dich verliebt zum Sterben
Er fähig ward zu jedem Wagestück,
Hältst du bei Nacht ihn und bei Tag zurück.

O Götter, die von je mein Herz verehrte.
Unsterblicher Apoll, des Pindus Gott,

<107>Minerva, hohe, kluge und gelehrte,
Auf, rächt die Kunst, rächt euch für seinen Spott!
Soll der Marquis, der sein Gelübd gebrochen,
Soll dieser d'Argens, fern vom heiligen Hain,
Wie in ein Mausloch in sein Bett verkrochen,
Euch und dem eignen Namen untreu sein,
Soll Mohn und Opium zu Haufen schichten,
Trophäen draus auf seines Lagers Lein
Für seinen Götzen Morpheus schnöd errichten?

Zum Kampf! Und den entfiohnen Untertanen,
Den schnöden Meutrer holt zurück zur Kunst,
Daß er, entrissen seines Bettes Dunst,
Nie mehr zu weichen wagt von euren Fahnen!

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105-1 Vgl. daju S. 104 und die Satire „Lob der Trägheit“ (Bd.VIII, S. 192 ff.). Nach d'Argens' Antwort vom 8. Februar 1754 wurde ihm die obige Epistel um 2 Uhr morgens durch einen Kurier überbracht.

105-2 Als Verfasser der „Lettres juives“ (vgl. S.104, Anm.5) wurde d'Argens von Voltaire Bruder Isaat genannt.

106-1 Ein berühmtes Freundespaar aus Virgils „Äneis“.