<45>tums ganz, die sein Vorläufer, der skeptische Bayle, schon teilweise gelockert hatte. Nun erschienen in Frankreich die Fontenelle und Voltaire, in Deutschland der berühmte Thomasius, in England ein Hobbes, Collins, Shaftesbury und Bolingbroke. Diese großen Männer und ihre Schüler versetzten der Religion einen tödlichen Schlag. Die Menschen fingen an, zu untersuchen, was sie bisher stumpf angebetet hatten. Die Vernunft stürzte den Aberglauben. Man empfand Ekel über die Märchen, die man geglaubt, und Abscheu gegen die Gotteslästerungen, denen man in frommem Wahne angehangen hatte. Der Deismus, die schlichte Verehrung des höchsten Wesens, gewann zahlreiche Anhänger. Mit dieser Vernunftreligion kehrte die Toleranz ein, und man feindete den Andersdenkenden nicht mehr an. Wenn der Epikuräismus im Heidentum der Abgötterei Abbruch tat, so nicht minder der Deismus in unsern Tagen den jüdischen Hirngespinsten, die unsere Vorfahren gläubig angenommen hatten.

Die Gedankenfreiheit, die England genießt, hatte viel zu den Fortschritten in der Philosophie beigetragen, ganz anders als in Frankreich, wo die Werke die Spuren des Zwanges trugen, den die theologische Zensur ihnen auferlegte. Ein Engländer denkt ganz laut; ein Franzose darf seine Gedanken kaum erraten lassen. Doch entschädigten sich die Franzosen für die fehlende Freiheit, indem sie die Gegenstände des Geschmacks und alles, was zur schönen Literatur gehört, meisterlich behandelten. Durch Feinheit, Anmut und Leichtigkeit kamen sie allem gleich, was die Zeit uns von den Schriften des Altertums an Kostbarem erhalten hat. Wer unparteiisch ist, wird Voltaires „Henriade“ den Gedichten Homers vorziehen. Heinrich IV. ist kein Märchenheld; Gabrielle d'Estrées steht der Prinzessin Nausikaa nicht nach. Die „Ilias“ schildert uns die Sitten von Kanadiern; Voltaire macht seine Personen zu wahren Helden, und seine Dichtung wäre vollkommen, hätte er noch mehr Interesse für Heinrich IV. zu erregen verstanden, indem er ihn in größeren Gefahren zeigte. Boileau kann sich mit Juvenal und Horaz messen; Racine übertrifft alle seine antiken Nebenbuhler. Chaulieu ist bei aller Nachlässigkeit dem Anakreon in einzelnen Stücken sicherlich weit überlegen. Rousseau war in einigen Oden glänzend; und wenn wir gerecht sein wollen, so stehen die Franzosen in der Technik über den Griechen und Römern. Bossuets Beredsamkeit gleicht der des Demosthenes. Fléchier kann für Frankreichs Cicero gelten, ohne die Patru, Cochin und so viele andre berühmte Gerichtsredner zu rechnen. Werke wie Fontenelles „Gespräche über die Mehrheit der Welten“ (1686) und Montesquieus „Persische Briefe“ (1721) waren dem Altertum unbekannt; sie werden auf die späteste Nachwelt kommen. Haben die Franzosen auch dem Thukydides keinen Schriftsteller an die Seite zu stellen, so haben sie doch Bossuets „Abriß der Weltgeschichte“, haben die Werke des kenntnisreichen Präsidenten de Thou, die „Römischen Staatsumwälzungen“ des Abbé de Vertot, ein klassisches Buch, „Größe und Verfall des römischen Reiches“ von Montesquieu (1734), kurz, so viele historische und literarische, volkswirtschaftliche und unterhaltende Werke, daß ihre Aufzählung zu weit führen würde.