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1. Denkschrift über die gegenwärtige politische Lage Deutschlands161-1
(Ende Juni 1756)

Die Unterzeichnung des Neutralitätsvertrages zwischen Preußen und England161-2 bildet einen Wendepunkt in der bisherigen Gruppierung der europäischen Mächte. Die Ereignisse, die man voraussieht, sind lediglich die Folgen des verschiedenen Eindrucks, den dieser Vertrag auf die europäischen Höfe gemacht hat. Frankreich rechnete darauf, daß jeder aus Versailles ergehende Befehl von Preußen blindlings befolgt würde. Das Ministerium fand es höchst strafwürdig, daß Preußen nicht — Frankreichs Antrieben gehorsam — unverzüglich mit Feuer und Schwert gegen das Kurfürstentum Hannover vorgegangen ist161-3. Es war Herrn Rouillé nicht beizubringen, daß das Bündnis zwischen Preußen und Frankreich ablief, daß der Anlaß zum gegenwärtigen Kriege in jenem Vertrage ausdrücklich als Casus foederis ausgeschlossen war und daß sich beim besten Willen keine Silbe darin finden läßt, die auf ein Offensivbündnis deutet, daß also der Neutralitätsvertrag, über den Frankreich so verletzt scheint, nur ein Mittel mehr ist, um Europa vor einem Kriege zu bewahren, der im Grunde bloß die französischen und englischen Interessen in Amerika berührt. Die Versalller Minister ließen sich im ersten Augenblick vom Zorn völlig hinreißen und gaben zu erkennen, wie gerechtfertigt ihr Groll über den angeblichen Ungehorsam Preußens gegen ihre Befehle sei. Später zogen sie mildere Saiten auf, um zu imponieren, aber die Heftigkeit ihrer ersten Zorneswallung hatte sie allzusehr verraten.

Der Wiener Hof erhielt Kunde von den Verhandlungen zwischen Preußen und England. Mit Verdruß sah er sich in seinen Hoffnungen getäuscht. Hatte er doch sicher<162> darauf gerechnet, daß Preußen Hannover angreifen werde und daß er dann mit Rußlands Hilfe Schlesien zurückerobern könne. Der Streich war ihm also mißlungen. Graf Kaunitz, der Leiter der österreichischen Politik, hatte seit der Zeit seiner Pariser Gesandtschaft den Plan eines Bündnisses zwischen Österreich und Frankreich gefaßt. Von langer Hand und mit Hilfe aller erdenklicher Schmeicheleien hatte er auf die Marquise von Pompadour eingewirkt, um sie dem Gedanken jenes Bündnisses geneigt zu machen. Nun arbeitete er an der Beschleunigung seines Vorhabens. Da ihm aber der Abschluß des französischen Bündnisses noch nicht genügte und seine Pläne weitergingen, wollte er sich zunächst Rußlands versichern. Brachte er diesen Dreibund zustande, so glaubte er seiner Gebieterin ein entscheidendes Übergewicht in allen europäischen Fragen zu sichern. Er gewann Schuwalow und versprach Woronzow162-1 seine Unterstützung und die Erhebung auf den höchsten Posten. Sobald der Erfolg in Rußland den Erwartungen des Grafen Kaunitz entsprach, ging er an den Abschluß des Versailler Vertrages162-2, und Keith erhielt jene so wenig befriedigende und so lange erwartete Antwort162-3.

Dank diesem glücklichen Anfang schwoll dem Wiener Hofe der Mut. Er wollte seine vorteilhafte Lage ausnutzen und hielt die neuen Bündnisse für das Triumvirat des Augustus, Antonius und Lepidus. Nach dem Vorbild dieser Triumvirn ächtete man und opferte einander gekrönte Häupter Europas. Die Kaiserin überließ England und Holland der Rache Frankreichs, und der Versailler Hof opferte Preußen dem Ehrgeiz der Kaiserin. Diese nahm sich das Verhalten des Augustus zur Richtschnur, der die Macht seiner Amtsgenossen benutzt hat, um seine eigne Macht zu vergrößern und sie dann einen nach dem andern zu stürzen.

Der Wiener Hof verfolgt mit seinen gegenwärtigen Schritten drei Absichten zugleich. Er will seinen Despotismus in Deutschland aufrichten, die Protestanten unterdrücken und Schlesien zurückerobern. Den König von Preußen betrachtet er als das größte Hindernis seiner weitausschauenden Pläne. Ist ihm erst dessen Niederwerfung geglückt, so glaubt er, alles übrige werde dann von selbst in Erfüllung gehen. Aus seinen letzten Schritten am Kasseler Hofe162-4 und aus der Art, wie er die Protestanten in seinen Staaten, sowohl in Ungarn wie in Steiermark, behandelt162-5, haben wir erst kürzlich ersehen, daß die ihm zugeschriebenen Absichten nur zu wahr sind.

Gutem Vernehmen nach wird die Kaiserin, sobald sie den Krieg gegen Preußen eröffnet hat, die 24 000 Mann Hilfstruppen beanspruchen, die ihr im Versailler Ver<163>trage zugesichert sind. Wie man versichert, wird sie kaltblütig zusehen, wie diese Hilfstruppen — wenn sie können — ins Hannöversche eindringen, um es zu verwüsten. Ein Rest von Zurückhaltung hindert die Kaiserin noch, zum Sturz ihres Wohltäters selbst beizutragen, eines Fürsten, der sie gerettet hat, als sie ohne Hilfe dastand163-1, der ihr Geld und Truppen, ja seine eignen Interessen geopfert hat. Die Kaiserin glaubt sich dem König von England gegenüber quitt, wenn sie ihn allein den Franzosen preisgibt, ohne daß ihre eignen Truppen mitwirken. Sie begnügt sich damit, den König von Preußen in Schach zu halten, — den einzigen Bundesgenossen, der dem König von England bleibt —, um den letzteren jedes Beistandes zu berauben. Mit all diesen ehrgeizigen Absichten verbindet der Wiener Hof auch noch den Plan, den Erzherzog Joseph zum römischen König zu machen.

Rußland, das sich dem Meistbietenden verkauft und durch innere Spaltungen zerrissen ist, wird nach allem Anschein dem Rate des Wiener Hofes folgen. Nach aller Wahrscheinlichkeit wird Frankreich es übernehmen, ihm die Subsidien zu zahlen, die Rußland bisher von England bezog.

Das ist tatsächlich die gegenwärtige politische Lage Europas. Das Gleichgewicht ist verloren gegangen, sowohl unter den Großmächten wie im Deutschen Reiche. Das Übel ist schlimm, aber nicht ohne Abhilfe. Man bittet den König von England um ernstliche Erwägungen über die Mittel, die man zur Herstellung eines neuen Gleichgewichts in Deutschland wie in Europa für die geeignetsten hält.

Die Herbeiführung eines engen Bündnisses mit der Hohen Pforte würde, so glaubt man, einen tiefen Eindruck auf die Höfe von Wien und Petersburg machen. Man muß zwar gewärtig sein, daß die drei verbündeten Mächte ihre ganze Geschicklichkeit aufbieten, um diese Unterhandlung zu durchkreuzen, aber vor solchen Hindernissen darf man nicht zurückschrecken, und es liegt unzweifelhaft im eignen Interesse der Pforte, ein Gegenbündnis gegen die beiden Kaiserhöfe zu schließen, deren Einvernehmen ihr eines Tages verhängnisvoll werden muß.

Man hält es nicht für unmöglich, ein Bündnis mit dem König von Dänemark163-2 abzuschließen, namentlich zur Unterstützung der deutschen Protestanten. Offenbar muß auch Holland, wenn es seine wahren Interessen zu Rate zieht, angesichts seiner kritischen Lage schleunigst dem gleichen Bündnis beitreten. Was das Heilige Römische Reich betrifft, so dürfte es dem König von England, wenn er nur will, leicht gelingen, sich hier einen Anhang zu bilden und den ehrgeizigen Plänen des Wiener Hofes eine Schranke zu ziehen, wenn er nur in allen seinen Verträgen zur Bedingung macht, daß die deutschen Fürsten sich mit ihm ins Einvernehmen über alles setzen, was auf den Reichstag und die Reichsangelegenheiten Bezug hat.

Um die deutschen Fürsten namhaft zu machen, die für den Beitritt zu diesem Bündnis am geeignetsten erscheinen, so denkt man an den Kurfürsten von Köln163-3, den<164> Herzog von Braunschweig, den Landgrafen von Hessen, den Herzog von Gotha164-1, den Markgrafen von Ansbach164-2, den Herzog von Mecklenburg164-3 usw.164-4

Großes Unheil droht Deutschland. Preußen steht dicht vor dem Ausbruch des Krieges, aber alle diese schlimmen Umstände entmutigen es nicht. Drei Dinge können das europäische Gleichgewicht wiederherstellen: die enge und innige Verbindung zwischen den beiden Höfen von Berlin und London, fleißiges Bemühen, neue Bündnisse zu schließen und die Absichten der feindlichen Mächte zu durchkreuzen, und Wagemut im Angesicht auch der größten Gefahren.


161-1 Als infolge des Vormarsches der Russen gegen Ostpreußen (vgl. S. 36 und 185) der Ausbruch des Krieges unmittelbar bevorzustehen schien, setzte König Friedrich die obige „Denkschrift“ auf. Sie wurde auf Befehl vom 28. Juni 1756 dem englischen Hofe mitgeteilt.

161-2 Die Westminsterkonvention vom 16. Januar 1756 (vgl. S. 33).

161-3 Vgl. S. 31 ff.

162-1 Graf Iwan Schuwalow (vgl. S. 118); Graf Michael Woronzow, Vizekanzler.

162-2 Am 1. Mai 1756 (vgl. S. 34).

162-3 Der englische Gesandte in Wien, Robert Murray Keith, war beauftragt, kategorische Erklärungen über die österreichisch-französischen Verhandlungen, die zum Versailler Vertrage führten, zu fordern, hatte aber nur eine ausweichende Antwort erhalten.

162-4 Der Wiener Hof suchte den zum Katholizismus übergetretenen Erbprinzen Friedrich zur Flucht nach Wien zu bestimmen. Auf die Beschwerden des Landgrafen Wilhelm VIII. antwortete er ausweichend.

162-5 Gemeint sind die Verfolgungen der Protestanten.

163-1 Nach dem Tode Kaiser Karls VI.

163-2 Friedrich V.

163-3 Clemens August.

164-1 Friedrich III.

164-2 Karl Wilhelm Friedrich, der Schwager König Friedrichs.

164-3 Friedrich, der Sohn des am 30. Mai 1756 gestorbenen Herzogs Christian Ludwig (vgl. S. 26).

164-4 England schloß Subsidienverträge mit Herzog Karl von Braunschweig, Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel und dem Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe-Bückeburg.