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In allen Büchern über Karl X!l, finde ich prachtvolle Lobpreisungen seiner Mäßigkeit und Enthaltsamkeit. Trotzdem hätten zwanzig französische Köche, tausend Konkubinen in seinem Gefolge, zehn Schauspielerbanden bei seiner Armee seinem Lande nicht ein Hundertsiel soviel geschadet wie sein brennender Rachedurst und die ihn beherrschende maßlose Ruhmbegierde. Beleidigungen wirkten auf sein Gemüt so lebhaft und stark, daß die letzte Kränkung stets den Eindruck der vorhergehenden völlig auslöschte. Begleitet man ihn an der Spitze seiner Heere, so sieht man die verschiedenen Leidenschaften, die seine unversöhnliche Seele so gewaltsam durchtobten, sozusagen eine nach der andren aufblühen. Erst bedrängt er den König von Dänemark heftig; dann verfolgt er den König von Polen bis aufs äußerste; bald wendet sich sein ganzer Haß gegen den Zaren; schließlich hat sein Groll sich einzig auf König Georg I. von England geworfen. Er vergißt sich so weit, daß er den beständigen Feind seines Landes ganz aus den Augen verliert, um dem Phantom eines Feindes nachzujagen, der es nur gelegentlich oder besser gesagt zufällig mit ihm verdarb.

Faßt man die verschiedenen Charakterzüge dieses eigenartigen Königs zusammen, so findet man, daß er mehr tapfer als geschickt, mehr tätig als klug, mehr seinen Leidenschaften unterworfen als seinem wahren Vorteil zugetan war. Ebenso kühn wie Hannibal, aber weniger schlau, mehr dem Pyrrhus als Alexander ähnlich, glänzend wie Condé bei Rocroy (1643), Freiburg (1644) und Nördlingen (1645)1, aber niemals mit Turenne zu vergleichen, noch so bewundernswert wie dieser in den Schlachten bei Gien (1652), in den Dünen unweit Dünkirchen (1658), bei Kolmar2 und besonders in seinen beiden letzten Feldzügen3.

Welchen Glanz auch die Taten unsres berühmten Helden verbreiten, man darf ihn doch nur mit Vorsicht nachahmen. Je mehr er blendet, desto geeigneter ist er, die leichtfertige, brausende Jugend irrezuführen. Ihr kann man nicht genug einschärfen, daß Tapferkeit ohne Klugheit nichts ist und daß ein berechnender Kopf auf die Dauer über tollkühne Verwegenheit siegt.

Ein vollkommener Feldherr müßte den Mut, die Ausdauer und die Tatkraft Karls XII., den Blick und die politische Klugheit Marlboroughs, die Pläne, Hilfsmittel und Fähigkeiten des Prinzen Eugen, die List Luxemburgs, die Klugheit, Methode und Umsicht Montecuccolis mit der Gabe Turennes, den Augenblick zu erfassen, vereinigen. Aber ich glaube, dieser stolze Phönix wird nie erscheinen. Man behauptet, Karl XII. habe sich an Alexander gebildet. Trifft das zu, so hat Karl XII. den Prinzen Karl Eduard4 geschaffen. Sollte es der Zufall fügen, daß dieser einen andren hervorbringt, so kann das höchstens ein Don Quichotte sein.


1 Die Schlacht wird meist nach dem bei Nördlingen gelegenen Altersheim benannt.

2 Vgl. S. 83 .192f. 213.

3 Vgl. S. 352.

4 Karl Eduard, Sohn des Prätendenten Jakob Eduard Stuart, fiel 1745 tollkühn in Schottland ein, ward aber 1746 bei Culloden geschlagen (vgl. Bd. II, S. 244 f.).