<I><II>

Die Werke Friedrichs des Großen
In deutscher Übersetzung
Zehn Bände
Mit Illustrationen
von
Adolph v. Menzel
Verlag von Reimar Hobbing in Berlin
1 9 1 3

<III>

Die Werke Friedrichs des Großen
Achter Band
Philosophische Schriften
Herausgegeben von Gustav Berthold Volz
deutsch von
Friedrich v. Oppeln Bronikowski
Verlag von Reimar Hobbing in Berlin
1 9 1 3

<IV><V>

Einleitung des Herausgebers

In den Abhandlungen dieses Bandes tritt uns das Bild des „Philosophen von Sanssouci“ entgegen. König Friedrich sieht auf dem Boden der englisch-französischen Aufklärung. Auch ihn erfüllen ihre neuen Ideale: Gemeinwohl, Humanität und Fortschritt der Menschheit. Und so sucht er sein Volt, das hinter den anderen großen Kulturstaaten zurückgeblieben war, zu milderen Sitten, freierem Denken und schöneren Lebensformen, zu einer erleuchteten, natürlichen Religion und einer sozialen Auffassung der sittlichen Pflichten zu erheben.

Die verschiedensten Gegenstände behandeln die folgenden Aufsätze, die die einzelnen Seiten seines Wesens lebendig illustrieren. Auch die Gründe, die ihn zu deren Abfassung bestimmen, sind mannigfaltigster Art. Bald ist es streitbarer Angriff und Abwehr, mag er sich gegen die römische Kurie und ihr System oder gegen die materialistische Richtung in der PhilosophieV-1 wenden. Bald handelt es sich um die Darlegung seiner Anschauungen, in der er ein Programm entwickelt, bald um Instruktionen, bald um Gedächtnisreden, die er der Erinnerung seiner Freunde weiht, — auch die Flugschrift gegen Voltaire, in der er für den todkranken Maupertuis in die Schranken trittV-2, gehört zu ihnen, — bald um Erzeugnisse stiller Mußestunden, in denen er dem Spiel seiner Gedanken freien Lauf läßt oder sich auf einem Felde versucht, das sonst seinem königlichen Berufe fernliegt.

Mit kurzen Fußnoten haben wir auf den Ursprung der einzelnen Schriften hingewiesen. Indessen eine von ihnen, die weitaus bedeutendste des Bandes, bedarf näherer Erläuterung: die Abhandlung „Über die deutsche Literatur“.

Das Dunkel, das ihre Entstehung umgibt, ist noch nicht völlig gelichtet. Wohl hat der Minister von Hertzberg Anspruch darauf erhoben, den Anstoß zur Abfassung dieser Schrift gegeben zu haben, aber sein Anteil an ihr beschränkt sich lediglich auf den Auftrag, den er erhielt, ihre Drucklegung und Übersetzung ins Deutsche zu überwachen. Das Verdienst, das er sich beimaß, gebührt vielmehr den Schwestern Friedrichs, der Herzogin Charlotte von Braunschweig und der Prinzessin Amalie, die von Ende September bis Anfang Oktober 1780 bei ihm zu Besuch weilten; denn ein Streit<VI> über die Literatur, der nach dem Zeugnis seines Gesellschafters Marquis Lucchesini während der Mittagstafel am 2. Oktober sich erhob, hat dem König offenbar die Feder in die Hand gedrückt. Am 31. Ottober konnte Lucchesini schon über die „Lektüre des ersten Teiles einer neuen Abhandlung“, eben des Literaturbriefes, berichten. Am 10. November wurde der Schluß an Hertzberg übersandt. Noch vor Ausgang des Monats war die Drucklegung beendet.

Triftige Gründe sprechen nun aber dafür, daß es sich damals nur um eine Überarbeitung und Erweiterung der Schrift handelte, daß ihre Entstehungszeit dagegen fast dreißig Jahre früher fällt.

Im Mai 1752 hatte Baron Bielfeld, ein Genosse der Rheinsberger Zeit, ein Werk veröffentlicht, das den Titel führte: „Progrès des Allemands dans les sciences, les bellez-lettres et les arts, particulièrement dans la poésie, l'eloquence et le théâtre.“ Der König nahm den Fehdehandschuh auf und setzte dieser Apologie der Deutschen seine eigne scharfe Kritik entgegen: in ihr haben wir die erste Fassung des Literaturbriefes von 1780 zu sehen. Trefflich passen dazu die Eingangsworte: „Sie wundern sich, mein Herr, daß ich nicht in Ihren Beifall über die Fortschritte einstimme, die nach Ihrer Meinung die deutsche Literatur täglich macht.“ Danach wäre es Bielfeld, den der König anredet, aber nicht Hertzberg, wie dieser fälschlich meinte.

Ein weiteres Moment, das für diese Hypothese spricht, bilden die mehrfachen Wiederholungen innerhalb des Aufsatzes von 1780; sie erklären sich leicht bei der Annahme einer späteren Überarbeitung.

Noch stärker fällt der Umstand in die Wagschale, daß das Bild, das Friedrich von dem Zustand der deutschen Literatur entwirft, weit mehr den fünfziger Jahren entspricht als dem späteren Zeitpunkt. Und so hat es denn auch nicht an Stimmen gefehlt, die nach Erscheinen der Schrift im Jahre 1780 sich in diesem Sinne äußerten, wie Justus Moser, der in seiner Entgegnung erklärte, der König habe seine Gedanken über die Literatur „wahrscheinlich weit früher niedergeschrieben als gedruckt“.

Den Ausschlag gibt indessen die Tatsache, daß Friedrichs Auffassung durchaus dem Gedankenkreise jener früheren Zeit angehört. Man vergleiche seine Ausführungen in der „Geschichte meiner Zeit“ von 1746VI-1, in dem zwei Jahre später geschriebenen Kapitel „Über die Sitten, Gebräuche, die Industrie und die Fortschritte des menschlichen Geistes in den Künsten und Wissenschaften“ in den „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“.VI-2 Das gleiche lehren die Äußerungen in seinen Briefen, die im „Anhang“ des Bandes übersichtlich zusammengestellt sind.

Dies führt uns zur Beurteilung der Abhandlung selber. Vom ersten Erscheinen an hat man in ihr nur einen ungerechtfertigten Angriff des Königs auf die deutsche Literatur erblickt. Man warf ihm vor, ein Zerrbild gegeben zu haben. In der Tat fehlen die Namen ihrer bedeutendsten damaligen Vertreter, wie Klopstock, Lessing<VII> und Wieland. Goethes „Götz von Berlichingen“ wird kurz abgetan, während einem kleinen Geiste wie Ayrenhoff übertriebenes Lob gespendet wirdVII-1. So berechtigt diese Vorwürfe auch sind, sie treffen nicht den Kern der Sache, ja sie berühren nicht einmal die Bedeutung dieser Schrift; denn nicht auf diese Einzelheiten kam es dem Könige an. Lehnte er doch auch die Verbesserung einzelner Irrtümer ab, auf die ihn Hertzberg während des Druckes aufmerksam machte.

Das Ziel, das Friedrich sich steckte, war weit höher. An nichts Geringeres dachte er, als seinem Staat den Weg zur höchsten Geistesblüte zu weisen. Dabei hatte er ebenso die Wissenschaft, wie Literatur und Dichtung im Auge.

Nur aus der Grundanschauung, die den König beseelte, ist diese Schrift zu verstehen. Für ihn gibt es nur „eine große Kultur“. Er huldigt, um mit Dilthey zu reden, „dem Begriff der Kontinuität und Übertragung geistiger Bildung, der die Zeit erfüllt“. Und weiter führt Dilthey aus: „Nicht die abstrakte Wissenschaft allein, auch die schöne Literatur ist ein Höchstes, dessen Werte und Normen gleichsam über den Völkern, in einer Region des rein Menschlichen und Universalen wohnen. Das goldene Zeitalter des Perikles, des Augusius, des Lorenzo de Medici und Ludwigs XIV., durch so weite Zwischenräume sie getrennt sind, bilden eine Einheit. Sie entstehen in der Übertragung desselben guten und regelmäßigen Geschmackes von einer Nation auf die andere, sie sind durch dieselben allgemeinen menschlichen Normen der echten Kunst verbunden. Die Formen der Dichtungsarten sind durch feste Gesetze zeitlos bestimmt, sie bilden ein unveränderliches natürliches System.“ Als die Glieder einer Kette erscheinen dem König die großen Epochen der Geistesgeschichte; indem er die einzelnen Nationen an seinen Augen vorüberziehen läßt, gewahrt er, wie sie einander ablösen. Und da die schönen Tage der Italiener, Franzosen und Engländer „merklich abnehmen“, da diese Völker „auf ihren Lorbeeren einschlafen“VII-2, sieht er die Stunde nahen, da Deutschland ihr Erbe antritt.

Ganz systematisch geht Friedrich vor, wenn er „den Weg aller Völker, die zur Kultur gelangt sind“,VII-3 nun auch seinem Volke weist, wenn er die Regelung der Schriftsprache verlangt, in der er die notwendige Vorbedingung für die kommende Blüte des geistigen Lebens der Deutschen erblickt, wenn er den Kreis der Kenntnisse durch Unterricht im modernen Geiste in Schule und Universität erweitert wissen will.

Dabei sind diese Forderungen nicht einmal neu. Aus den im „Anhang“ mitgeteilten Briefstellen ersehen wir, daß er die Mängel der deutschen Sprache schon 1737 klar erkannt hatVII-4. Als junger König legte er Hand ans Werk, indem er bei der Neubegründung der Akademie der Wissenschaften die Klasse der schönen Literatur schufVII-5. Die französischen Schriftsteller, die er in sie berief, sollten als Vorbild wirken; denn eben die Regelung, wie sie die französische Sprache in der Académie française erfahren hatte, erschien ihm vorbildlich für die sprachliche Entwicklung seines Landes.<VIII> Ähnlich wurden von ihm Maler und Bildhauer aus Paris für die Akademie der Künste, italienische Künstler für die Oper nach Berlin berufen, um, wie er der Markgräfin Wilhelmine schreibtVIII-1, „bei uns Schule zu machen“.

Was seine Forderungen für den Unterricht in Schule und Universität betrifft, so enthält schon der Aufsatz „Über den Nutzen der Künste und Wissenschaften im Staate“ VIII-2 von 1772 eine Art öffentlichen Bekenntnisses über die grundsätzliche Stellung, die der König gegenüber der Wissenschaft, Aufklärung und Volksbildung einnahm. Die weitere Ausführung seiner Gedanken bieten die pädagogischen Schriften, zu denen seine Weisungen für die PrinzenerziehungVIII-3 und der im „Anhang“ mitgeteilte Erlaß an den Minister Freiherrn von Zedlitz von 1779 eine wertvolle Ergänzung bilden.

So erhebt sich die Abhandlung von 1780 weit über das Niveau einer Gelegenheitsschrift, sie stellt weit Größeres dar als nur eine Kritik der Fortschritte der deutschen Literatur. Friedrich entwickelt in ihr Gedanken und Vorschläge, über die er schon lange, wie er in dem Aussatz ausdrücklich bemerktVIII-4, in seinen Mußestunden nachgedacht, an deren Verwirklichung er seit seiner Thronbesteigung gearbeitet hatte. Sie bedeutet ein vollständiges Regierungsprogramm.

Friedrichs Irrtum lag darin begründet, daß er, in den Vorurteilen seiner Zeit befangen, nicht die „Eigenart nationaler Dichtung“ erkannte, „wie sie aus der inneren lebendigen Kraft eines Volkes entspringt“.

Der französische Text, der den Übersetzungen zugrunde liegt, ist gedruckt in den „Œuvres de Frédéric le Grand“ (Bd. 7: Vorreden zu Bayle und Fleury, Über die deutsche Literatur und die Gedächtnisreden; Bd. 8: Vorrede zur Henriade und Über die Unschädlichkeit des Irrtums des Geistes; Bd. 9: Über die Gesetze, Eigenliebe als Moralprinzip, Nutzen der Künste und Wissenschaften, Betrachtungen über die Betrachtungen der Mathematiker und die pädagogischen Schriften; Bd. 15: die theologischen Streitschriften außer der Vorrede zu Fleury, die Satiren und das Schreiben eines Akademikers in Berlin). Was den „Anhang“ betrifft, so sind die Schreiben an d'Alembert veröffentlicht nach dem Druck in den „Œuvres“, Bd. 24 und 25, das Schreiben an Markgrafin Wilhelmine und der Erlaß an Zedlitz nach den „Œuvres“, Bd. 27, Teil 1 und 3, die Briefe an Voltaire nach dem ersten und dritten Band des „Briefwechsels Friedrichs des Großen mit Voltaire“, hrsg. von R. Koser und H. Droysen („Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven“, Bd. 81 und 86; Leipzig 1908 und 1911) und die Unterredung mit Swieten nach der „Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“, Bd. 35 (Weimar 1912).

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I. Literarisch-philosophische Schriften

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Vorrede zu Voltaires Henriade (1739)3-1

Ganz Europa kennt das Heldengedicht „Die Henriade“. Durch zahlreiche Ausgaben ist es bei allen Völkern verbreitet, die Bücher haben und Kultur genug besitzen, um etwas Geschmack an der Literatur zu finden.

Voltaire ist unter allen Schriftstellern vielleicht der einzige, der die Vollendung seiner Kunst dem Eigennutz und der Eigenliebe vorgezogen und seine Fehler unermüdlich verbessert hat. Von der ersten Auflage, in der die „Henriade“ als „Poème de la Ligue“3-2 erschien, bis auf die heutige Ausgabe hat der Verfasser sich in unermüdlichem Fleiße bis zu der Vollendung emporgeschwungen, die den großen Genies und den Meistern der Kunst gewöhnlich mehr vorschwebt als erreichbar ist.

Die heutige Ausgabe ist bedeutend erweitert — ein deutliches Zeichen für die Fruchtbarkeit des Verfassers. Sein Genie gleicht einer unerschöpflichen Quelle, und nie wird in seiner Hoffnung betrogen, wer sich neue Schönheiten und Vollkommenheiten aus der vorzüglichen Feder Voltaires verspricht.

Zahllose Schwierigkeiten hatte dieser Fürst der französischen Dichtkunst bei der Abfassung seines Epos zu überwinden. Zunächst hatte er die vorgefaßte Meinung ganz Europas und seiner eignen Landsleute gegen sich. Die Franzosen glaubten, ein Heldengedicht könnte in ihrer Sprache nie gelingen. Er hatte das traurige Beispiel seiner Vorläufer vor Augen, die auf diesem schwierigen Wege sämtlich gestrauchelt waren. Er hatte ferner den abergläubischen Respekt der gelehrten Welt vor Virgil und Homer zu überwinden. Vor allem aber besaß er eine schwache Gesundheit, eine zarte Konstitution, die jedem anderen, für den Ruhm seines Volkes minder Begeisterten die Arbeitskraft geraubt hätte. Trotz all dieser Hindernisse hat Voltaire sein Vorhaben durchgeführt, obwohl unter Verzicht auf eine glänzende Laufbahn und oft auch auf Kosten seiner Ruhe.

Ein so umfassendes Genie, ein so scharfer Geist, ein so emsiger Arbeiter, wie Voltaire, hätte sich gewiß den Weg zu den höchsten Ämtern erschlossen, hätte er nur den Kreis der von ihm gepflegten Wissenschaften verlassen, um sich Geschäften zu widmen, die der Eigennutz und Ehrgeiz der Menschen „ernste Beschäftigungen“ zu<4> nennen beliebt. Jedoch er folgte lieber dem unwiderstehlichen Drang seines Genius als den Vorteilen, die er dem Schicksal gewiß abgerungen hätte. Seine Erfolge haben seine Erwartungen vollauf gerechtfertigt. Er ehrt die Wissenschaften ebenso, wie sie ihn ehren. In der „Henriade“ tritt er zwar nur als Dichter hervor. Aber er ist auch ein tiefer Philosoph, ein gelehrter Historiker.

Die Künste und Wissenschaften sind ungeheure Länder. Sie alle zu erobern, wie Cäsar oder Alexander die Welt erobert haben, ist uns schier unmöglich. Schon zur Unterwerfung eines kleinen Gebietes ist viel Talent, viel Streben nötig, und so gehen die meisten denn auch bei der Eroberung jener Länder den Gang der Schildkröte. Es gibt aber auch in den Wissenschaften Reiche, die unter eine Unzahl kleiner Herr, scher aufgeteilt sind, genau wie in der Welt. Diese großen Herrscherbünde haben sogenannte Akademien gebildet. Aber wie sich in Ländern mit aristokratischer Ver, fassung oft Leute mit überlegenem Geiste finden, die sich über die anderen hinaus, geschwungen haben, so haben auch die aufgeklärten Zeitalter Menschen hervorgebracht, die in sich das Wissen vereinigten, das vierzig denkenden Köpfen4-1 Beschäftigung genug gegeben hätte. So zu ihrer Zeit Leibniz und Fontenelle4-2, so heute Voltaire. Es gibt keine Wissenschaft, die nicht in sein Arbeitsgebiet fiele: von der höheren Mathematik bis zur Poesie hat er sie alle durch die Kraft seines Genius unterjocht.

Wer die Welt kennt und Voltaires Werke gelesen hat, wird leicht begreifen, daß der Neid ihn nicht verschonen tonnte. Große Begabung im Verein mit europäischem Rufe pflegt die Halbgelehrten, die Zwitter von Gelehrsamkeit und Unwissenheit, zu empören. Da die armen Schelme selbst talentlos sind, so schlagen sie dreist auf die los, denen sie sich überlegen wähnen, und verfolgen hartnäckig die strahlenden Geister, deren Licht sie verdunkelt. Und so haben denn alle finsteren Mächte, Bosheit und Verleumdung, Undank und Haß, sich gegen Voltaire verschworen. Keine Art von Verfolgung blieb ihm erspart. Machthaber, die ihn im Interesse ihres eignen Ruhmes hätten schützen sollen, haben ihn feig im Stich gelassen und ihn dem Haß seiner ver, brecherischen Feinde preisgegeben.

Trotz einiger zwanzig Wissenschaften, die Voltaires Schaffen zersplittern, trotz seines häufigen Krankseins und des Kummers, den ihm unwürdige Neider bereiten, hat er seine „Henriade“ zu einem Grad der Vollkommenheit gebracht, den meines Wissens wohl nie eine Dichtung erreicht hat. Die Führung der Handlung, die Stoffverteilung sind so weise durchdacht, wie nur möglich. Der Verfasser hat sich die Vorwürfe zunutze gemacht, die gegen Homer und Virgil erhoben worden sind. Die ein, zelnen Gesänge der Ilias haben wenig oder gar keinen Zusammenhang; man hat sie deshalb Rhapsodien genannt. In der „Henriade“ sind alle Gesänge aufs innigste miteinander verknüpft. Ein und dieselbe Handlung zerfällt durch den zeitlichen Ver, lauf in zehn Hauptereignisse. Der Schluß ist natürlich: Heinrichs IV. Übertritt4-3<5> und sein Einzug in Paris setzen den Bürgerkriegen der Ligue, die Frankreich zerrütteten, ein Ende. Darin ist der Franzose dem Lateiner weit überlegen, der seine Äneis nicht so fesselnd schließt, wie er sie begonnen hat. Am Ende verflackert das schöne Feuer, das den Leser im Anfang jener Dichtung entzückte. Man möchte sagen, Virgil habe die ersten Gesänge in der Blüte der Jugend verfaßt, aber die letzten im Alter, wo das Hinschwinden der Einbildungskraft und das allmähliche Verlöschen des geistigen Feuers den Kriegern das Heldentum und den Dichtern die Eingebung raubt.

Voltaire ahmt zwar hier und da Virgil und Homer nach, aber doch stets in selbständiger Weise. Man merkt dabei, daß das kritische Urteil des Franzosen dem lateinischen und griechischen Dichter unendlich überlegen ist. Man vergleiche das Hinabsteigen des Odysseus in die Unterwelt5-1 mit dem VII. Gesang der „Henriade“, und man wird sehen, daß den letzteren eine Fülle von Schönheiten ziert, die Voltaire ganz allein sich verdankt. Schon der Gedanke, Heinrich IV. im Traume all das sehen und hören zu lassen, was er im Himmel und in der Hölle erblickt und was ihm im Schicksalstempel geweissagt wird, wiegt die ganze Ilias auf. Denn der Traum Heinrichs IV. führt alles, was er erlebt, auf die Regeln der Wahrscheinlichkeit zurück, wogegen die Unterweltsszene der Odyssee all der Reize bar ist, die Homers genialer Fiktion den Schein der Wahrheit hätten geben können. Auch stehen alle Episoden in der „Henriade“ am rechten Fleck. Der Verfasser hat seine Kunst so geschickt verborgen, daß sie nicht zu sehen ist und als natürlich erscheint. Ja, man möchte sagen, all die Schönheiten, die seine fruchtbare Phantasie hervorgebracht hat und die das ganze Gedicht Seite für Seite zieren, fügen sich ganz notwendig ein. Nirgends findet man die kleinlichen Details, in die so viele Schriftsteller versinken, bei denen Trockenheit und Schwulst an Stelle des Genies treten. Die pathetischen Szenen weiß Voltaire packend zu gestalten. Er besitzt die große Kunst, die Herzen zu rühren. Solche ergreifenden Stellen sind Colignys Tod5-2, Valois' Ermordung5-3, der Kampf des jungen d'Ailly, Heinrichs IV. Abschied von der schönen Gabrielle d'Estrées und der Tod des tapfern Chevalier d'Aumale5-4. Jedesmal, wenn man das liest, ist man ergriffen. Mit einem Worte: der Verfasser verweilt nur bei den fesselndsten Stellen und geht leicht über alles hinweg, was sein Gedicht in die Länge ziehen würde. In der „Henriade“ ist nichts zu viel und nichts zu wenig.

Die Wunder, die der Verfasser benutzt, können keinen vernünftigen Leser stören. Alles kommt durch das Religionssysiem der Wahrscheinlichkeit nahe. Solche Macht besitzen Poesie und Beredsamkeit. Sie vermögen selbst Gegenstände ehrwürdig zu machen, die es an und für sich nicht sind, und sie so glaubhaft zu gestalten, daß sie den Leser verführen.

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Alle Allegorien in diesem Gedicht sind neu. Die Politik, die im Vatikan haust, der Tempel der Liebe, die wahre Religion, die Tugenden, die Zwietracht, die Laster — alles lebt, alles regt sich unter Voltaires Griffel. Lauter Bilder, die nach dem Urteil der Kenner den geschickten Pinsel Poussins und der Caracci6-1 übertreffen.

Es bleibt mir nur noch ein Wort über die Poesie des Stiles — das, worin sich der Dichter als solcher erweist. Nie war die französische Sprache so kraftvoll wie in der „Henriade“, überall herrscht Adel. Mit unendlichem Feuer erhebt sich der Dichter zum Erhabenen, und steigt er herab, so geschieht es mit Anmut und Würde. Welche Lebhaftigkeit in der Darstellung, welche Kraft in den Charakteren und Schilderungen, welche Vornehmheit in den Einzelheiten! Der Kampf des jungen Turenne6-2 wird zu allen Zeiten die Bewunderung der Leser herausfordern. Hier, in der Schilderung des Degenkampfes, bei den Stößen, Paraden, Gegenstößen und Treffern fand Voltaire das Haupthindernis in seiner Sprache. Trotzdem hat er die Schwierigkeit glänzend überwunden. Er versetzt den Leser auf das Schlachtfeld, und man glaubt mehr, einem Kampfe beizuwohnen, als dessen Beschreibung in Versen zu lesen.

Die gesunde Moral, die Schönheit der Gefühle findet in diesem Gedicht ihren wünschenswertesten Ausdruck. Heinrichs IV. besonnene Tapferkeit, sein Edelmut, seine Menschlichkeit sollten allen Königen und Helden zum Vorbild dienen. Wie oft verfahren sie hart und roh gegen die, die das Schicksal der Staaten oder das Kriegsglück in ihre Hand gegeben hat! Ihnen sei im Vorübergehen gesagt: wahre Größe liegt nicht in der Unbeugsamkeit und Tyrannei, sondern in den Gefühlen, die der Verfasser so edel kennzeichnet:

Freundschaft, du Himmelsgabe, großer Seelen Lust,
Freundschaft, nie heimisch in der Herrscher Brust —
Zum Unglück der erlauchten Undankbaren6-3.

Zu den Meisterstücken der „Henriade“ gehört der Charakter Philipps von Mornay6-4. Ein ganz neuer Charakter: ein philosophischer Krieger, ein menschlicher Soldat, ein Hofmann, wahr und ohne Schmeichelei. Ein solcher Ausbund seltener Tugend verdient unsern Beifall. Und so bildet er denn auch für den Dichter einen reichen Quell edler Gefühle. Wie gern sehe ich diesen Philipp von Mornay, den treuen, stoischen Freund, an der Seite seines jungen, tapfern Herrn, wie er überall den Tod abwehrt und ihn doch nie austeilt6-5. Welcher Abstand zwischen diesem weisen Philosophen und den heutigen Sitten! Ja, für das Wohl der Menschheit ist es tief zu beklagen, daß ein so schöner Charakter nur in der Phantasie existiert.

Übrigens atmet die ganze „Henriade“ nichts als Menschlichkeit. Unablässig hebt Voltaire diese Tugend hervor, die den Fürsten so nötig, ja ihre einzige Tugend ist.<7> Er zeigt uns einen siegreichen König, der den Besiegten vergibt. Er führt den Helden bis vor die Mauern von Paris, aber statt die rebellische Stadt zu plündern, gibt er den von furchtbarer Hungersnot heimgesuchten Einwohnern die nötigen Lebens, Mittel. Umgekehrt braucht der Dichter die grellsten Farben für die scheußliche Metzelei der Bartholomäusnacht und die unerhörte Grausamkeit Karls IX., der mit eigener Hand gegen seine kalvinistischen Untertanen wütete. Die düstre Politik Philipps II., die Ränke und Kunstgriffe Sirtus' V., die schlaffe Untätigkeit Valois' und die Sünden, die Heinrich IV. aus Liebe begeht, werden beim rechten Namen genannt. Der Dichter umrankt alle seine Schilderungen mit kurzen, treffsicheren Bemerkungen, die das Urteil der Jugend bilden und den rechten Begriff von Tugend und Lasier geben müssen. Immer wieder mahnt Voltaire die Völker zur Treue gegen Gesetz und Herrscher. Er verewigt den Namen des Präsidenten Harlay7-1, dessen unerschütterliche Treue gegen seinen Herrn solchen Lohn wohl verdiente. Ein gleiches gilt von den Räten Brisson, Larcher, Tardif, die von den Rebellen umgebracht wurden. Hier macht der Dichter folgende Bemerkung:

Unsterblichkeit sich euer Ruf erwirbt:
Mit Ruhm stirbt, wer für seinen König stirbt7-2.

Poliers Rede vor den Rebellen7-3 ist gleich schön durch die Richtigkeit der Empfindungen wie durch die Kraft der Beredsamkeit. Der Dichter läßt einen ernsten Beamten vor der Ratsversammlung der Ligue reden. Mutig tritt er den Plänen der Rebellen entgegen, die einen König aus ihrer Mitte wählen wollen. Er mahnt sie, sich ihrem rechtmäßigen Gebieter7-4 zu unterwerfen, dessen Herrschaft sie sich entziehen wollen, verurteilt alle Mannstugend der Aufständischen, all ihre kriegerische Tapferkeit, die sich gegen ihren König richtet und dadurch zum Verbrechen wird. Aber was ich auch über diese Rede sage, ich reiche doch nicht an sie heran. Man muß sie aufmerksam lesen. Ich will ja auch nur die Leser auf die Schönheiten hinweisen, die sie übersehen könnten.

Ich gehe zu dem Religionskrieg über, der den Gegenstand der „Henriade“ bildet. Der Dichter mußte natürlich die Mißbräuche geißeln, die durch Aberglauben und Fanatismus in der Religion eingerissen sind. Hat man doch stets bemerkt, daß Glaubenskriege — das ist ihr besonderes Verhängnis — stets blutiger und erbitterter waren als Kriege, die der Ehrgeiz der Fürsten oder die Widerspenstigkeit der Untertanen hervorrief. Da nun Fanatismus und Aberglaube stets die Triebfedern der abscheulichen Politik der Großen und der Geistlichen waren, so mußte ihnen unbedingt ein Damm entgegengesetzt werden. Mit der ganzen Glut seiner Einbildungskraft, der ganzen Macht der Poesie und Beredsamkeit hat der Dichter die Torheiten unsrer Vorfahren der Gegenwart vor Augen gestellt, um uns für immer davor zu<8> bewahren. Er möchte die Krieger und Feldlager von den Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien der Schulweisheit säubern und diese dem Pedantenvolt der Scholastiker überlassen. Er möchte den Menschen für alle Zeiten das geweihte Schwert entwinden, das sie vom Altar reißen, um ihre Mitbrüder erbarmungslos abzuschlachten. Mit einem Worte: die Wohlfahrt und Ruhe der Gesellschaft ist das Hauptziel der Dichtung. Darum mahnt der Dichter so oft, die gefährliche Klippe des Fanatismus und des falschen Eifers zu meiden.

Indes scheint die Mode der Religionskriege zum Segen der Menschheit jetzt überwunden. Wir hätten damit einen Wahn weniger auf der Welt. Aber ich wage zu behaupten: das verdanken wir zum guten Teil dem philosophischen Geiste, der seit einigen Jahren in Europa die Vorherrschaft erlangt hat. Je mehr Aufklärung, desto weniger Aberglaube. Ganz anders war es im Zeitalter Heinrichs IV. Die alle Begriffe übersteigende mönchische Unwissenheit und die Barbarei der Menschen, die keine andre Beschäftigung kannten als Jagen und Einandertotschlagen, ebnete den handgreiflichsten Irrtümern den Boden. Katharina von Medici8-1 und die aufständischen Großen konnten also damals die Leichtgläubigkeit der Menge um so leichter mißbrauchen, als das Volk roh, blind und unwissend war.

Die gebildeten Zeitalter, in denen die Wissenschaften erblühten, haben uns keine Beispiele von Religionskriegen und Bürgerzwist zu bieten. In den schönen Zeiten des Römischen Reichs, gegen Ende der Regierungszeit des Augustus, war das ungeheure Reich, das fast zwei Drittel der bekannten Welt umfaßte, friedlich und ohne Aufruhr. Die Menschen überließen die Glaubensinteressen den Dienern der Religion und zogen den ruhigen Genuß und das Studium der ehrgeizigen Wut vor, sich für Worte, für den Eigennutz oder für verderbliche Ruhmsucht gegenseitig zu schlachten.

Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ohne Schmeichelei dem augusteischen an die Seite gestellt werden darf, ist gleichfalls ein Beispiel für stille, glückliche innere Zustände. Aber leider wurde diese Ruhe am Ende seiner Regierungszeit getrübt durch den Einfluß, den der Pater Le Tellier auf den altersschwachen Geist des Königs gewann. Indes war das nur das Wert eines Einzelnen, und es wäre offenbar unrecht, das ganze Zeitalter dafür verantwortlich zu machen, das im übrigen so reich an großen Männern war.

Die Wissenschaften haben also stets zur Vermenschlichung der Menschen beigetragen. Sie machen sie milder, gerechter und weniger gewalttätig. Sie haben am Wohl der Gesellschaft und am Glück der Völker mindestens den gleichen Anteil wie die Gesetze. Die sanfte und liebenswürdige Gesinnung derer, die die Künste und Wissenschaften pflegen, teilt sich unmerklich dem großen Haufen mit. Sie dringt vom Hof in die Hauptstadt, von der Hauptstadt in die Provinzen. Dann gehen den Menschen die Augen auf, daß die Natur sie gewiß nicht dazu schuf, sich gegenseitig auszurotten, sondern daß wir uns in unsern gemeinsamen Nöten beistehen sollen, daß Unglück,<9> Krankheit und Tod uns schon unablässig verfolgen und daß es der Gipfel des Wahnsinns ist, die Ursachen unsres Elends und unsrer Vernichtung noch zu mehren. Trotz aller Standesunterschiede gelangt man zur Einsicht, daß wir von Natur alle gleich sind, daß wir in Frieden und Eintracht miteinander leben müssen, welchem Volke, welchem Glauben wir auch angehören mögen, daß Freundschaft und Mitgefühl allgemeine Pflichten sind. Kurz, die Vernunft verbessert alle Fehler unsres Temperaments.

Das ist der wahre Nutzen der Wissenschaften, und daraus ergibt sich die Dankespflicht gegen alle, die sie pflegen und sie bei uns einzubürgern suchen. Voltaire, der alle diese Wissenschaften übt, schien mir stets um so mehr den Dank der Welt zu verdienen, als er nur für das Wohl der Menschheit lebt und arbeitet.

Solche Gedankengänge und mein lebenslänglicher Wunsch, der Wahrheit Ehre zu erweisen, haben mich bestimmt, der Öffentlichkeit diese Ausgabe vorzulegen. Ich habe versucht, sie Voltaires und seiner Leser möglichst würdig zu gestalten. Mit einem Worte: mich deuchte, daß ich durch Ehrung dieses bewundernswerten Schriftstellers gleichsam unser Jahrhundert selbst ehre. Jedenfalls kann die Nachwelt dann von Zeitalter zu Zeitalter wiederholen: jene Zeit hat nicht nur große Männer hervorgebracht, sondern auch ihre ganze Trefflichkeit erkannt, und Neid und Kabale haben nichts gegen die vermocht, die durch Talente und Verdiensie aus dem großen Haufen hervorragten, ja selbst Große übertrafen.

<10>

Über die Unschädlichkeit des Irrtums des Geistes
(1738)10-1

Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über meine Muße und die Anwendung meiner Zeit zu geben. Sie kennen meine Neigung zur Philosophie. Sie ist meine Leidenschaft und begleitet mich treulich auf all meinen Wegen. Einige Freunde kennen diese meine herrschende Neigung und unterhalten sich oft mit mir über spekulative Fragen der Physik, Metaphysik oder Moral, sei es, weil sie selbst Vergnügen daran finden, sei es, um sich nach meinem Geschmack zu richten. Gewöhnlich sind unsere Unterhaltungen ziemlich bedeutungslos, da sie sich um bekannte Dinge drehen oder ihr Gegenstand unter dem Niveau der hohen Gelehrsamkeit liegt.

Mehr Beachtung scheint mir die Unterhaltung zu verdienen, die ich gestern abend mit Philant hatte. Das Thema ist von allgemeinem Interesse, und die Meinungen darüber sind geteilt. Sogleich dachte ich an Sie. Ihnen glaubte ich diesen Bericht schuldig zu sein. Sofort nach dem Spaziergang begab ich mich in mein Zimmer und brachte die noch frischen Ideen, deren mein Kopf voll war, so gut es ging, zu Papier. Ich bitte Sie, lieber Freund, mir Ihre Meinung darüber zu sagen. Bin ich so glücklich, mit Ihnen übereinzustimmen, so wird Ihre Aufrichtigkeit der Lohn meiner<11> Mühe sein. Ich werde mich für reichlich belohnt halten, wenn meine Arbeit Ihnen nicht mißfällt.

Gestern war das schönste Wetter von der Welt. Die Sonne strahlte Heller denn je. Der Himmel war so heiter, daß man weithin kein Wölkchen erblickte. Ich hatte den ganzen Morgen lang studiert, und zur Erholung machte ich einen Spaziergang mit Philant. Ziemlich lange unterhielten wir uns über das Glück, das die Menschen genießen, und über die Fühllosigkeit der meisten gegen die sanften Freuden heitren Sonnenscheins und reiner, stiller Luft. Wir kamen von einer Betrachtung in die andre und merkten schließlich, daß das Gespräch unsern Spaziergang sehr in die Länge gezogen hatte. Es war Zeit, heimzukehren, wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kommen wollten. Philant merkte es zuerst und neckte mich damit. Ich verteidigte mich mit den Worten, seine Unterhaltung erschiene mir so angenehm, daß ich in seiner Gesellschaft die Minuten nicht zählte und geglaubt hätte, es wäre früh genug, an unsere Rückkehr zu denken, wenn wir die Sonne sinken sähen.

„Wie? Die Sonne sinken sehen?“ wiederholte er. „Sie sind Kopernikaner und richten sich doch nach dem Volksmund und nach den Irrtümern Tycho de Brahes?“

„Nur ruhig Blut“, antwortete ich. „Sie sind zu hitzig. Erstens kam es hier beim vertraulichen Gespräch nicht auf Philosophie an, und wenn ich gegen Kopernikus gesündigt habe, so ist mein Fehler mir ebenso leicht zu verzeihen wie Iosua, da er die Sonne stillstehen hieß. Er mußte doch über die Geheimnisse der Natur Bescheid wissen, da er ja von Gott erleuchtet war. In jenem Augenblick sprach Iosua wie das Volk. Ich aber rede mit einem aufgeklärten Manne, der mich versteht, mag ich nun so oder so mich ausdrücken. Weil Sie aber hier Tycho de Brahe angreifen, so gestatten Sie mir einen Augenblick, daß ich Sie angreife. Ihr Eifer für Kopernikus scheint sehr lebhaft. Sie schleudern gleich Bannsirahlen gegen alle, die nicht seiner Meinung sind. Ich will glauben, daß er recht hat. Ist das aber ganz sicher? Wer bürgt Ihnen dafür? Hat die Natur, hat ihr Schöpfer Ihnen etwas von der Unfehlbarkeit des Kopernikus offenbart? Ich für mein Teil sehe nur ein System, d. h. eine zusammenhängende Darstellung der Ansichten des Kopernikus, die sich auf Naturerscheinungen stützen.“

„Und ich“, erwiderte Philant sich ereifernd, „ich sehe die Wahrheit.“

„Die Wahrheit? Was nennen Sie denn Wahrheit?“

„Wirkliche Evidenz dessen, was ist und geschieht.“

„Und Erkenntnis der Wahrheit?“ fragte ich weiter.

Er antwortete: „Die Herstellung genauer Beziehungen zwischen dem, was wirklich existiert oder existiert hat, und unsern Ideen, zwischen den vergangenen oder gegenwärtigen Tatsachen und den Begriffen, die wir davon haben.“

„Demzufolge, lieber Philant,“ sagte ich, „dürfen wir uns kaum schmeicheln, Wahrheiten zu erkennen. Sie sind fast alle zweifelhaft, und nach der Definition, die Sie<12> mir eben selbst gaben, gibt es höchstens zwei bis drei unumstößliche Wahrheiten. Das Zeugnis der Sinne, fast das sicherste, das wir haben, ist nicht völlig zuverlässig. Unsre Augen täuschen uns. Sie lassen uns in der Ferne einen Turm als rund erscheinen, und bei näherem Herankommen sehen wir, daß er viereckig ist. Bisweilen glauben wir Töne zu hören, die aber nur in unserer Einbildung erklingen und aus einem tonlosen Eindruck auf unser Ohr entstehen. Ebenso unzuverlässig wie die andren Sinne ist der Geruch. Bisweilen glauben wir in Wald und Feld Blumen zu riechen, und doch sind keine da. Und in diesem Augenblick, wo ich mit Ihnen rede, merke ich an dem Blutstropfen auf meiner Hand, daß mich eine Mücke gestochen hat. Die Lebhaftigkeit unsres Gesprächs hat mich gegen den Schmerz unempfindlich gemacht. Das Gefühl hat mich im Stiche gelassen. Wenn nun schon das Zuverlässigste, was wir haben, so zweifelhaft ist, wie können Sie dann mit solcher Gewißheit von den abstrakten Dingen der Philosophie reden?“

„Weil sie evident sind“, erwiderte Philant, „und das Kopernikanische System durch die Erfahrung bestätigt wird. Die Planetenumläufe sind darin mit wunderbarer Genauigkeit bestimmt, die Finsternisse mit staunenswerter Richtigkeit berechnet. Kurz, dies System erklärt die Geheimnisse der Natur vollkommen.“

„Was würden Sie nun aber sagen,“ wandte ich ein, „wenn ich Ihnen ein System nenne, das von dem Ihren gewiß sehr verschieden ist, aber bei offenbar falscher Voraussetzung die gleichen Wunder erklärt wie das Kopernikanische?“

„Sie meinen gewiß die Irrtümer der Malabaren?“ erwiderte er.

„Gerade von dem Berge der Malabaren wollte ich reden, lieber Philant. Allein, soviel Irrtum in jenem System stecken mag, es erklärt doch die astronomischen Naturerscheinungen vollkommen. Ja, es ist wunderbar, daß jene Astronomen dieselben Bewegungen der Gestirne und die Finsternisse so genau vorhersagen konnten wie Ihr Kopernikus, obwohl sie von einer so widersinnigen Voraussetzung ausgingen, wonach die Sonne weiter nichts tut, als einen großen Berg auf der Insel jener Barbaren zu umkreisen, Der Irrtum der Malabaren ist grob, der des Kopernikus ist vielleicht weniger sinnfällig. Vielleicht entwickelt ein neuer Philosoph von der Höhe seines Ruhmes herab eines Tages ein neues Dogma, und in seinem Dünkel über eine unwichtige Entdeckung, die aber immerhin als Grundlage eines neuen Systems dienen kann, behandelt er die Kopernikaner und Newtonianer als eine Rotte von Stümpern, die zu widerlegen unter seiner Würde ist.“

„Allerdings“, sagte Philant, „haben die neuen PHUosophen sich stets das Recht genommen, über die alten zu triumphieren. Descartes schmetterte die Heiligen der Schulweisheit nieder. Newton schlug ihn seinerseits zu Boden und wartet selbst nur auf einen Nachfolger, der ihn ebenso behandelt.“

„Sollte das nicht daran liegen,“ erwiderte ich, „daß die Eigenliebe schon hinreicht, um ein neues System zu erbauen? Der hohe Begriff von der eignen Bedeutung erzeugt beim Philosophen ein Gefühl der Unfehlbarkeit. Daraufhin zimmert er sich<13> sein System. Er glaubt zunächst blind an alles, was er beweisen will. Dann sucht er nach Gründen, die seinen Sätzen das Ansehen von Wahrscheinlichkeit geben, und daraus entspringt eine unerschöpfliche Quelle von Irrtümern. Gerade umgekehrt müßte er vorgehen. Mit Hilfe einer Anzahl von Beobachtungen müßte er von Folgerung zu Folgerung schreiten und bloß zusehen, wohin das führt und was daraus hervorgeht. Dann glaubte man ihm nicht so leicht, und indem man den behutsamen Schritten der Vorsicht folgt, lernte man weise zweifeln.“

„Sie müßten Engel zu Philosophen haben,“ versetzte Philant lebhaft; „denn welcher Mensch wäre vorurteilslos und völlig unparteiisch!“

„Mithin“, erwiderte ich, „ist der Irrtum unser Erbteil.“

„Behüte Gott!“ entgegnete mein Freund. „Wir sind für die Wahrheit geschaffen.“

„Ich will Ihnen gern das Gegenteil beweisen, wenn Sie mich geduldig anhören wollen“, sagte ich. „Und da wir hier nahe beim Hause sind, so lassen Sie uns auf dieser Bank Platz nehmen; denn ich glaube, der Spaziergang hat Sie ermüdet.“

Philant ist nicht gut zu Fuße und war mehr zur Zerstreuung und unwillkürlich, als mit Absicht spazieren gegangen. Er freute sich, jetzt sitzen zu können. Wir ließen uns ruhig nieder, und ich fuhr ungefähr so fort:

„Ich sagte Ihnen, Philant, der Irrtum sei unser Erbteil. Ich muß es Ihnen beweisen. Der Irrtum hat mehr als eine Quelle. Der Schöpfer scheint uns nicht dazu bestimmt zu haben, große Kenntnisse zu besitzen und im Reiche des Wissens große Fortschritte zu machen. Er hat die Wahrheiten in Abgründen verborgen, die unsre schwache Einsicht nicht durchforschen kann, und er hat sie mit einer dichten Dornenhecke umgeben. Der Weg der Wahrheit ist rings von Klüften eingefaßt. Man weiß nicht, welchen Pfad man einschlagen soll, um diese Gefahren zu meiden. Hat man sie dann glücklich überstanden, so gerät man in ein Labyrinth, in dem uns Ariadnes Wunderfaden nichts hilft und aus dem man nicht wieder herausfindet. Die einen laufen einem trügerischen Phantom nach, das sie mit seinem Blendwerk täuscht und ihnen statt guten Geldes falsche Münze gibt. Sie verirren sich gleich den Wanderern, die in der Dunkelheit Irrlichtern folgen, deren Schein sie verlockt. Andre erraten die verborgenen Wahrheiten und wähnen der Natur den Schleier abzureißen. Sie ergehen sich in Mutmaßungen, und man muß gestehen, daß die Philosophen in dem Lande große Eroberungen gemacht haben. Die Wahrheiten liegen uns so fern, daß sie zweifelhaft werden und just durch ihre Entfernung ein zweideutiges Ansehen erhalten. Fast keine Wahrheit ist unbestritten; denn es gibt keine, die nicht zwei Seiten hätte. Von der einen Seite gesehen scheint sie unumstößlich, von der andern ist sie der Irrtum selbst. Man nehme alles zusammen, was die Vernunft dafür und dagegen sagt, überlege, erörtere und erwäge es reiflich, und man wird nicht wissen, wofür man sich entscheiden soll. Das ist so wahr, daß nur die Zahl der Wahrscheinlichkeiten den Meinungen der Menschen Gewicht verleiht. Entgeht ihnen nur eine Wahrscheinlichkeit, die dafür oder dagegen spricht, so ergreifen sie den Irrtum, und da die<14> Vorstellungskraft ihnen das Für und Wider nie mit gleicher Stärke veranschaulichen kann, wird ihre Entscheidung stets durch Schwäche bestimmt, und die Wahrheit entzieht sich ihren Blicken.

„Gesetzt, eine Stadt läge in einer Ebene, wäre ziemlich lang und bestände nur aus einer Straße. Gesetzt, ein Reisender, der nie von dieser Stadt gehört hat, käme dahin und sähe sie in ihrer ganzen Länge. Er wird sie für ungeheuer halten, well er sie nur von einer Seite sieht, und sein UrteU wird grundfalsch sein, da wir ja wissen, daß sie nur aus einer Straße besieht. Ebenso geht es mit den Wahrheiten, weil wir sie nur stückweise betrachten und daraus auf das Ganze schließen. Die einzelnen Teile werden wir richtig beurteilen, aber über die Gesamtheit werden wir merklich irren. Um zur Erkenntnis einer allgemeinen Wahrheit zu gelangen, muß man sich zuvörderst einen Vorrat von Einzelwahrheiten geschaffen haben, die uns leiten oder als Stufen zur Erreichung der gesuchten zusammengesetzten Wahrheit dienen. Grade das fehlt uns. Ich rede nicht von Mutmaßungen, sondern von offenbaren, sicheren, unwiderruflichen Wahrheiten. Philosophisch genommen, kennen wir garnichts. Wir ahnen gewisse Wahrheiten, machen uns unklare Begriffe davon und bringen je nach unsren Sprachwerkzeugen gewisse Laute hervor, die wir als wissenschaftliche Ausdrücke bezeichnen. Ihr Schall befriedigt unser Ohr. Unser Geist glaubt sie zu erfassen, aber genau genommen bieten sie unsrer Vorstellungskraft nichts als wirre und unklare Begriffe. Unsre Philosophie ist also im Grunde nichts als die Gewohnheit, dunkle, uns unverständliche Ausdrücke zu brauchen, als ein tiefes Nachsinnen über Wirkungen, deren Ursachen uns völlig unbekannt und verborgen bleiben. Die klägliche Zusammenstellung solcher Träumereien wird mit dem schönen Namen „vortreffliche Philosophie“ beehrt, und der Verfasser preist sie mit der Prahlerei eines Marktschreiers als die seltenste, dem Menschengeschlecht nützlichste Entdeckung an. Die Wißbegier treibt uns zu näherem Eingehen auf diese Entdeckung, und wir glauben Tatsachen zu finden. Welch unbillige Erwartung! Nein! Die so seltene, so kostbare Entdeckung ist nichts als ein neugeprägtes Wort, das noch barbarischer ist als die alten. Dies Wort drückt nach der Behauptung unsres Marktschreiers eine bisher unbekannte Wahrheit vottrefflich aus und macht sie uns sonnenklar. Man sehe, prüfe und wickle seine Idee aus dem Wortgepränge, das sie umhüllt — und es bleibt nichts. Stets herrscht die gleiche Dunkelheit und Finsternis. Eine Theaterdekoration verschwindet, und das Blendwerk der Täuschung zerrinnt.

„Die echte Erkenntnis der Wahrheit muß ganz anders sein als die eben gezeichnete. Man müßte alle Ursachen angeben können, bis zu ihrem Ursprung zurückgehen, ihn kennen und sein Wesen entwickeln. Das fühlte Lukrez wohl, und darum sagte dieser Dichterphilosoph:

Felix qui potuit rerum cognoscere causas.14-1

<15>

„Die Grundstoffe alles Seienden und die Triebfedern der Natur sind entweder zu zahllos oder zu klein, als daß der Philosoph sie wahrnehmen oder erkennen könnte. Daher der ewige Streit über die Atome, über die unendliche Teilbarkeit der Materie, über das Volle und das Leere, über die Bewegung, über die Art der Weltregierung — lauter dornenreiche Fragen, die wir nie lösen werden. Der Mensch scheint sich selbst anzugehören. Mich dünkt, daß ich mein eigener Herr bin, mich erforsche und kenne. Allein ich kenne mich nicht. Noch ist es unentschieden, ob ich eine Maschine bin, ein Automat, den die Hand des Schöpfers bewegt, oder ein freies, vom Schöpfer unabhängiges Wesen. Ich fühle, daß ich die Fähigkeit habe, mich zu bewegen, und weiß doch nicht, was Bewegung ist, ob ein Attribut oder eine Substanz. Der eine Gelehrte schreit mir entgegen: sie ist ein Attribut. Der andre schwört darauf, sie sei eine Substanz. Beide streiten, die Höflinge lachen, die Götter der Erde verachten sie, und das Volt weiß nichts von ihnen und vom Gegenstand ihres Streites. Heißt das nicht, die Vernunft aus ihrem Wirkungskreise reißen, indem man sie mit so unbegreiflichen abstrakten Dingen beschäftigt? Mir scheint, unser Geist ist zu so grenzenlosem Wissen nicht fähig. Wir sind wie Leute, die an einer Küste entlang segeln. Sie bilden sich ein, das Ufer bewege sich, nicht aber ihr Schiff, und doch ist es gerade umgekehrt: das Ufer sieht fest, sie aber werden vom Winde getrieben. Stets verführt uns unsre Eigenliebe. Alle Dinge, die wir nicht begreifen können, nennen wir dunkel, und alles heißt unverständlich, sobald es außer unsrer Sphäre liegt. Aber es ist nur die Beschränktheit unsres Verstandes, die uns zu tieferer Erkenntnis unfähig macht.

„Unleugbar gibt es ewige Wahrheiten. Allein, um sie zu begreifen, um auch ihre kleinsten Ursachen zu erforschen, müßte unser Gedächtnis millionenfach größer sein, müßte man sich ganz der Erkenntnis einer einzigen Wahrheit widmen, müßte so alt werden wie Methusalem, ja noch älter, müßte beständig spekulieren und Erfahrungen sammeln, müßte schließlich eine geistige Anspannung haben, deren wir nicht fähig sind. Urteilen Sie nun, ob der Schöpfer die Absicht hatte, uns zu weisen Geschöpfen zu machen. Denn diese Hindernisse scheinen doch aus seinem Willen hervorzugehen, und die Erfahrung lehrt, daß wir wenig Fassungsvermögen, wenig Streben besitzen, daß unser Geist zur Erkenntnis der Wahrheit nicht durchdringt, daß unser Gedächtnis nicht weit und zuverlässig genug ist, um all die Weisheit zu fassen, die ein so schönes und mühseliges Forschen erfordert.

„Es gibt aber noch ein andres Hindernis für die Erkenntnis der Wahrheit. Ja, die Menschen haben es sich selbst in den Weg gelegt, als wäre dieser an sich nicht schon schwierig genug. Das Hindernis liegt in den Vorurteilen unsrer Erziehung. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hat offenbar falsche Grundsätze. Ihre Physik ist sehr mangelhaft, ihre Metaphysik taugt garnichts, ihre Moral besieht aus schmutzigem Eigennutz und grenzenlosem Hängen an den irdischen Gütern. Was sie große Tugend nennen, ist kluger Vorbedacht für die Zukunft und Sorge für die künftige Wohl<16>fahrt ihrer Familie. Sie werden sich leicht sagen können, daß die Logik dieser Art Menschen zu ihrer Philosophie paßt. Sie ist denn auch erbärmlich. Ihre ganze Dialektik besieht darin, daß sie allein das Wort führen, über alles selbst entscheiden und keinen Einwand dulden. Diese kleinen Hausgesetzgeber sind von Anfang an darauf erpicht, ihren Sprößlingen ihre eignen Ideen einzuprägen. Eltern und Verwandte streben nach Verewigung ihrer Irrtümer. Kaum verläßt das Kind seine Wiege, so ist man schon bemüht, ihm einen Begriff vom Knecht Ruprecht und vom Werwolf zu geben. Auf diese schönen Lehren folgen dann gewöhnlich andre von gleichem Werte. Die Schule trägt das ihre dazu bei. Man wird von den Visionen Platos zu denen des Aristoteles geführt. Dann wird man mit einemmal in die Geheimnisse der Descartesschen Wirbeltheorie eingeweiht. So verläßt man die Schule. Das Gedächtnis ist mit Worten belastet, der Geist voller abergläubischer Vorurteile und voller Ehrfurcht vor alten Hirngespinsien. Das vernünftige Alter kommt. Entweder schüttelt man das Joch des Irrtums ab oder man überbietet die Eltern noch. Waren sie einäugig, so wird man selbst blind. Haben sie gewisse Dinge geglaubt, weil sie sich einbildeten, sie zu glauben, so glaubt man sie nun aus Starrsinn. Dazu kommt noch das Beispiel so vieler, die zäh an einer Meinung hängen. Ihr Beifall besitzt für uns hinreichende Autorität; ihre große Zahl fällt in die Wagschale. Der im Volk verbreitete Irrtum macht Proselyten und feiert Triumphe. Schließlich werden die eingewurzelten Vorurteile durch die Zeitdauer riesengroß. Denken Sie sich einen jungen Baum, dessen dünner Stamm sich vor der Gewalt der Winde biegt. Er wächst und erstarkt, bietet mit seinem stolzen Wipfel den Wolken Trotz und setzt der Axt des Holzfällers einen unerschütterlichen Stamm entgegen. „Wie!“ sagt man. „So hat mein Vater gedacht, und seit sechzig, siebzig Jahren denke ich ebenso. Mit welchem Rechte kannst du verlangen, daß ich mein Denken jetzt ändere? Soll ich etwa wieder zum Schüler werden und mich von dir gängeln lassen? Laß ab! Ich will lieber auf der allgemeinen Heerstraße dahinschleichen, als mich mit dir wie ein neuer Ikarus in die Lüfte schwingen. Denke an seinen Sturz! Das ist der Lohn für die neuen Lehren, die Strafe, die deiner harrt!“ Oft tritt zum Vorurteil noch Starrsinn, und eine gewisse Barbarei, die man falschen Eifer nennt, stellt unfehlbar ihre tyrannischen Grundsätze auf.

„Das sind die Wirkungen der vorgefaßten Meinungen der Kindheit. Bei der Aufnahmefähigkeit des Gehirns in jenem zarten Alter schlagen sie um so tiefer Wurzel. Die ersten Eindrücke sind die lebhaftesten. Alle Urteilskraft erscheint dagegen nur schwach.

„Sie sehen also, lieber Philant, der Irrtum ist das Erbteil der Menschheit. Nach allen meinen Ausführungen werden Sie gewiß begreifen, daß man von seinen Ansichten sehr aufgeblasen sein muß, um sich über den Irrtum erhaben zu wähnen, und daß man selbst sehr fest im Sattel sitzen muß, will man es wagen, andre aus dem Sattel zu heben.“

<17>

„Zu meinem großen Erstaunen“, erwiderte Philant, „beginne ich einzusehen, daß die meisten Irrtümer bei den einmal darin Befangenen unausrottbar sind. Ich habe Ihnen aufmerksam und mit Vergnügen zugehört und, wenn ich nicht irre, die Ursachen des Irrtums, die Sie mir angaben, wohl behalten. Es waren das, wie Sie sagten, der weite Abstand der Wahrheit von unsern Augen, das geringe Wissen, die Schwachheit und Unzulänglichkeit unsres Verstandes und die Vorurteile der Erziehung.“

„Vortrefflich, Philant! Sie haben ein ganz göttliches Gedächtnis. Gefiele es Gott und der Natur je, einen Sterblichen zu bilden, der ihre erhabenen Wahrheiten zu fassen vermag, so wären Sie es gewiß, Sie, der ein so umfassendes Gedächtnis mit so lebhaftem Geist und sicherem Urteil vereint.“

„Bitte, keine Komplimente!“ erwiderte PHUant. „Mir liegt mehr an philosophischen Gedankengängen als an Ihren Lobsprüchen. Es kommt hier garnicht darauf an, mir eine Lobrede zu halten, sondern für den Dünkel aller Gelehrten ehrlich Buße zu tun und unsre Unwissenheit in Demut zu bekennen.“

„Ich werde Ihnen wacker beistehen, Philant, wenn es gilt, unsre tiefe und krasse Unwissenheit aufzudecken. Ich gestehe sie gern ein, ja ich gehe bis zum Pyrrhonismus17-1 und finde, wir tun sehr gut daran, wenn wir den sogenannten Erfahrungswahrheiten mehr Zweifel als Glauben entgegenbringen. Sie sind da auf gutem Wege, Philant. Der Skeptizismus sieht Ihnen nicht übel an. Pyrrhon hätte im Lykeion17-2 nicht anders geredet als Sie. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ein ziemlicher Anhänger der Akademie17-3 bin. Ich betrachte die Dinge von allen Seiten. Ich zweifle und bleibe unentschieden: so allein kann man sich vor Irrtum bewahren. Bei diesem Skeptizismus mache ich zwar keine Riesenschritte, wie Okeanos bei Homer, der Wahrheit entgegen, aber er behütet mich doch vor den Schlingen der Vorurteile.“

„Und warum fürchten Sie den Irrtum,“ erwiderte Philant, „da Sie ihn ja so gut verteidigen?“

„Ach!“ versetzte ich, „manch holder Irrtum verdient den Vorzug vor der Wahrheit. Die Irrtümer erfüllen uns mit angenehmen Vorstellungen, überhäufen uns mit Gütern, die wir nicht besitzen und niemals genießen werden. Sie sind unsre Stütze im Unglück. Ja selbst im Tode, wenn wir schon im Begriff sind, alle Güter und das Leben selbst zu verlieren, eröffnen sie uns die Aussicht auf Güter, die den Vorzug vor denen verdienen, die wir aufgeben. Sie tauchen uns in Ströme von Seligkeiten, die uns den Tod selbst noch versüßen, ja ihn liebenswert machen könnten, wenn das möglich wäre. Dabei fällt mir die Geschichte eines Geisteskranken ein,<18> die mir erzählt wurde. Vielleicht wird sie Sie für meine lange, lehrhafte Erörterung schadlos halten.“

„Mein Stillschweigen“, entgegnete Philant, „zeigt Ihnen zur Genüge, daß ich Ihnen mit Vergnügen zuhöre. Ich bin begierig, Ihre Geschichte zu erfahren.“

„Ich will Ihre Neugier befriedigen, Philant. Aber Sie dürfen es dann nicht bereuen, mich zum Plaudern gereizt zu haben. Im Irrenhause zu Paris war also ein Mann von vornehmer Geburt, der alle seine Verwandten durch seine Geisteszerrüttung in tiefe Betrübnis versetzte. Er dachte über alles vernünftig, ausgenommen über seine Seligkeit. Er glaubte sich in Gesellschaft von lauter Cherubimen, Seraphimen und Erzengeln, sang den ganzen Tag im Konzert dieser unsterblichen Geister und wurde mit beseligenden Visionen beehrt. Das Paradies war sein Aufenthalt, die Engel seine Gefährten, das himmlische Manna seine Speise. Dieser glückliche Narr genoß im Irrenhause ein vollkommenes Glück — bis zu seinem Unglück ein Arzt oder Wundarzt die Geisteskranken besuchte. Der Arzt erbot sich der Familie gegenüber, den Seligen zu heilen. Sie können sich denken, daß man ihm alles mögliche versprach, wenn er seine ganze Kunst aufböte und womöglich Wunder täte. Genug! Um es kurz zu machen: es gelang dem Arzte durch Aderlässe oder andre Mittel, den Kranken wieder in den Vollbesitz seines gesunden Verstandes zu bringen. Er war tief erstaunt, sich nicht mehr im Himmel, sondern an einem Orte zu finden, der dem Gefängnis sehr ähnlich sah, und in einer Gesellschaft, die nichts Engelhaftes hatte. Er war wütend auf den Arzt. 'Ich fühlte mich wohl im Himmel', sagte er zu ihm. 'Sie hatten kein Recht, mich herunterzuholen. Zu Ihrer Strafe wünschte ich Ihnen, Sie würden verdammt und kämen leibhaftig in die Hölle18-1.' Sie sehen daraus, Philant, daß es beseligende Irrtümer gibt. Es wird mir nicht schwer fallen, Ihnen zu zeigen, daß sie auch unschuldig sind.“

„Das soll mir recht sein“, erwiderte er. „Da wir spät zu Nacht essen, haben wir noch mindestens drei Stunden vor uns.“

„Soviel“, entgegnete ich, „brauche ich nicht für das, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich werde mit meiner Zeit und mit Ihrer Geduld sparsam umgehen. Sie gaben mir vorhin zu, daß der Irrtum bei den darin Befangenen unfreiwillig sei. Sie wähnen sich im Besitz der Wahrheit und täuschen sich doch. Sie sind in der Tat entschuldbar; denn nach ihrer Meinung haben sie die Wahrheit. Sie gehen ehrlich zu Werke, aber der Schein trügt sie; sie halten den Schatten für den Körper selbst. Bedenken Sie bitte ferner, daß sie aus einem löblichen Beweggrund in Irrtum versunken sind. Sie suchten die Wahrheit, verirrten sich aber auf dem Wege, und wenn sie sie auch nicht fanden, so besaßen sie doch wenigstens den guten Willen. Sie hatten keine, oder was noch schlimmer ist, schlechte Führer. Sie suchten den Weg zur Wahrheit, aber ihre Kräfte versagten vor dem Ziele. Kann man einen Menschen verur<19>teilen, der beim Durchschwimmen eines sehr breiten Stromes ertrinkt, weil er nicht die Kraft gehabt hat, ans andre Ufer zu kommen? Wenn man nicht ganz fühllos ist, wird man Mitleid mit seinem traurigen Geschick haben. Man wird einen Mann beklagen, der so mutig und eines so kühnen und edlen Vorsatzes fähig war, aber von der Natur nicht genug unterstützt wurde. Seine Kühnheit scheint ein besseres Schicksal verdient zu haben, und seine Asche wird mit Tränen benetzt werden. Jeder denkende Mensch muß sich anstrengen, die Wahrheit zu erkennen. Solche Anstrengungen sind unsrer würdig, auch wenn sie unsre Kräfte übersteigen. Es ist schon schlimm genug, daß die Wahrheit für uns unerforschlich ist. Wir dürfen das Elend nicht noch durch Verachtung derer mehren, die bei der Entdeckung dieser neuen Welt Schiffbruch erleiden. Sie sind hochherzige Argonauten, die sich für das Wohl ihrer Mitbürger Gefahren aussetzen. In den Ländern der Einbildung umherzuirren ist in der Tat eine harte Arbeit. Das Klima ist uns unzuträglich, wir kennen die Sprache der Einwohner nicht und verstehen uns nicht darauf, durch den Flugsand jener Gefilde zu schreiten.

„Glauben Sie mir, Philant, wir müssen duldsam gegen den Irrtum sein. Er ist ein feines Gift, das unvermerkt in unser Herz dringt. Ich, der ich mit Ihnen rede, bin nicht sicher, eine Ausnahme zu bilden. Verfallen wir nie in den lächerlichen Dünkel jener unfehlbaren Gelehrten, deren Worte als Orakelsprüche zu gelten haben. Seien wir nachsichtig auch gegen die Handgreiflichsien Irrtümer und rücksichtsvoll gegen die Ansichten derer, mit denen wir zusammen leben. Warum sollen wir die holden Bande, die uns vereinen, einer Meinung zuliebe zerreißen, von der wir selbst nicht recht überzeugt sind? Spielen wir uns nicht als Kämpen für eine unbekannte Wahrheit auf, und überlassen wir es der Einbildungskraft eines jeden, sich aus seinen Ideen einen Roman zu spinnen. Die Zeiten der fabelhaften Recken, die Wundertaten und Schwärmereien der fahrenden Ritter sind vorüber. Einen Don Quichotte bewundert man noch bei Cervantes, aber ein Pharamund, Roland, Amadis und Gandalin19-1 würden sich dem Gelächter aller Vernünftigen aussetzen, und die Ritter, die in ihre Fußtapfen träten, würde das gleiche Schicksal ereilen.

„Zu bemerken ist noch: um die Irrtümer der Welt auszurotten, müßte man das ganze Menschengeschlecht vertilgen. Für das Glück der Gesellschaft macht es wenig aus, wie wir über spekulative Fragen denken, aber viel, wie wir handeln. Ob Sie Anhänger des Systems Tycho de Brahes oder des der Malabaren sind, ich verzeihe es Ihnen gern, wenn Sie nur menschlich sind. Wären Sie aber der orthodoxeste aller Weltweisen und dabei von grausamem, hartem und barbarischem Charakter, so würde ich Sie stets verabscheuen.

<20>

„Ich bin vollkommen Ihrer Meinung“, sagte Philant.

Bei diesen Worten hörten wir nicht weit von uns ein dumpfes Gemurmel, als ob jemand Schmähworte vor sich hinbrummte. Wir drehten uns um und erblickten im hellen Mondschein zu unsrem Erstaunen den Hauskaplan, der nur ein paar Schritte von uns entfernt war und wahrscheinlich den größten Teil unsrer Unterhaltung gehört hatte.

„Sieh da! Mein Vater!“ rief ich. „Wie kommt's, daß wir Sie hier so spät antreffen?“

„Heute ist Sonnabend“, erwiderte er. „Ich war dabei, meine Predigt für morgen vorzubereiten. Da hörte ich mitten drin ein paar Worte von Ihrem Gespräch, die mich veranlaßten, auch den Rest anzuhören. Wollte Gott, ich hätte zum Heil meiner Seele nichts davon vernommen! Sie haben meinen gerechten Zorn erregt, haben meine frommen Ohren beleidigt, die heiligen Gefäße unsrer unaussprechlichen Wahrheiten. Unheilige, schlechte Christen, die ihr seid, ihr wollt Menschlichkeit, Erbarmen und Demut der Macht der Religion und der Heiligkeit unsres Glaubens vorziehen! Wohlan, ihr werdet verdammt und in Kesseln voll siedenden Öles gemartert werden, die für die Verdammten bestimmt sind — euresgleichen.“

„Verzeihung, mein Vater!“ erwiderte ich. „Wir haben keine religiösen Fragen berührt. Wir sprachen nur von höchst gleichgültigen philosophischen Problemen. Und falls Sie nicht Tycho de Brahe und Kopernikus zu Kirchenvätern erheben wollen, sehe ich nicht ein, worüber Sie sich zu beklagen hätten.“

„Schon gut!“ sagte er. „Ich werde Sie morgen abkanzeln. Gott weiß, wie glatt ich Sie zum Teufel schicken werde.“

Wir wollten ihm antworten, aber er verließ uns unwirsch und brummte im Fortgehen ein paar Worte, die wir nicht recht verstehen konnten. Ich hielt es für einen frommen Seufzer, aber Philant glaubte ein paar rhetorische Verwünschungen aus irgend einem Psalm Davids gehört zu haben.

Wir gingen ins Haus, sehr zerknirscht ob des Abenteuers, das wir gehabt hatten, und sehr verlegen, welche Maßregeln wir ergreifen sollten. Mich dünkte, ich hatte nichts gesagt, was irgendwen hätte beleidigen können. Was ich zugunsten des Irrtums behauptet hatte, war der gesunden Vernunft und folglich den Grundsätzen unsres allerheiligsien Glaubens gemäß; denn er befiehlt uns selbst Duldung gegen die Fehler unsrer Nächsien und verbietet uns, den Schwachen Ärgernis zu bereiten und sie zu verletzen. Ich fühlte mich bei meinen Ansichten also rein und fürchtete nichts als die Denkweise der Frömmler. Man weiß ja, wie weit ihr Glaubenseifer geht und wie leicht sie imstande sind, andre gegen die Unschuld einzunehmen, wenn sie Abscheu gegen jemand gefaßt haben und ihn in Verruf bringen möchten. Philant beruhigte mich, so gut er konnte, und wir trennten uns nach dem Abendessen, jeder in tiefem Sinnen, vermutlich über den Gegenstand unsrer Unterhaltung und den<21> unglücklichen Zwischenfall mit dem Pfaffen. Ich ging ungesäumt in mein Zimmer und brachte während des größten Teiles der Nacht zu Papier, was ich von unsrer Unterredung behalten hatte.

<22>

Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen (1749)22-1

Man erwirbt sich genaue Kenntnis über die Gründe zur Einführung oder Abschaffung von Gesetzen nur aus der Geschichte. Sie zeigt uns, daß alle Völker ihre eignen Gesetze hatten, daß sie nach und nach eingeführt wurden und daß die Menschen stets viel Zeit brauchten, um zu etwas Vernünftigem zu gelangen. Wir sehen ferner, daß die Gesetze am längsten bestanden haben, deren Urheber auf das Gemeinwohl bedacht waren und den Geist des Volkes am besten kannten. Diese Betrachtung nötigt uns zu näherem Eingehen auf die Geschichte der Gesetze und die Art ihrer Einführung in den kultiviertesten Ländern. Wahrscheinlich waren die Familienhäupter die ersten Gesetzgeber. Das Bedürfnis, Ordnung in ihren Familien zu schaffen, veranlaßte sie ohne Zweifel, Hausgesetze zu geben. Nach diesen ersten Zeiten, als die Menschen sich in Städten anzusiedeln begannen, reichten die Gesetze der Hausgerichtsbarkeit für die zahlreichere Gesellschaft nicht mehr aus. Die Bosheit des menschlichen Herzens, die in der Einsamkeit abzusterben scheint, lebt in der Geisellschaft wieder auf. Der Umgang mit seinesgleichen, der die verwandten Charaktere zusammenführt, gibt den Tugendhaften Gefährten, aber auch den Lasterhaften Mitschuldige.

Die Ausschreitungen in den Städten nahmen zu. Neue Lasier entstanden, und die Familienhäupter, denen am meisten an ihrer Unterdrückung lag, schlössen sich ihrer Sicherheit halber zusammen, um ihnen entgegenzutreten. Man erließ daher Gesetze<23> und ernannte Obrigkeiten, die über ihre Befolgung zu wachen hatten. So groß ist die Verderbtheit des Menschenherzens, daß man uns durch die Macht der Gesetze zwingen muß, in Glück und Frieden zu leben!

Die ersten Gesetze wehrten nur den gröbsten Unzuträglichkeiten. Die bürgerlichen Gesetze regelten den Dienst der Götter, die Teilung des Ackerlandes, die Ehevertrage und die Erbfolge. Die Strafgesetze verfuhren nur gegen die Verbrechen streng, deren Wirkungen man am meisten fürchtete. Entstanden dann in der Folge neue Unzuträglichkeiten und Unordnungen, so wurden neue Gesetze geschaffen.

Aus dem Bund der Städte entstanden Republiken, deren Regierungsform sich bei der Wandelbarkeit aller menschlichen Dinge oft veränderte. Das Volk wurde der Demokratie überdrüssig und ging zur Aristokratie über, an deren Stelle dann sogar die monarchische Regierungsform trat: entweder so, daß das Volk zur hervorragenden Tugend eines Mitbürgers Vertrauen hatte, oder daß irgend ein Ehrgeiziger durch Ränke die Herrschermacht an sich riß. Nur wenige Staaten haben diese verschiedenen Regierungsformen nicht durchgemacht, aber alle hatten verschiedene Gesetze.

Osiris23-1 ist der erste Gesetzgeber, den die Weltgeschichte erwähnt. Er war König von Ägypten und führte dort seine Gesetze ein, denen nicht nur die Untertanen, sondern auch die Herrscher selbst unterworfen waren. Die Könige erwarben sich nur so weit die Liebe des Volkes, als sie nach diesen Gesetzen regierten. Osiris (einige Schriftsieller nennen daneben auch Isis) setzte dreißig Richter ein. Ihr Oberhaupt trug an einer goldenen Halskette das Bild der Wahrheit. Wen er damit berührte, der hatte seine Sache gewonnen. (Herodot, Diodor.) Osiris regelte den Götterdiensi, die Teilung des Ackerlandes und den Unterschied der Stände. Er verbot die Schuldhaft und verbannte alle Verführungstünsie der Rhetorik aus den Gerichten. Die Ägypter verpfändeten ihren Gläubigern die Leichen ihrer Eltern, und der Schuldner, der sie vor seinem Tode nicht wiedereinlösie, galt für ehrlos. Der Gesetzgeber glaubte, es sei nicht genug, die Menschen bei Lebzeiten zu bestrafen. Er richtete auch Totengerichte ein, damit die Schande, die sich an ihre Verurteilung heftete, den Lebenden ein Ansporn zur Tugend würde.

Nächst den Gesetzen der Ägypter sind die der Kreter die ältesten. Ihr Gesetzgeber, Minos, gab sich für einen Sohn Jupiters aus und behauptete, seine Gesetze von seinem Vater empfangen zu haben, um ihnen mehr Ansehen zu verschassen.

Lykurg, König von Sparta, benutzte die Gesetze des Minos und fügte einige des Osiris hinzu, die er auf einer Reise nach Ägypten gesammelt hatte. (Plutarch.) Er verbannte Gold und Silber und alle Münzen, sowie alle nutzlosen Künste aus seinem Lande und verteilte die Äcker gleichmäßig unter die Bürger. (Plutarch.) Lykurg wollte Krieger heranbilden, deren Mut durch keine Art von Leidenschaft entnervt werden sollte. Daher gestattete er den Bürgern die Weibergemeinschaft. Auf diese Weise<24> wurde der Staat bevölkert, ohne daß der einzelne von den süßen Banden einer zärtlichen Ehe allzusehr gefesselt wurde. Alle Kinder wurden auf Staatskosten erzogen. Konnten die Eltern nachweisen, daß ihre Kinder bei der Geburt schwächlich waren, so durften sie sie töten. Lykurg dachte, ein Mensch, der nicht imstande sei, die Waffen zu führen, verdiene auch nicht das Leben. Er bestimmte, daß die Heloten, eine Art von Sklaven, das Land bebauen und daß die Spartaner sich nur mit Übungen beschäftigen sollten, die sie kriegstüchtig machten. Die Jugend beiderlei Geschlechts übte sich ganz nackt auf öffentlichen Plätzen im Ringen. Die Mahlzeiten waren geregelt. Alle Bürger aßen ohne Unterschied miteinander. Fremde durften sich in Sparta nicht aufhalten, damit ihre Sitten die von Lykurg eingeführten nicht verdarben. Nur ungeschickte Diebe wurden bestraft. Lykurg wollte eine kriegerische Republik gründen, und das gelang ihm.

Drako gab den Athenern zuerst Gesetze. Sie waren aber so streng, daß man von ihnen sagte, sie wären eher mit Blut als mit Tinte geschrieben. (Plutarch, „Leben Solons“.) Auf die geringsten Vergehen stand Todesstrafe. Ja, Drako machte sogar den leblosen Dingen den Prozeß. So ward eine Bildsäule, die im Herunterfallen einen Menschen verletzt hatte, aus der Stadt verbannt.

Wir haben gesehen, wie die Gesetze in Ägypten und Sparta eingeführt wurden. Jetzt wollen wir prüfen, wie man sie in Athen verbesserte. Die Mißstände, die in Attika herrschten, und die schlimmen Folgen, die man vorhersah, veranlaßten die Bürger, ihre Zuflucht zu einem Weisen zu nehmen, der allein so vielen Mißbräuchen abhelfen tonnte. Die verschuldeten Armen, die von den Reichen grausam bedrückt wurden, suchten nach einem Oberhaupte, das sie von der Tyrannei ihrer Gläubiger befreite. Infolge dieser inneren Zwistigkeiten ward Solon einstimmig zum Archonten und höchsten Schiedsrichter ernannt. Die Reichen, sagt Plutarch, hießen ihn als reichen und die Armen als rechtschaffenen Mann willkommen.

Solon entlastete die Schuldner und erlaubte den Bürgern, Testamente zu errichten. Die Frauen, die impotente Männer hatten, durften sich unter deren Verwandten andre wählen. Seine Gesetze bestraften den Müßiggang, sprachen den, der einen Ehebrecher erschlug, frei und verboten, die Vormundschaft über Kinder deren nächsten Erben zu übertragen. Wer einem Einäugigen sein Auge ausgestoßen hatte, verlor beide Augen. Sittenlose wagten in den Volksversammlungen nicht zu reden. Gegen den Vatermord gab Solon keine Gesetze. Dies Verbrechen erschien ihm unserhört, und er fürchtete, es durch ein Verbot eher zu lehren als zu verhindern.

Seine Gesetze ließ er im Areopag niederlegen. Dieser von Ketrops gestiftete Rat, der anfangs aus dreißig Richtern bestanden hatte, wurde auf fünfhundert gebracht. Er hielt seine Sitzungen bei Nacht, und die Advokaten verfochten ihre Rechtshändel rein sachlich. Sie durften die Leidenschaften nicht aufstacheln.

Die Gesetze Athens kamen dann nach Rom. Da aber das Römische Reich allen Völkern, die es unterwarf, seine Gesetze gab, so wird es nötig sein, näher darauf einzugehen. Der Gründer und erste Gesetzgeber Roms war Romulus. Das wenige,<25> was wir von seinen Gesetzen wissen, ist folgendes25-1: Romulus bestimmte, daß die Könige in Rechts- und Glaubenssachen unumschränkte Gewalt haben sollten. Die Fabeln, die von den Göttern erzählt wurden, sollte man nicht glauben, sondern fromm und heilig von ihnen denken und diesen seligen Wesen nichts Entehrendes zuschreiben. Plutarch setzt hinzu: weil die Annahme, die Götter könnten an den Reizen einer sterblichen Schönheit Gefallen finden, eine Gottlosigkeit sei. So wenig abergläubisch der König aber auch war, so befahl er doch, ohne vorherige Befragung der Auguren nichts zu unternehmen.

Romulus setzte die Patrizier in den Senat und teilte das Volk in Tribus. Die Sklaven rechnete er in seiner Republik für nichts. Die Ehemänner hatten das Recht, ihre Weiber mit dem Tode zu bestrafen, wenn sie sie beim Ehebruch oder im Rausche betrafen. Den Vätern gab er unumschränkte Gewalt über ihre Kinder. Sie durften sie töten, wenn sie mißgestaltet zur Welt kamen. Vatermörder wurden mit dem Tode bestraft. Ein Patron, der seinen Klienten betrog, wurde verabscheut. Eine Schwiegertochter, die ihren Schwiegervater schlug, überließ man der Rache der Hausgötter. Die Mauern der Städte wurden für heilig erklärt. Romulus tötete seinen eignen Bruder Remus, weil er das Gesetz durch einen Sprung über die Mauern der von ihm gegründeten Stadt übertreten hatte. Er errichtete Freistätten, deren eine am Tarpejischen Fels lag.

Numa vermehrte die Gesetze des Romulus. (Plutarch, „Leben Numas“.) Da er sehr fromm und von tiefer Religiosität war, so verbot er, die Götter in Menschenoder Tiergestalt darzustellen. Daher kam es, daß es in den ersten 160 Jahren nach der Gründung Roms keine Götterbilder in den Tempeln gab.

Um die Bürger zur Vermehrung des Geschlechts aufzumuntern, bestimmte Tullus Hostilius: wenn eine Frau Drillinge zur Welt brächte, sollten sie bis zur Großjährigkeit auf Staatskosten erzogen werden. (Danet, Dictionnaire des Antiquitès.)

Unter den Gesetzen des Tarquinius Priscus heben wir hervor, daß jeder Bürger dem König ein Verzeichnis seiner Güter geben mußte und bestraft wurde, wenn er es unterließ. Ferner bestimmte Tarquinius die Opfer, die jeder in den Tempeln darzubringen hatte, und gestattete, die Freigelassenen in die städtischen Tribus aufzunehmen. Die Gesetze dieses Königs brachten auch den Schuldnern Erleichterung.

Das sind die wichtigsten Gesetze, die die Römer von ihren Königen erhielten. Sie wurden von Sertus Papirius gesammelt und nach ihm Codex Papirianus genannt. Die meisten wurden, da sie für einen monarchischen Staat bestimmt waren, bei der Vertreibung der Könige abgeschafft.

Valerius Publicola, der Mitkonsul des Brutus, eines der Werkzeuge der römischen Freiheit, war dem Volke gewogen. Er gab neue Gesetze, die sich der eben begründeten Regierungsform anpaßten. Diese Gesetze gestatteten gegen die Urteile der<26> Richter die Berufung ans Volk. Die Annahme von Ämtern ohne Zustimmung des Volkes war bei Todesstrafe verboten. Publicola verminderte die Auflagen und erlaubte die Ermordung der Bürger, die nach der Alleinherrschaft strebten.

Erst nach ihm kamen die Wucherzinsen auf, die von den Großen Roms bis auf acht Prozent getrieben wurden. (Livius, Buch II; Tacitus, „Annalen“.) Konnte der Schuldner nicht bezahlen, so ward er ins Gefängnis geworfen und kam mit seiner ganzen Familie in die Sklaverei. Dies harte Gesetz erschien den Plebejern, die oft seine Opfer wurden, unerträglich. Sie murrten gegen die Konsuln, aber der Senat blieb unerbittlich, und das aufgebrachte Volk wanderte auf den Heiligen Berg aus. Hier unterhandelte es mit dem Senat wie mit seinesgleichen und kehrte nur unter der Bedingung nach Rom zurück, daß seine Schulden getilgt und Tribunen eingesetzt würden, die seine Rechte vertraten. Die Tribunen setzten die Zinsen auf vier Prozent herab, und schließlich wurden sie für einige Zeit ganz abgeschafft.

Jeder der beiden Stände, die die römische Republik bildeten, schmiedete immerfort ehrgeizige Pläne, um sich auf Kosten des andren zu erheben. Daraus entstand Mißtrauen und Eifersucht. Einige Aufrührer schmeichelten dem Volke, indem sie seine Forderungen noch steigerten, und durch einige junge Senatoren von hitziger Gemütsart und großem Stolze fielen die Beschlüsse des Senats oft zu streng aus. Die Lex agraria über die Verteilung der eroberten Gebiete erregte in der Republik mehr als einmal Zwistigkeiten, so im Jahre 267 nach der Gründung Roms. Der Senat schuf zwar eine Ablenkung durch einige Kriege, aber der Zwist erwachte immer aufs neue und währte bis zum Jahre 300.

Endlich sah Rom die Notwendigkeit ein, seine Zuflucht zu Gesetzen zu nehmen, die beide Teile befriedigten. Nun wurden Spurius Posthumius Albus, Aulus Man, lius und Publius Sulpicius Camerinus nach Athen geschickt, um Solons Gesetze zu sammeln. Nach ihrer Rückkehr wurden sie unter die Dezemvirn aufgenommen. Sie verfaßten die Gesetze, die dann durch Senatsbeschluß und durch Volksabstimmung bestätigt wurden. Man ließ sie auf zehn eherne Tafeln eingraben, zu denen im folgenden Jahre noch zwei Tafeln traten. So entstand die unter dem Namen der Zwölf Tafeln bekannte Gesetzsammlung. (Livius, III., 31.)

Diese Gesetze beschränkten die väterliche Gewalt, straften die Vormünder, die ihre Mündel betrogen, und erlaubten jedem die beliebige Vererbung seines Vermögens. Später bestimmten die Triumvirn, daß die Erblasser den vierten Teil ihres Vermögens ihren natürlichen Erben hinterlassen sollten: das ist der Ursprung des sogenannten Pflichtteils26-1. Kinder, die innerhalb von zehn Monaten nach dem Tode ihres Vaters zur Welt kamen, sollten noch für eheliche Kinder gelten, ein Privileg, das Kaiser Hadrian später bis auf den elften Monat ausdehnte.

<27>

Die den Römern bisher unbekannte Ehescheidung wurde erst durch die Zwölf Tafeln gesetzlich. Auch wurden Strafen für tätliche, wörtliche und schriftliche Beleidigungen festgesetzt. Schon die bloße Absicht des Vatermordes wurde mit dem Tode bestraft. Die Bürger durften bewaffnete Diebe oder solche, die des Nachts in ihre Häuser ein, brachen, töten. Jeder falsche Zeuge sollte vom Tarpejischen Fels herabgestürzt werden. In Kriminalsachen hatte der Ankläger zwei Tage Frist zur Erhebung seiner Amklage und der Beklagte drei Tage zu seiner Verteidigung. (Der Angeklagte erschien als Bittflehender vor dem Richter mit seinen Verwandten und Klienten.) Fand es sich, daß der Ankläger den Beklagten verleumdet hatte, so traf ihn die gleiche Strafe, als ob er das Verbrechen, dessen er den andren zieh, selbst begangen hatte.

Das ist im wesentlichen der Inhalt der Zwölf Tafeln, die Tacitus das Ideal guter Gesetze nennt. Ägypten und Griechenland trugen mit dem Vollkommensten, was man dort kannte, zu ihnen bei. Diese gerechten und billigen Gesetze beschränkten die Freiheit der Bürger nur im Falle des Mißbrauchs, wenn sie der Ruhe der Familien oder der Sicherheit der Republik schadete.

Die Macht des Senats, die der des Volkes stets entgegenstand, der maßlose Ehrgeiz der Großen, die täglich wachsenden Ansprüche der Plebejer und viele andre Ur, fachen, die eigentlich in die Geschichte gehören, führten neue heftige Stürme herbei. Die Gracchen und Saturninus erließen einige revolutionäre Gesetze. Während der Wirren der Bürgerkriege entstand eine ganze Reihe von Bestimmungen, die die Er, eignisse wieder fortschwemmten. Sulla hob die alten Gesetze auf und führte andre ein, die Lepidus wieder abschaffte. Die Sittenverderbnis, die bei diesen inneren Zwistigkeiten immer mehr zunahm, führte zur unendlichen Vermehrung der Gesetze. Pompejus, der sie verbessern sollte, gab einige, die aber mit ihm untergingen. Während der fünfundzwanzig Jahre der Bürgerkriege gab es weder Recht noch Brauch noch Gerechtigkeit. In dieser Verwirrung blieb alles bis zur Regierung des Augustus, der in seinem sechsten Konsulat die alten Gesetze wiederherstellte und alle aufhob, die während der Unruhen in der Republik entstanden waren.

Endlich half Kaiser Justinian der Verwirrung ab, die durch die Menge der Gesetze in die Rechtsprechung gekommen war. Er ließ durch seinen Kanzler Tribonian ein vollständiges Corpus juris ausarbeiten. Tribonian brachte es in die drei Bände, die wir noch heute haben: die Digesten, eine Sammlung der Meinungen der berühmtesten Rechtsgelehrten, den Codex, der die Verordnungen der Kaiser enthält, und die Institutionen, die einen Abriß des römischen Rechts bilden. Diese Gesetze wurden für so trefflich befunden, daß sie nach dem Untergang des Römischen Reiches von den kultiviertesten Völkern übernommen wurden und die Grundlage ihrer Rechtsgelehr, samkeit bildeten.

Die Römer hatten ihre Gesetze in die von ihnen eroberten Länder mitgebracht. Die Gallier nahmen sie an, als Cäsar sie unterjochte und ihr Land zur römischen Provinz machte.

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Im fünften Jahrhundert, als das römische Weltreich zerfiel, überschwemmten die nordischen Völker einen Teil Europas. Die Gallier wurden von den Westgoten, Burgundern und Franken unterjocht. Diese Barbarenvölker führten bei den Unterworfenen ihre Gesetze und Bräuche ein.

Chlodwig glaubte seinen neuen Untertanen eine Gnade zu erweisen, indem er ihnen die Wahl zwischen den Gesetzen der Sieger und der Besiegten ließ. Er erließ das Salische Gesetz (487, nach Daniel, Histoire de France). Von seinen Nachfolgern wurden oft neue Gesetze gegeben. Gundobald, König von Burgund, erließ eine Verordnung, worin er denen, die sich nicht mit dem Eide begnügten, den Zweikampf gestattete. (Hénault, „Abrégé chronologique“.)

Ursprünglich hatten die Grundherren die höchste Gerichtsbarkeit. Gegen ihren Spruch gab es keine Berufung. Unter der Regierung Ludwigs des Dicken ward in Frankreich die oberste Gerichtsbarkeit der Könige eingeführt. Später sehen wir Karl IX. bestrebt, die Justiz zu reformieren und das Verfahren abzukürzen, wie aus der Verordnung von Moulins hervorgeht. (De Thou, Histoire universelle depuis 1543 jusqu'en 1607.) Bemerkenswert ist, daß so weise Gesetze in so unruhiger Zeit erlassen wurden. Aber wie der Präsident Henault sagt, wachte der Kanzler L'hôpital über das Wohl des Vaterlandes. Endlich ließ Ludwig XIV. alle Gesetze von Chlodwig bis auf seine Zeit sammeln. Diese Sammlung wurde der Codex Ludovicianus genannt.

Die Briten, die wie die Gallier von den Römern unterworfen wurden, erhielten gleichfalls die Gesetze ihrer Überwinder. Vor ihrer Unterjochung waren diese Völker von Druiden regiert worden, deren Lehren Gesetzeskraft hatten. (Rapin-Thoyras, Histoire d'Angleterre. Einleitung.) Die Familienhäupter hatten Recht über Leben und Tod ihrer Frauen und Kinder. Aller Verkehr mit dem Ausland war verboten. Die Kriegsgefangenen wurden ermordet und den Göttern geopfert.

Die Römer behaupteten ihre Macht und ihre Gesetze in Britannien bis zur Zeit des Honorius, der den Briten im Jahre 410 durch feierlichen Akt ihre Freiheit wiedergab. Nun griffen die Pikten, ein aus Mecklenburg stammendes Volt, sie im Verein mit den Schotten an. Die Briten, von den Römern nur schwach unterstützt und von ihren Feinden stets besiegt, wandten sich um Hilfe an die Sachsen. Diese unterjochten die ganze Insel nach hundertfünfzigjährigen Kriegen und wurden aus den Bundesgenossen der Briten zu ihren Herren.

Die Angelsachsen führten in Britannien die Gesetze ein, die ehedem in Deutschland bestanden. Sie teilten England in sieben Königreiche, deren jedes besonders regiert wurde. Sie hatten sämtlich allgemeine Versammlungen, die aus den Großen, dem Volk und den Bauern bestanden. (Sie hießen Vitena gernôt oder Rat der Weisen.) Dies Gemisch von monarchischer, aristokratischer und demokratischer Regierung hat sich bis auf die Gegenwart erhalten. Noch heute ist die höchste Gewalt zwischen dem König und den beiden Parlamentshäusern geteilt.

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Alfred der Große gab England die erste Gesetzsammlung. So mild diese Gesetze auch waren, der König war unerbittlich gegen die Beamten, die sich hatten bestechen lassen. Die Geschichte berichtet, er habe in einem Jahre vierundvierzig pflichtvergessene Richter hängen lassen. Nach dem Gesetzbuch Alfreds des Großen (890,Rapin-Thoyras) muß jeder Engländer, der eines Verbrechens angeklagt ist, von seinesgleichen gerichtet werden. Dies Vorrecht hat die Nation noch heute.

Eine neue Gestalt erhielt England, als Wilhelm, Herzog der Normandie, das Land eroberte (1066). Er setzte neue oberste Gerichtshöfe ein, deren einer, der des Erchequer, noch besieht. Diese Gerichtshöfe folgten dem König allenthalben. Er trennte die geistliche Gerichtsbarkeit von der weltlichen. Seine Gesetze waren in normannischer Sprache verfaßt. Das strengste richtete sich gegen das Wildern, auf das Verstümmelung, ja Tod stand.

Die Nachfolger Wilhelms des Eroberers gaben verschiedene Charters. Heinrich I., genannt Beauclerc, gestattete (II00) den Adligen, ihr Erbe ohne Erbschaftssteuer anzutreten. Ja er erlaubte dem Adel, ohne seine Einwilligung zu heiraten. Im Jahre 1136 erklärte König Stephan in einer Charter, seine Macht vom Volk und von der Geistlichkeit zu haben. Er bestätigte die Vorrechte der Kirche und schaffte die strengen Gesetze Wilhelms des Eroberers ab.

Dann gab Johann ohne Land seinen Untertanen die sogenannte Magna (Charta (1215), die aus 62 Artikeln besieht. (Rapin-Thoyras, Buch VIII.) Die Hauptartikel regeln das Lehnswesen und das Erbteil der Witwen. Verboten wird, die Witwen zu einer zweiten Ehe zu zwingen. Sie müssen sich aber durch Bürgschaft verpflichten, ohne Erlaubnis ihres Lehnsherrn nicht wieder zu heiraten. Die Magna Charta weist den Gerichtshöfen ständige Sitze an und verbietet dem Parlament die Erhebung von Auflagen ohne Zustimmung der Gemeinden, außer wenn der König loszukaufen, sein Sohn zum Ritter zu schlagen oder seine Tochter auszustatten ist. Sie verbietet irgend jemand ins Gefängnis zu werfen, ihn seiner Güter zu berauben oder hinzurichten, ohne daß seinesgleichen ihn nach den Landesgesetzen gerichtet haben. Auch verpflichtet sich der König, niemandem die Gerechtigkeit zu verkaufen noch zu verweigern.

Die Westminstergesetze, die Eduard I. erließ (1274), waren nur eine Erneuerung der Magna Charta, außer daß er den Kirchen und Klöstern den Erwerb von Gütern verbot und die Juden des Landes verwies.

England hat zwar viele weise Gesetze, aber sie werden vielleicht in keinem Lande Europas weniger befolgt. Wie Rapin-Thoyras sehr richtig bemerkt, hat die Reglerungsform den Fehler, daß die Königsgewalt im Parlament stets einen Gegner hat. Beide Teile beobachten einander, um ihre Autorität zu wahren oder zu erweitern. Das aber hindert sowohl den König wie die Volksvertretung, gehörig für die Aufrechterhaltung der Rechtspflege zu sorgen. Diese unruhige, stürmische Regierung ändert in einem fort die Gesetze durch Parlamentsakte, wie gerade die Umstände und Ereig<30>nisse es erfordern. Daraus folgt, daß England mehr als jeder andre Staat der Reform seiner Rechtsverhältnisse bedarf.

Wir haben nun noch ein paar Worte von Deutschlands sagen. Als die Römer unser Land eroberten, erhielten wir römisches Recht und behielten es auch, da die Kaiser Italien verließen und den Sitz ihres Reichs nach Deutschland verlegten. Trotzdem gibt es keinen Kreis, kein Fürstentum, so klein es auch sei, wo nicht irgend ein Gewohnheitsrecht herrschte. Diese Rechte haben mit der Zeit Gesetzeskraft erlangt.

Nachdem wir gezeigt haben, wie die Gesetze bei den meisten kultivierten Völkern zur Einführung gelangten, wollen wir noch bemerken, daß sie überall, wo sie unter Zustimmung der Bürger eingeführt wurden, von der Notwendigkeit diktiert worden sind. In den eroberten Ländern dagegen gaben die Sieger den Besiegten ihre Gesetze. Überall aber wurden sie in gleicher Weise nach und nach vermehrt. Erstaunt man auf den ersten Blick, daß die Völker nach so verschiedenen Gesetzen regiert werden können, so legt sich doch die Verwunderung, wenn man erkennt, daß die Gesetze dem Wesen nach einander fast gleichen: ich meine die Strafgesetze zum Schutz der Gesellschaft.

Untersuchen wir das Verfahren der weisesten Gesetzgeber, so sehen wir ferner, daß die Gesetze der Regierungsform und dem Geiste des Volkes, für das sie bestimmt sind, angepaßt sein müssen, daß die besten Gesetzgeber das Gemeinwohl im Auge hatten und daß im großen und ganzen, einige Ausnahmen abgerechnet, die Gesetze die besten sind, die der natürlichen Billigkeit am nächsten kommen.

Lykurg, der einem ehrgeizigen Volk vorstand, gab ihm Gesetze, die es eher zu Kriegern als zu Bürgern erzogen. Er verbannte das Gold aus seiner Republik, weil die Gewinnsucht von allen Lastern der Ruhmbegierde am stärksten entgegensieht.

Solon sagte selbst, er habe den Athenern nicht die vollkommensten Gesetze gegeben, sondern die besten, die sie vertragen könnten. (Plutarch, „Leben Solons“.) Er zog nicht nur den Geist des Volkes, sondern auch die Lage Athens am Meer in Betracht. Deshalb setzte er Strafen auf Müßiggang, ermunterte den Gewerbfieiß und verbot Gold und Silber nicht, weil er voraussah, daß sein Freistaat nur durch blühenden Handel groß und mächtig werden könnte.

Die Gesetze müssen zum Geiste der Nation passen oder man darf nicht auf ihre Dauer hoffen. Das römische Volk verlangte eine Demokratie und haßte alles, was diese Regierungsform ändern konnte. Daher entstand so mancher Aufruhr, um die Lex Agraria durchzusetzen; denn das Volk hoffte, durch die Verteilung des Grundbesitzes würde wieder eine Art von Gleichheit in den Wohlstand der Bürger gebracht werden. Daher auch die häufigen Aufstände wegen der Schuldentilgung; denn die Gläubiger, die römischen Patrizier, behandelten ihre Schuldner, die Plebejer, unmenschlich. Nichts aber macht den Unterschied der Stände verhaßter als Tyrannei, die die Reichen ungestraft gegen die Armen ausüben.

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In allen Ländern gibt es drei Arten von Gesetzen: erstens das Staatsrecht, das die Regierungsform bestimmt, zweitens das Strafrecht, das die Sitten betrifft und Verbrechen bestraft, drittens das Zivilrecht, das die Erbschaften, Vormundschaften, Zinsen und Kontrakte regelt.

Die Gesetzgeber der Monarchien sind gewöhnlich die Fürsien selbst. Sind ihre Gesetze mild und gerecht, so erhalten sie sich von selber, da jeder Bürger seinen Vorteil dabei findet. Sind sie aber hart und tyrannisch, so werden sie bald abgeschafft, weil man sie mit Gewalt aufrechterhalten muß und der Tyrann allein gegen ein ganzes Volk sieht, das nichts so sehr wünscht, als sie zu beseitigen.

In mehreren Republiken, wo die Gesetzgeber Bürger waren, hielten sich die Staatsgesetze nur dann, wenn sie ein richtiges Gleichgewicht zwischen der Macht der Regierung und der Freiheit der Bürger schufen.

Nur bei den Sittengesetzen befolgen die Gesetzgeber im allgemeinen den gleichen Grundsatz, jedoch mit der Ausnahme, daß sie gegen dies oder jenes Verbrechen bald mehr, bald weniger sireng sind, jedenfalls weil sie wissen, zu welchen Lastern ihr Volk am meisten neigt. Die Sittengesetze sind Dämme, die man dem Lasier entgegensetzt. Man muß ihnen also durch Furcht vor Strafe Respekt verschaffen. Aber es trifft doch zu, daß die Gesetzgeber, die am wenigsten harte Strafen verhängen, immerhin der Menschlichkeit ihren Tribut zollen.

Die bürgerlichen Gesetze zeigen die größte Mannigfaltigkeit. Bei ihrer Einführung fanden die Gesetzgeber gewisse, allgemein bestehende Gebräuche und wagten sie nicht abzuschaffen, um die Vorurteile des Volkes nicht zu verletzen. Sie ehrten das Herkommen, kraft dessen man sie für gut hielt, und ließen sie, auch wenn sie unbillig waren, lediglich ihres Alters wegen bestehen.

Wer sich die Mühe gibt, die Gesetze mit philosophischem Blick zu studieren, der wird jedenfalls viele finden, die der natürlichen Billigkeit auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Und doch ist das nicht der Fall. Ich begnüge mich mit einem Beispiel: dem Erstgeburtsrecht. Nichts scheint billiger, als die Hinterlassenschaft des Vaters gleichmäßig unter alle seine Kinder zu verteilen. Gleichwohl lehrt die Erfahrung, daß die reichsten Familien trotz des größten Besitzes mit der Zeit verarmen, wenn dieser in viele Teile zerfällt. Daher haben die Väter lieber ihre jüngeren Söhne enterbt, als ihre Familien dem sicheren Verfall geweiht. Ebenso sind Gesetze, die einigen Privatleuten hart und lästig erscheinen, doch nicht minder weise, sobald sie auf den Vorteil der Gesellschaft abzielen. Der Gesamtheit wird ein aufgeklärter Gesetzgeber stets die einzelnen aufopfern.

Die Schuldgesetzgebung erfordert zweifellos die meiste Vorsicht und Klugheit. Werden die Gläubiger begünstigt, so kommen die Schuldner in eine zu üble Lage, und ein unglücklicher Zufall kann ihre Wohlfahrt auf immer zugrunde richten. Sind hingegen die Schuldgesetze für diese vorteilhaft, so schädigen sie das öffentliche Vertrauen und heben die Verträge auf, die sich auf Ehrlichkeit gründen. Die rechte Mittelstraße<32> ergibt sich, wenn man zwar die Gültigkeit der Verträge aufrechterhält, aber die zahlungsunfähigen Schuldner nicht zu sehr drückt: das scheint mir in der Rechtspflege der Stein der Weisen. Indessen wollen wir auf diesen Gegenstand nicht weiter eingehen, da die Art unsres Aufsatzes keine größere Ausführlichkeit gestattet. Wir begnügen uns mit allgemeinen Betrachtungen.

Ein vollkommenes Gesetzbuch wäre das Meisterstück des menschlichen Verstandes im Bereiche der Regierungskunst. Man müßte darin Einheit des Planes und so genaue und abgemessene Bestimmungen finden, daß ein nach ihnen regierter Staat einem Uhrwerke gliche, in dem alle Triebfedern nur einen Zweck haben. Man fände darin ferner tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens und des Nationalcharakters. Die Strafen wären mäßig, sodaß sie die guten Sitten erhielten, ohne zu streng noch zu milde zu sein. Die einzelnen Bestimmungen müßten so klar und genau sein, daß jeder Streit um die Auslegung ausgeschlossen wäre. Sie würden in einer erlesenen Auswahl des Besten bestehen, was die bürgerlichen Gesetze ausgesprochen haben, und in einfacher und sinnreicher Weise den heimischen Gebräuchen angepaßt sein. Alles wäre vorausgesehen, alles in Einklang gebracht, nichts würde zu Unzuträglichkeiten führen. Aber das Vollkommene liegt außerhalb der menschlichen Sphäre.

Die Völker könnten schon zufrieden sein, wenn die Gesetzgeber die Gesinnungen jener FamUienhäupter teilten, die zuerst Gesetze gaben. Die liebten ihre Kinder, und die Vorschriften, die sie ihnen gaben, bezweckten nur das Wohl der Ihren.

Wenige, aber weise Gesetze machen ein Volk glücklich; viele verwirren das Recht. Wie ein guter Arzt seine Kranken nicht mit Arzneien überlädt, so soll auch ein geschickter Gesetzgeber das Volk nicht mit überflüssigen Gesetzen beschweren. Zu viele Arzneien schaden einander und heben sich in ihren Wirkungen gegenseitig auf. Zu viele Gesetze sind wie ein Labyrinth, in dem die Rechtsgelehrten und die Justiz sich verirren.

Bei den Römern entstanden zahlreiche Gesetze, als die Revolutionen häufig wurden. Jeder Ehrgeizige, der zur Macht gelangte, warf sich zum Gesetzgeber auf. Dieser Rechtswirrwarr dauerte, wie gesagt, bis zur Zeit des Augustus, der alle ungerechten Verordnungen aufhob und die alten Gesetze wieder in Kraft setzte.

In Frankreich vermehrten sich die Gesetze, als die Franken das Land eroberten und ihre Rechtsbräuche mitbrachten. Ludwig IX. wollte alle diese Gesetze vereinigen und, wie er selbst sagte, in seinem Reich ein Gesetz, ein Gewicht und ein Maß einführen.

An manchen Gesetzen hängen die Menschen bloß, well sie meist Gewohnheitstiere sind. Obwohl man bessere einführen könnte, wäre es vielleicht doch gefährlich, sie anzutasten. Die Verwirrung, die eine solche Reform in der Justiz anrichten würde, schadete vielleicht mehr, als die neuen Gesetze nützten. Immerhin gibt es Fälle, wo die Verbesserung ein Gebot der Notwendigkeit scheint, nämlich wenn die Gesetze dem öffentlichen Wohl und der natürlichen Billigkeit zuwiderlaufen, wenn sie in dunklen<uc_13><33> und unbestimmten Ausdrücken gefaßt sind und schließlich, wenn sie im Sinn oder Ausdruck Widersprüche enthalten. Auf diesen Punkt wollen wir etwas näher ein, gehen.

Die Gesetze des Osiris zum Beispiel gehören zur ersten Kategorie. Nach ihnen mußte, wer das Diebshandwerk ergreifen wollte, sich bei seinem Hauptmann einschreiben lassen und ihm alles Geraubte sofort abgeben. Die Bestohlenen gingen dann zu dem Hauptmann der Diebsbande, um ihr Eigentum zurückzufordern, und erhielten es auch, wenn sie den vierten Teil des Wertes erlegten. (Diodor.) Auf diese Weise glaubte der Gesetzgeber den Bürgern ein Mittel zu geben, um gegen geringen Tribut das Ihrige wiederzuerlangen. Aber das war ein Mittel, alle Ägypter zu Dieben zu machen. Daran dachte Osiris gewiß nicht, als er sein Gesetz gab. Man müßte denn behaupten, er habe den Diebstahl als ein nicht zu verhinderndes Übel angesehen, ebenso wie die Regierung in Amsterdam die Speelhuysen duldet und die in Rom privilegierte Freudenhäuser. Aber die guten Sitten und die öffentliche Sicherheit würden erfordern, daß man das Gesetz des Osiris abschaffte, wenn es unglücklicherweise irgendwo bestände.

Die Franzosen sind darin das Gegenteil der Ägypter. Wo diese zu milde waren, sind sie zu streng, ja von grausamer Härte, da sie alle Hausdiebe mit dem Tode bestrafen. Zu ihrer Rechtfertigung sagen sie, durch sirenge Bestrafung der Beutelschneider rotte man den Samen der Räuber und Mörder aus.

Die natürliche Billigkeit verlangt ein rechtes Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe. Diebstähle unter erschwerenden Umständen verdienen den Tod. Bei solchen, die keinen gewalttätigen Charakter besitzen, kann man Mitleid mit dem Täter haben. Zwischen dem Schicksal eines Reichen und eines Armen gähnt eine Kluft. Jener strotzt von Gütern und schwimmt im Überfluß. Dieser ist vom Glück verlassen und entbehrt selbst das Nötigste. Wenn nun ein Unglücklicher, um sein Leben zu fristen, ein paar Goldstücke, eine goldne Uhr oder ähnliche Kleinigkeiten einem Manne entwendet, der bei seinem Reichtum den Verlust garnicht merkt, muß dieser Unglückliche dafür mit dem Tode büßen? Ist es nicht ein Gebot der Menschlichkeit, eine so übertriebene Strafe zu mildern? Offenbar haben die Reichen jenes Gesetz gemacht. Hätten nun die Armen nicht das Recht, zu sagen: „Warum erbarmt man sich nicht unsres kläglichen Loses? Wäret ihr mitleidig und menschlich, so stündet ihr uns in unserm Elend bei, und wir würden euch nicht bestehlen. Sagt selbst: ist es wohl billig, daß alles Glück in der Welt nur für euch da ist und daß alles Unglück uns niederdrückt?“

Die preußische Gesetzgebung hat den rechten Mittelweg zwischen der Nachsicht der Ägypter und der Strenge der Franzosen gefunden. Sie bestraft einfachen Diebstahl nicht mit dem Tode und begnügt sich, den Schuldigen für einige Zeit ins Gefängnis zu setzen. Vielleicht aber wäre es noch besser, das jüdische Vergeltungsrecht33-1 wieder ein<34>zuführen, wonach der Dieb dem Bestohlenen den doppelten Wert des Geraubten ersetzen oder sich ihm als Leibeigner übergeben mußte. Begnügt man sich, leichte Vergehen mit gelinden Strafen zu belegen, so bleibt die Todesstrafe für Räuber, Mörder und Totschläger aufgespart, und die Strafen stehen im Verhältnis zum Verbrechen.

Kein Gesetz empört die Menschlichkeit mehr als das Recht über Leben und Tod, das die Väter in Sparta und Rom über ihre Kinder hatten. In Griechenland brachte ein Vater, der zu arm war, um die Bedürfnisse einer zahlreichen Familie zu bestreiten, die Überzahl seiner Kinder ums Leben. Kam in Rom und Sparta ein mißgestaltetes Kind zur Welt, so war der Vater berechtigt, es zu töten. Wir empfinden die ganze Barbarei dieser Gesetze, weil sie nicht die unseren sind. Aber sehen wir doch einmal zu, ob es bei uns nicht ebenso ungerechte Gesetze gibt.

Wird das Abtreiben der Leibesfrucht bei uns nicht sehr hart bestraft? Gott verhüte, daß ich die Greuel jener Medeen entschuldige, die grausam gegen sich selbst und taub gegen die Stimme des eignen Blutes, das künftige Geschlecht ersticken, noch ehe es — wenn ich so sagen darf — das Licht der Welt erblicken durfte! Aber der Leser streife einmal alle hergebrachten Vorurteile ab und schenke den folgenden Betrachtungen einige Aufmerksamkeit.

Ist durch die Gesetze nicht eine Art von Schande mit der heimlichen Niederkunft verknüpft? Kommt ein Mädchen von zu zärtlichem Gemüt, das sich durch die Schwüre eines Wüstlings hat verführen lassen, infolge ihrer Leichtgläubigkeit nicht in die Notlage, zwischen dem Verlust ihrer Ehre und ihrer unglücklichen Leibesfrucht zu wählen? Ist es nicht Schuld der Gesetze, daß sie in eine so grausame Lage gerät? Und raubt die Strenge der Richter dem Staate nicht zwei Untertanen zugleich: die abgetriebene Frucht und die Mutter, die den Verlust durch eheliche Geburten reichlich wettmachen könnte? Hierauf erwidert man: es gibt ja Findelhäuser. Ich weiß wohl, daß sie einer Unmenge unehelicher Kinder das Leben retten. Aber wäre es nicht besser, das Übel mit der Wurzel auszurotten und so viele arme Geschöpfe, die jetzt elend umkommen, zu erhalten, indem man die Folgen einer unvorsichtigen und flatterhaften Liebe nicht mehr mit Schande bedeckt34-1?

Aber nichts ist grausamer als die Folter. Die Römer beschränkten sie auf ihre Sklaven, die sie als eine Art von Haustieren betrachteten. Nie durfte ein freier Bürger gefoltert werden. (Cicero, „Pro Cluentio“.) In Deutschland foltert man nur überführte Missetäter, damit sie ihr Verbrechen selbst bekennen. In Frankreich geschieht es zur Feststellung der Tat oder zur Entdeckung Mitschuldiger. Die Engländer hatten in früheren Zeiten das Ordal oder die Feuer- und Wasserprobe34-2. Jetzt haben<35> sie eine Art von Folter, die weniger hart ist als die gewöhnliche, aber doch fast auf das gleiche hinausläuft.

Man verzeihe mir, wenn ich mich gegen die Folter ereifre. Ich wage die Partei der Menschlichkeit gegen einen Brauch zu nehmen, der für christliche und kultivierte Völker entehrend, ja, ich setze dreist hinzu, ebenso unnütz wie grausam ist. Quintilian, der weiseste und beredteste Rhetor, sagt von der Folter, es komme dabei ganz auf die Leibesbeschaffenheit an. (Buch V, „Über Beweise und Verteidigung.“) Ein robuster Bösewicht leugnet sein Verbrechen. Ein Unschuldiger von schwächlichem Körper bekennt etwas, das er nicht getan hat. Jemand wird angeklagt. Indizien sind vorhanden. Der Richter ist ungewiß und will sich Klarheit verschaffen. Der Unglückliche wird gefoltert. Ist er unschuldig — welche Barbarei, ihn solche Martern erleiden zu lassen! Zwingt ihn die Starke der Qual zum Zeugnis gegen sich selbst —welche schreckliche Unmenschlichkeit ist es dann, einen tugendhaften Bürger auf bloßen Verdacht hin nicht nur den grausamsten Schmerzen auszusetzen, sondern ihn auch noch zum Tode zu verurteilen! Es ist besser, zwanzig Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen aufzuopfern! Sollen die Gesetze zum Wohle des Volkes da sein — wie darf man dann solche dulden, die den Richter in die Lage bringen, methodisch Handlungen zu begehen, die zum Himmel schreien und die Menschlichkeit empören? In Preußen ist die Folter seit acht Jahren abgeschafft35-1. Man ist nun sicher, Unschuldige und Schuldige nicht zu verwechseln, und die Rechtspflege geht nichtsdestoweniger ihren Gang.

Betrachten wir nun die unklaren Gesetze und die verbesserungsbedürftigen Arten des gerichtlichen Verfahrens. In England bestand ein Gesetz gegen die Bigamie. Ein Mann wurde angeklagt, er habe fünf Frauen. Da das Gesetz über diesen Fall nichts bestimmte und man es buchstäblich auslegte, so ward das Verfahren eingestellt. Um klar und deutlich zu sein, hätte das Gesetz lauten müssen: „Wer mehr als eine Frau nimmt, soll bestraft werden.“ Die unklaren Gesetze in England und ihre buch, stäbliche Auslegung haben zu den lächerlichsten Mißbräuchen geführt. So erzählt Muralt35-2: Jemand schnitt seinem Feinde die Nase ab. Er sollte wegen Verstümmelung des Gliedes eines Bürgers bestraft werden, behauptete aber, was er abgeschnitten<36> habe, sei kein Glied. Nun setzte das Parlament fest, die Nase sei künftig als Glied zu betrachten.

Deutliche Gesetze geben keine Gelegenheit zu Rechtsverdrehungen und müssen buchstäblich vollstreckt werden. Sind sie aber unbestimmt oder dunkel, so muß man die Absicht des Gesetzgebers ergründen, und statt über Tatsachen zu richten, beschäftigt man sich mit ihrer Auslegung. Gewöhnlich nährt sich die Schikane nur von Erbschaftssachen und Verträgen. Darum müssen die Gesetze hierüber die größte Deutlichkeit haben. Grübelt man schon bei belanglosen Schreibereien über den Ausdruck nach, um wieviel mehr muß man ihn bei einem Gesetze gewissenhaft abwägen.

Die Richter haben zwei Fallstricke zu befürchten: Bestechung und Irrtum. Vor dem ersten muß sie ihr Gewissen schützen, vor dem zweiten der Gesetzgeber. Deutliche Gesetze, die keine verschiedene Auslegung zulassen, sind das erste Hilfsmittel dagegen, Begrenzung der Verteidigungsreden das zweite. Man kann die Reden der Verteidiger auf Darlegung des Tatbestandes, Unterstützung durch einige Beweise und ein Nach, wort oder eine kurze Zusammenfassung beschränken. Nichts wirkt stärker als der Vor, trag eines beredten Mannes, der die Leidenschaften aufzustacheln weiß. Der Ver, leidiger bestrickt den Geist der Richter, erregt ihre Teilnahme und ihr Gefühl, reißt sie hin, und das Blendwerk des Mitgefühls verdunkelt die Wahrheit. Sowohl Lykurg wie Solon verboten den Advokaten diese Art von Überredung. Wir finden zwar der, gleichen in den „Philippiken“ von Demosihenes oder in der Rede „Über die Krone“ von Aschines, aber diese Reden wurden nicht vor dem Areopag, sondern vor dem Volte gehalten, und die erstgenannten Reden gehörten eher zu der beratenden, die zweite mehr zur belehrenden Gattung als zur forensischen Beredsamkeit.

Die Römer hielten es mit den Reden ihrer Advokaten nicht so genau. Es gibt keine Rede Ciceros, die nicht voller Leidenschaft wäre. Es tut mir leid um ihn, aber aus seiner Rede für Cluentius ersehen wir, daß er vorher die Gegenpartei verteidigt hatte. Die Sache des Cluentius scheint nicht ganz einwandfrei, aber die Kunst des Redners gewann sie. Ciceros Meisterstück ist jedenfalls der Schluß der Rede für Fontejus. Dank ihm ward er freigesprochen, obwohl er schuldig scheint. Welcher Mißbrauch der Beredsamkeit, wenn man ihren Zauber benutzt, um die weisesten Gesetze zu entkräften!

In Preußen hat man das Vorbild Griechenlands befolgt. Aus unsern Verteidigungsreden sind die gefährlichen Kunstgriffe der Beredsamkeit verbannt. Das verdanken wir der Weisheit des Großkanzlers Cocceji36-1. Durch seine Rechtschaffenheit, seine Einsicht und seinen unermüdlichen Fleiß hätte er der griechischen und römischen Republik zu der Zeit, wo sie an großen Männern am fruchtbarsten waren, zur Ehre gereicht.

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Zur Dunkelheit der Gesetze gehört noch eins, nämlich das ganze Gerichtsverfahren und die vielen Instanzen, die die Parteien durchmachen müssen, bis ihr Prozeß ein Ende findet. Mögen schlechte Gesetze ihnen Unrecht tun oder rabulistische Advokaten ihr Recht verdrehen oder lange Formalitäten den Kern der Sache verdunkeln und sie um ihren rechtmäßigen Vorteil bringen — es läuft alles auf das gleiche hinaus. Ist auch ein Übel größer als das andere, so erfordern doch alle Mißbräuche Besserung. Das Hinausziehen der Prozesse gibt den Wohlhabenden einen beträchtlichen VorteU über die Armen. Indem sie Mittel und Wege finden, den Prozeß von einer Instanz zur andren zu schleppen, setzen sie ihren Gegner matt und richten ihn zugrunde, sodaß sie schließlich allein auf dem Kampfplatze bleiben.

Früher währten die Prozesse bei uns über hundert Jahre. War eine Sache auch schon von fünf Gerichten entschieden, so appellierte die Gegenpartei der Justiz zum Trotz an die Universitäten, und die Rechtslehrer änderten die gefällten Urteile nach ihrem Gutdünken ab. Nun aber mußte eine Partei schon sehr viel Pech haben, wenn sie bei fünf Gerichtshöfen und Gott weiß wieviel Universitäten keine feile und bestechliche Seele fand. Diese Mißbräuche sind jetzt abgeschafft. Die Prozesse kommen bei der dritten Instanz endgültig zum Austrag, und die Richter müssen auch die strittigsten Sachen innerhalb eines Jahres erledigen.

Wir haben nun noch einige Worte über die Gesetze zu sagen, die im Sinn oder im Ausdruck Widersprüche enthalten. Sind die Gesetze eines Staates nicht kodifiziert, so müssen sich einige notwendig widersprechen. Da sie von verschiedenen Gesetzgebern stammen und nicht nach dem gleichen Plane entstanden sind, so fehlt ihnen die bei allen wichtigen Dingen so notwendige Einheit. Davon handelt Quintilian in seiner Schrift vom Redner (Buch VII, Kap. 7). Auch in Ciceros Reden sehen wir, daß er oft ein Gesetz einem andren entgegenstellt. Ebenso finden wir in der französischen Geschichte bald Edikte für die Hugenotten, bald gegen sie37-1. Solche Verordnungen zusammenzutragen ist um so notwendiger, als die Majestät der Gesetze, von denen man doch stets annimmt, daß sie mit Weisheit gegeben sind, durch nichts mehr herabgewürdigt wird als durch offenbare und handgreifliche Widersprüche.

Die Verordnung gegen die Duelle37-2 ist sehr gerecht, sehr billig und sehr richtig abgefaßt, führt aber nicht zu dem Ziel, das die Fürsten sich bei deren Veröffentlichung setzten. Vorurteile, die älter sind als diese Verordnung, setzen sich dreist darüber hinweg, und das von falschen Begriffen erfüllte Publikum scheint stillschweigend übereingekommen zu sein, ihr nicht zu gehorchen. Ein mißverstandenes, aber allgemein verbreitetes Ehrgefühl bietet der Macht der Fürsten Trotz, und sie können das Gesetz nur mit einer gewissen Grausamkeit aufrecht erhalten. Wer immer das Unglück hat, von einem<38> Rüpel beleidigt zu werden, gilt in der ganzen Welt für feig, wenn er den Schimpf nicht mit dem Tode des Beleidigers rächt. Stößt dergleichen einem Manne von Stand zu, so betrachtet man ihn als seines Adels unwürdig. Ist er Soldat und endigt seine Sache nicht durch ein Duell, so jagt man ihn mit Schimpf und Schande aus dem Offizierkorps, und er findet in ganz Europa nicht wieder Dienste. Was soll also ein Mann in einer so kritischen Lage tun? Soll er sich entehren, indem er dem Gesetz gehorcht, oder soll er nicht lieber Leben und Glück aufs Spiel setzen, um seinen guten Ruf zu retten?

Die Schwierigkeit besieht darin, ein Mittel zu finden, das die Ehre des Privatmannes wahrt und das Gesetz in voller Kraft aufrechterhält. Die Macht der größten Herrscher hat gegen diese barbarische Mode nichts vermocht. Ludwig XIV., Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. erließen strenge Edikte gegen das Duell, bewirkten damit aber nichts, als daß die Sache einen andren Namen bekam. Die Duelle wurden als Rencontres ausgegeben und viele im Zweikampf gefallene Edelleute als plötzlich gestorben begraben.

Wenn nicht alle Fürsten Europas einen Kongreß veranstalten und übereinkommen, die mit Schande zu belegen, die sich trotz ihrer Verbote im Zweikampf umzubringen suchen, wenn sie, sage ich, sich nicht zusammentun, um dieser Art von Mördern jede Freistätte zu verweigern und alle, die ihre Nächsten in Wort, Schrift oder Tat beleidigen, streng zu bestrafen, so werden die Duelle nie aufhören.

Man wende mir nicht ein, ich hätte wohl die Träumereien des Abbe St. Pierre geerbt38-1. Ich sehe nichts Unmögliches darin, daß Privatleute ihre Ehrensachen der richterlichen Entscheidung ebenso unterwerfen wie ihre Vermögensstreitigkeiten. Und warum sollten die Fürsten keinen Kongreß zum Besten der Menschheit veranstalten, da sie so viele fruchtlose Kongresse über Dinge von geringerer Bedeutung berufen haben? Ich wiederhole es und behaupte dreist: dies ist das einzige Mittel zur Abschaffung des mißverstandenen Ehrgefühls in Europa, das so vielen Ehrenmännern das Leben gekostet hat, von denen das Vaterland die größten Dienste erwarten konnte.

Dies sind in Kürze die Betrachtungen, zu denen die Gesetze mich veranlassen. Ich habe mich auf eine Skizze anstatt eines Gemäldes beschränkt und fürchte, schon zuviel gesagt zu haben. Zum Schluß noch eine Bemerkung. Mir scheint, die kaum der Barbarei entwachsenen Völker brauchen sirenge Gesetzgeber, kultivierte Völker dagegen mit sanfteren Sitten haben milde Gesetzgeber nötig.

Wer sich alle Menschen als Teufel vorstellt und grausam gegen sie wütet, der sieht sie mit den Augen eines wilden Menschenfeindes. Wer alle Menschen für Engel hält und ihnen die Zügel schießen läßt, der träumt wie ein schwachsinniger Kapuziner. Wer<39> aber glaubt, daß weder alle gut noch alle böse sind, wer gute Handlungen über Verdienst belohnt und schlechte milder bestraft, als ihnen gebührt, wer Nachsicht mit den Schwächen hat und menschlich gegen jedermann ist, der handelt, wie ein vernünftiger Mann handeln muß.

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Vorrede zum Auszug aus dem historisch-kritischen Wörterbuch von Bayle (1764)40-1

Der dem Publikum hier vorgelegte Auszug aus Bayles Wörterbuch findet hoffentlich Anklang. Besonders hat man darauf gesehen, die philosophischen Artikel dieses Wörterbuches zusammenzustellen, in denen Bayle äußerst glücklich war. Trotz den Vorurteilen der Schulweisheit und der Eigenliebe der zeitgenössischen Schriftsieller wagen wir dreist die Behauptung: Bayle hat durch die Kraft seiner Logik alles übertroffen, was die Alten und Neueren in diesem Fache geleistet haben. Man vergleiche seine Werke mit den uns überkommenen Schriften Ciceros „Über die Natur der Götter“ und mit den „Tuskulanen“. Bei dem römischen Redner findet man zwar den gleichen Skeptizismus, mehr Beredsamkeit, einen korrekteren und eleganteren Stil. Dafür zeichnet sich Bayle, obwohl er wenig von Mathematik verstand, durch mathematischen Sinn aus. Seine Beweisführung ist bündiger, schärfer. Er geht gerade auf die Sache los und hält sich nicht mit Plänkeleien auf, wie es Cicero in den genannten Werken bisweilen tut. Auch im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, Descartes, Leibniz,die freilich schöpferische Geister waren, oder mit Malebranche40-2, erscheint er, wie wir zu behaupten wagen, als der Größere. Nicht als hätte er neue Wahrheiten entdeckt, sondern weil er stets der exakten logischen Methode treu geblieben ist und die Folgerungen aus seinen Prinzipien am besten entwickelt hat. Er war so klug, sich nie durch ein System festzulegen, wie jene berühmten Männer. Descartes und Malebranche nahmen bei ihrer starken und regen Einbildungskraft die bloßen Fiktionen ihres Geistes bisweilen für bare Wahrheiten. Der eine schuf sich eine Welt, die nicht die wirkliche ist. Der andre verlor sich in Spitzfindigkeiten, verwechselte die Geschöpfe mit dem Schöpfer und machte den Menschen zum Automaten, der durch den höchsten Willen in Bewegung gesetzt wird. Auch Leibniz geriet auf ähnliche Abwege, wenn anders man nicht annehmen will, er habe sein Monadensystem und die prästabilierte Harmonie nur zum Zeitvertreib erfunden und um den Metaphysikern Stoff zum Dis<41>putieren und Streiten zu geben41-1. Bayle hat alle philosophischen Träume der Alten und Neueren mit scharfem und strengem Geiste geprüft und, wie Bellerophon in der Sage, die Chimäre vernichtet, die dem Hirn der Denker entsprang. Er hat nie die weise Lehre vergessen, die Aristoteles seinen Schülern einprägte: „Der Zweifel ist der Vater aller Weisheit.“ Er hat nie gesagt: „Ich will beweisen, daß dies oder jenes wahr oder falsch ist.“ Stets sieht man ihn getreulich dem Wege folgen, den Analyse und Synthese ihm weisen.

Sein Wörterbuch, dies schätzbare Denkmal unsres Zeitalters, war bisher in großen Bibliotheken vergraben. Der hohe Preis verbot den Gelehrten und den wenig begüterten Liebhabern der Wissenschaft seine Anschaffung. Wir nehmen diese Medaille aus ihrem Kabinett und prägen sie zu gangbarer Münze um. Ein Unbekannter veröffentlichte vor einigen Jahren einen „Esprit de Bayle“. Ihm scheint der Plan, den wir heute ausführen, vorgeschwebt zu haben, nur mit dem Unterschiede, daß er nicht alle philosophischen Artikel vereinigt und mehrere geschichtliche in seine Sammlung aufgenommen hat. In der vorliegenden Auswahl ist alles Geschichtliche fortgelassen, well Bayle sich in einigen Anekdoten und Tatsachen irrte, die er auf das Zeugnis schlechter Gewährsmänner hin erzählte, und weil man Geschichte ganz gewiß nicht in Wörterbüchern studieren soll.

Der Hauptzweck dieses Auszuges ist die allgemeinere Verbreitung von Bayles bewundernswerter Logik. Er ist ein Brevier des gesunden Menschenverstandes und die nützlichste Lektüre für Personen jedes Ranges und Standes. Denn es gibt für den Menschen kein wichtigeres Studium als die Bildung seiner Urteilskraft. Wir berufen uns auf alle, die etwas Weltkenntnis besitzen. Sie werden oft bemerkt haben, welche nichtigen und unzulänglichen Gründe das Motiv zu den wichtigsten Handlungen bilden.

Wir sind nicht so einfältig, zu wähnen, man brauche nur Bayle gelesen zu haben, um richtig zu denken. Wie billig, unterscheiden wir die Gaben, die die Natur den Menschen geschenkt oder versagt hat, von dem, was die Kunst an ihnen vervollkommnen kann. Aber ist es nicht schon etwas wert, wenn man den guten Köpfen Hilfsmittel liefert, die unmäßige Neugier der Jugend zügelt und den Dünkel der hochmütigen Leute demütigt, die so leicht dazu neigen, Systeme zu zimmern? Welcher Leser sagt, wenn er die Widerlegung der Systeme des Zeno und Epikur liest, nicht zu sich selbst: „Wie? Die größten Philosophen des Altertums, die zahlreichsten Sekten waren dem Irrtum unterworfen? Um wieviel mehr bin ich also in Gefahr, mich oft zu täuschen! Wie? Ein Bayle, der sein ganzes Leben lang mit philosophischen Disputen zugebracht hat, zog, aus Furcht, sich zu irren, so vorsichtig seine Schlüsse? Um wieviel mehr muß ich also mich hüten, voreilig zu urteilen!“ Nachdem man die Widerlegung so vieler menschlicher Meinungen gesehen hat — wie sollte man da nicht<42> überzeugt werden, daß die metaphysische Wahrheit fast stets jenseits der Grenzen unsrer Vernunft liegt? Man treibe seinen wilden Renner in diese Laufbahn — er wird bald von unüberschreitbaren Abgründen gehemmt. Solche Hindernisse offenbaren uns die Schwäche unsres Geistes und stoßen uns weise Scheu ein. Das ist der größte Nutzen, den man sich von der Lektüre dieses Buches versprechen kann.

Aber wozu, wird man sagen, soll ich meine Zeit mit dem Suchen nach Wahrheit vergeuden, wenn sie doch über unsren Horizont geht? Auf diesen Einwand antworte ich: es ist eines denkenden Wesens würdig, sich wenigstens anzustrengen, ihr näherzukommen. Und wenn man sich ernstlich darum bemüht, hat man zum mindesten den Gewinn, einer Unzahl von Irrtümern ledig zu werden. Trägt euer Acker auch nicht viele Früchte, so trägt er doch wenigstens keine Dornen mehr und ist zum Anbau geeigneter. Ihr werdet den Spitzfindigkeiten der Logiker weniger trauen und unvermerkt etwas von Bayles Geist bekommen. Ihr werdet beim ersten Blick die schwache Seite einer Beweisführung entdecken und auf den dunklen Pfaden der Metaphysik fortan weniger Gefahr laufen.

Sicherlich wird mancher im Publikum anders denken als wir und sich wundern, daß wir Bayles Schriften so vielen Werken über Logik vorziehen, die den Markt überschwemmen. Die Antwort ist leicht. Die Anfangsgründe der Wissenschaften sind von einer gewissen Trockenheit, die sich aber verliert, wenn sie von einem geschickten Meister behandelt werden.

Da unser Gegenstand uns auf diesen Punkt führt, so ist es vielleicht nicht unangebracht, wenn wir der Jugend einen Fingerzeig geben, welchen verschiedenen Gebrauch Redner und Philosophen von der Logik machen. Ihr Ziel ist völlig verschieden. Der Redner begnügt sich mit Wahrscheinlichkeit, der PHUosoph verwirft alles, was nicht Wahrheit ist. Vor Gericht bietet der Redner, der seine Klienten zu verteidigen hat, alles auf, um sie zu retten. Er macht den Richtern etwas vor, gibt den Dingen andre Namen. Lasier sind ihm nur Schwächen und Vergehen beinahe Tugenden. Er beschönigt und bemäntelt die Nachteile seiner Sache, und reicht das noch nicht aus, so nimmt er die Leidenschaften zu Hilfe und wendet alle Macht der Beredsamkeit an, um sie aufzustacheln. Die Kanzelberedsamkeit hat zwar Ernsteres zum Gegenstand als die gerichtliche, aber ihre Methode ist die gleiche. Fromme Seelen seufzen darum oft genug über die wenig scharfsinnige Wahl der Beweise, die der Redner — jedenfalls aus Mangel an Urteilskraft — vorbringt. Leider gibt er dadurch den streitsüchtigen und spitzfindigen Geistern gewonnenes Spiel, die sich nicht mit schwacher Beweisführung und prunkhaften Worten abspeisen lassen.

Solches Wortgeklingel, solche Spitzfindigkeiten, solche seichten Begründungen — nichts von alledem wird in der strengen, exakten Beweisführung der guten Philosophen geduldet. Sie wollen nur durch Evidenz und Wahrheit überzeugen. Sie prüfen ein System mit gerechtem, unparteiischem Geiste, führen alle Beweise zu seinen Gunsten an, ohne sie zu beschönigen oder abzuschwächen, erschöpfen alle Gründe, die<43> dafür sprechen, und bekämpfen es danach mit gleichem Nachdruck. Zuletzt fassen sie alle Wahrscheinlichkeiten dafür und dagegen zusammen, und da bei diesen Fragen selten völlige Evidenz erzielt wird, so lassen sie die Entscheidung in der Schwebe, um kein unbesonnenes Urteil zu fällen.

Ist der Mensch, wie die Schulweisheit behauptet, ein vernunftbegabtes Wesen, so müssen die Philosophen mehr Menschen sein als andre. Darum hat man sie auch stets als Lehrer des Menschengeschlechts betrachtet, und ihre Werke, der Katechismus der Vernunft, können sich zum Nutzen der Menschheit nie genug verbreiten.

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Die Eigenliebe als Moralprinzip (1770)44-1

Jugend ist das festeste Band der Gesellschaft und die Quelle der öffentlichen Ruhe. Ohne sie wären die Menschen den wilden Tieren gleich, blutdürstiger als Löwen, grausamer und tückischer als Tiger, oder Ungeheuer, deren Umgang man meiden müßte.

Um die rohen Sitten zu mildern, schufen Gesetzgeber Gesetze, lehrten Weise die Moral, zeigten die Vorteile der Tugend und bewiesen so ihren Wert.

Die philosophischen Schulen des Orients und der Griechen stimmten über das Wesen der Tugend im großen und ganzen überein. Sie unterschieden sich eigentlich nur durch die Wahl der Motive, mit denen sie ihre Schüler zu tugendhaftem Wandel bestimmten. Die Stoiker betonten, ihren Grundsätzen gemäß, die der Tugend innewohnende Schönheit. Daraus schlossen sie, man müsse die Tugend um ihrer selbst willen lieben, und sahen das höchste menschliche Glück im unveränderlichen Besitz der Tugend. Die Platoniker sagten, man nähere sich den unsterblichen Göttern und werde ihnen ähnlich, wenn man nach ihrem Vorbild die Tugend übe. Die Epikuräer schrieben der Erfüllung der sittlichen Pflichten ein höchstes Lustgefühl zu. Wenn man ihre Grundsätze richtig versieht, so fanden sie im Genusse der reinsten Tugend unaussprechliche Glückseligkeit und Wonne. Moses kündigte seinen Juden, um sie zu guten und löblichen Handlungen anzuspornen, zeitlichen Lohn und zeitliche Strafen an. Die christliche Religion, die sich auf den Trümmern des Judentums erhob, schlug die Lasier durch ewige Strafen nieder und ermunterte die Tugend durch Verheißung ewiger Seligkeit. Mit diesen Triebfedern noch nicht zufrieden, wollte sie den größtmöglichen Grad von Vollkommenheit erreichen, indem sie behauptete: allein die Liebe zu Gott solle die Menschen zu guten Handlungen treiben, auch wenn sie in einem andren Leben weder Lohn noch Strafe zu erwarten hätten.

Unstreitig haben die philosophischen Schulen Männer von größtem Verdienst hervorgebracht, und ebenso sind aus dem Schoße des Christentums reine, wahrhaft heilige Seelen hervorgegangen. Trotzdem sind die Philosophen und Theologen erschlafft, und durch die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist es soweit gekommen,<45> daß die verschiedenen Beweggründe zur Tugend nicht mehr die guten Wirkungen hervorrufen, die man erwarten sollte. Wie viele Heiden waren nur dem Namen nach Philosophen! Man braucht nur bei Lucian zu lesen, in wie schlechtem Rufe die Philosophen zu seiner Zeit standen. Wie viele Christen arteten aus und verderbten die alte Sittenreinheit! Habgier, Ehrgeiz und Fanatismus erfüllten die Herzen derer, die der Welt zu entsagen gelobt hatten, und untergruben das, was die schlichte Tugend begründet hatte. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Mit Ausnahme von einigen frommen, aber für die Gesellschaft unnützen Klausnern geben die heutigen Christen den Römern zur Zeit des Marius und Sulla nichts nach. Wohlgemerkt beschränke ich mich bei diesem Vergleich nur auf die Sitten.

Diese und ähnliche Betrachtungen haben mich veranlaßt, den Ursachen nachzuspüren, die eine so seltsame Verderbnis des Menschengeschlechts herbeigeführt haben. Ich weiß zwar nicht recht, ob ich meine Mutmaßungen über eine so schwerwiegende Frage äußern darf. Es scheint mir jedoch, als hätte man vielleicht eine falsche Wahl der Beweggründe getroffen, die die Menschen zur Tugend antreiben sollen. Diese Beweggründe haben nach meiner Ansicht den Mangel, daß sie der großen Masse nicht faßlich sind.

Die Stoiker bedachten nicht, daß die Bewunderung ein erzwungenes Gefühl ist, dessen Eindruck sich schnell verwischt, und dem die Eigenliebe sich nur widerwillig fügt. Daß die Tugend schön sei, gesieht man leicht zu, well dies Geständnis nichts kostet. Da wir es aber mehr aus Gefälligkeit als aus Überzeugung ablegen, so bestimmt es uns nicht zur eignen Besserung, zur Bezwingung unsrer schlechten Neigungen, zur Bezähmung unsrer Leidenschaften.

Die Platoniker hätten an die unermeßliche Kluft zwischen dem höchsten Wesen und dem gebrechlichen Geschöpf denken sollen. Wie tonnten sie diesem Geschöpf zumuten, seinen Schöpfer nachzuahmen, von dem es sich bei seinem beschränkten und begrenzten Verstande nur eine unbestimmte, schwankende Vorstellung bilden konnte? Unser Geist ist der Herrschaft der Sinne unterworfen. Unser Verstand befaßt sich nur mit Dingen, bei denen die Erfahrung uns erleuchtet. Ihm abstrakte Gegenstände vorlegen, heißt ihn in ein Labyrinth führen, aus dem er nie herausfinden wird. Stellt man ihm aber greifbare Gegenstände vor Augen, so kann man ihm Eindruck machen und ihn überzeugen. Nur wenige große Geister vermögen den gesunden Verstand zu bewahren, wenn sie in die Finsternisse der Metaphysik eindringen. Der Mensch ist im allgemeinen mehr sinnlich als vernünftig veranlagt.

Die Epikuräer wiederum mißbrauchten den Begriff der Lust und schwächten dadurch unbewußt das Gute ihrer Grundsätze. Durch dies zweideutige Wort gaben sie ihren Schülern Waffen zur Entstellung ihrer Lehre in die Hand.

Die christliche Religion — ich verehre das Göttliche, das man ihr zuschreibt, und rede hier bloß als Philosoph — bot dem Verstand nur abstrakte Begriffe. Um sie ihm begreiflich zu machen, hätte man also jeden Katechumenen zum Metaphysiker<46> verwandeln müssen und nur solche auswählen dürfen, deren Einbildungskraft stark genug war, um in dies Gebiet einzudringen. Aber nur der Geist Weniger ist dazu imstande. Wie die Erfahrung lehrt, hat das Gegenwärtige, Sinnfällige bei der großen Masse das Übergewicht über das Fernliegende, nur schwächer Wirkende. Darum wird sie die irdischen Güter, deren Genuß sie mit Händen greift, stets den imaginären Gütern vorziehen, deren Besitz sie sich nur undeutlich und in weiter Ferne vorstellt.

Aber was sollen wir erst von dem Motiv der Liebe zu Gott sagen, das die Menschen zur Tugend anspornen soll? Jener Liebe, die nach der Forderung der Quietisten von Höllenfurcht und Paradieseshoffnung frei sein soll? Ist eine derartige Liebe wohl möglich? Das Endliche kann das Unendliche nicht begreifen. Folglich können wir uns keine genaue Vorstellung von der Gottheit machen, sondern uns nur allgemein von ihrem Dasein überzeugen. Und das ist alles. Wie kann man da von einer schlichten Seele verlangen, ein Wesen zu lieben, das sie garnicht zu erkennen vermag? Begnügen wir uns also damit, es im stillen anzubeten, und beschränken wir unsre Herzensregungen auf das Gefühl tiefer Dankbarkeit gegen das höchste Wesen, in dem und durch das alles existiert.

Je mehr man diesen Gegenstand untersucht und erörtert, desto klarer wird es, daß man ein allgemeineres und einfacheres Prinzip anwenden muß, um die Menschen zur Tugend zu bewegen. Wer sich in das Studium des Menschenherzens vertieft hat, wird gewiß schon die Triebfeder entdeckt haben, die man in Tätigkeit setzen muß. Diese mächtige Triebfeder ist die Eigenliebe, die Wächterin unsrer Selbsterhaltung, die Schöpferin unsres Glücks, die unversiegliche Quelle unsrer Tugenden und Laster, der verborgene Grund alles menschlichen Tuns und Lassens. Sie findet sich bei Menschen von Geist in hervorragendem Grade und klärt noch den Stumpfsinnigsten über seinen Vorteil auf. Was ist nun schöner und bewundernswerter als ein Prinzip, das zum Lasier führen kann, just zur Quelle des Guten, des Glücks und der öffentlichen Wohlfahrt zu machen? Das aber würde geschehen, wenn ein geschickter Philosoph den Gegenstand in die Hand nähme. Er würde der Eigenliebe Grenzen ziehen, sie zum Guten lenken, eine Leidenschaft gegen die andre setzen und die Menschen durch den Nachweis, daß die Tugend ihr eigner VorteU ist, wirklich tugendhaft machen.

Larochefoucauld46-1 hat in seinen Untersuchungen über das menschliche Herz die Triebfeder der Eigenliebe sehr glücklich aufgedeckt, aber leider nur, um unsre Tugenden zu lästern und zu zeigen, daß sie nur Schein sind. Ich wünschte, man benutzte diese Triebfeder, um den Menschen zu beweisen, daß es ihr eigner Vorteil erheischt, gute Staatsbürger, gute Väter, gute Freunde zu sein, kurz, alle moralischen Tugenden zu besitzen. Und da es sich wirklich so verhält, würde es nicht schwer fallen, sie davon zu überzeugen.

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Weshalb sucht man die Menschen bei ihrem eignen Vorteil zu fassen, wenn man sie zu diesem oder jenem Entschluß bewegen will? Doch nur, weil der eigne Vorteil von allen Gründen der stärkste und überzeugendste ist. Brauchen wir also dasselbe Argument für die Moral. Machen wir den Menschen klar, daß sie sich durch lasterhaften Wandel unglücklich machen, daß aber mit guten Handlungen gute Folgen unzertrennlich verknüpft sind. Wenn die Kreter ihren Feinden fluchten, so wünschten sie ihnen lasterhafte Leidenschaften, das heißt, sie wünschten ihnen, sie möchten sich selber in Unglück und Schande stürzen47-1. Diese einleuchtenden Wahrheiten können bewiesen werden und sind für Weise, für Leute von Verstand und für den Pöbel gleich faßlich.

Man wird mir ohne Zweifel einwenden: meine Behauptung, daß mit guten Handlungen Glück verknüpft ist, sei schwer in Einklang zu bringen mit den Verfolgungen der Tugend und mit der Art von Wohlstand, in der sich viele verderbte Menschen befinden. Der Einwand ist leicht zu beheben, wenn wir unter dem Worte Glück nichts andres verstehen als vollkommene Seelenruhe. Sie gründet sich auf Zufriedenheit mit sich selbst und darauf, daß wir mit gutem Gewissen unsre Handlungen gutheißen können und uns keine Vorwürfe zu machen haben. Nun ist es ja klar, daß diese Empfindung in einem sonst unglücklichen Menschen herrschen kann, nicht aber in einem rohen und wilden Herzen; denn ein solches Herz muß, wenn es sich betrachtet, sich selbst verabscheuen, so glänzend auch sein äußeres Geschick scheinen mag.

Wir wollen nicht gegen die Erfahrung streiten, sondern zugeben, daß es eine Menge Beispiele unbestrafter Verbrechen gibt, daß viele Bösewichter ein Ansehen genießen, das vom blöden Volke bewundert wird. Aber fürchten diese Verbrecher nicht, daß die für sie so schreckliche Wahrheit eines Tages ans Licht kommt, daß die Zeit ihre Schande enthüllt? Konnte wohl der eitle Glanz, der die gekrönten Ungeheuer, einen Nero, Caligula, Domitian oder Ludwig XI. umgab, die geheime Stimme ihres Gewissens ersticken, die sie verurteilte? Konnte er verhindern, daß sie von Gewissensbissen verzehrt und von der unsichtbaren Rachegeißel zerfleischt wurden? Welche Seele kann in solcher Lage ruhig bleiben? Empfindet sie nicht schon im Leben alles Gräßliche, was die Höllenqual haben kann? Übrigens urteilt man sehr falsch, wenn man das Glück eines andren nur nach dem äußeren Schein bemißt. Es läßt sich nur nach der Denkart dessen schätzen, der es empfindet: die aber ist sehr verschieden. Der eine liebt den Ruhm, der andre das Vergnügen. Dieser hängt sein Herz an Kleinigkeiten, jener an Dinge, die man für wichtig hält. Ja, einige verabscheuen das, was andre sich wünschen oder als das höchste Gut ansehen.

Es gibt also keine feste Norm zur Beurtellung dessen, was von einem willkürlichen und oft phantastischen Geschmack abhängt. Daher kommt es oft, daß man laut das Glück und den Wohlstand von Leuten bewundert, die im Stillen bitter unter der Last ihres Kummers seufzen. Da wir nun also das Glück weder in äußeren Dingen noch<48> in den Glücksgütern finden können, die wir im wechselnden Spiele des Lebens bald gewinnen, bald verlieren, so müssen wir es in uns selbst suchen. Es gibt aber — ich wiederhole es — kein andres als Seelenruhe. Deshalb muß unser eigner Vorteil uns antreiben, nach einem so kostbaren Gute zu streben und die Leidenschaften zu zügeln, wenn sie es stören.

Wie ein Staat nicht glücklich sein kann, der von Bürgerkriegen zerrüttet wird, so kann auch der Mensch kein Glück genießen, wenn seine empörten Leidenschaften der Vernunft die Herrschaft streitig machen. Alle Leidenschaften ziehen eine Züchtigung nach sich, die mit ihnen verknüpft zu sein scheint. Davon sind selbst die unsren Sinnen am meisten schmeichelnden nicht ausgenommen. Die einen zerrütten die Gesundheit, die andern bescheren uns ewig wiederkehrende Sorge und Unruhe. Bald bringen sie den Verdruß über das Mißlingen gewaltiger Pläne, die wir entworfen haben, bald den Kummer, nicht die Achtung zu erringen, die wir zu verdienen glauben. Der eine schäumt vor Wut, sich an seinen Beleidigern nicht rächen zu können; ein zweiter empfindet Gewissensbisse über zu barbarische Vergeltung oder fürchtet, nach hundert Betrügereien entlarvt zu werden.

Den Geizigen zum Beispiel quält unaufhörlich der Durst nach Reichtümern. Alle Mittel sind ihm recht, wenn er diesen nur stillt! Aber die Angst, das mit so vieler Mühe Zusammengeraffte wieder zu verlieren, raubt ihm den Genuß seines Besitzes. Der Ehrsüchtige verliert die Gegenwart aus den Augen, um sich blindlings in die Zukunft zu stürzen. Er gebiert unaufhörlich neue Pläne und tritt alles, auch das Heiligste, herrisch mit Füßen, um sein Ziel zu erreichen. Die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, reizen und erbittern ihn. Ewig schwankend zwischen Furcht und Hoffen, ist er in der Tat unglücklich, und selbst der Besitz dessen, was er begehrt, ist mit Überdruß und Ekel gepaart. Dieser unerquickliche Zustand läßt ihn neue Glücksplane schmieden, aber das Glück, das er sucht, findet er nie. Soll man in einem so kurzen Leben so weitschauende Pläne entwerfen? Der Verschwender, der doppelt so viel verschleudert, als er zusammenrafft, ist wie das Faß der Danaiden, das niemals voll wurde. Stets sinnt er auf Mittel zur Befriedigung seiner zahlreichen Begierden. Die aber vermehren seine Bedürfnisse immerfort, und so arten seine Lasier schließlich in Verbrechen aus. Der Liebestolle wird zum Spielball der Weiber, die ihn betrügen. Der flatterhaft Liebende verführt sie nur dadurch, daß er wortbrüchig ist. Der Ausschweifende zerstört seine Gesundheit und verkürzt sein Leben.

Aber welche Vorwürfe hat sich nicht erst der Hartherzige, Ungerechte, Undankbare zu machen! Der Hartherzige hört auf, ein Mensch zu sein, well er die Vorrechte seiner Gattung nicht ehrt und in seinesgleichen seine Brüder verkennt. Er hat kein Herz im Busen, und da er selbst kein Mitleid empfindet, so verwirkt er auch das Mitleid der andren. Der Ungerechte bricht den Gesellschaftsvertrag. Er zerstört, soviel er vermag, die Gesetze, unter deren Schutze er lebt. Er würde sich gegen jede Bedrückung auflehnen, maßt sich selbst aber das ausschließliche Vorrecht an, Schwächere zu unterdrücken.<49> Sein Fehler ist schlechte Logik. Seine Grundsätze stehen miteinander in Widerspruch. Muß nicht auch das Gefühl für Recht und Billigkeit, das die Natur in aller Herzen gelegt hat, sich gegen seine Übergriffe auflehnen? Doch das abscheulichste, schwärzeste und ruchloseste von allen Lastern ist der Undank. Der Undankbare, gegen Wohltaten Unempfindliche begeht ein Majestätsverbrechen an der Gesellschaft. Denn er verdirbt, vergiftet und zerstört die Süßigkeit der Freundschaft. Beleidigungen empfindet er, aber Dienstleistungen nicht. Indem er Gutes mit Bösem vergilt, setzt er der Niedertracht die Krone auf. Aber eine so entartete, unter die Menschheit herabgesunkene Seele handelt gegen ihren eigenen Vorteil; denn jeder Mensch ist — so hoch er auch stehen mag — von Natur schwach und bedarf des Beistandes seiner Nächsten. Ein Undankbarer aber, den die Gesellschaft ausstößt, macht sich durch seine Herzlosigkeit unwürdig, je wieder Wohltaten zu empfangen. Unablässig sollte man den Menschen zurufen: „Seid sanft und menschlich, weil ihr schwach seid und des Beistandes bedürft! Seid gerecht gegen andre, damit die Gesetze auch euch gegen fremde Gewalttat schützen! Tut andren das nicht an, was sie euch nicht antun sollen.“

Ich will in dieser flüchtigen Skizze nicht all die Gründe auseinandersetzen, die die Eigenliebe den Menschen an die Hand gibt, um ihre schlechten Neigungen zu besiegen und ein tugendhaftes Leben zu führen. Bei den engen Grenzen meiner Abhandlung kann ich den Gegenstand nicht erschöpfen. Ich begnüge mich mit der Behauptung, daß alle, die neue Beweggründe zur Verbesserung der Sitten ausfindig machen, der Gesellschaft, ja selbst der Religion einen wichtigen Dienst leisten.

Nichts ist wahrer und handgreiflicher, als daß die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn ihre Mitglieder keine Tugend, keine guten Sitten besitzen. Sittenverderbnis, herausfordernde Frechheit des Lasters, Verachtung der Tugend und derer, die sie ehren, Mangel an Redlichkeit in Handel und Wandel, Meineid, Treulosigkeit, Eigennutz an Stelle des Gemeinsinns — das sind die Vorboten des Verfalls der Staaten und des Untergangs der Reiche. Denn sobald die Begriffe von Gut und Böse verwirrt werden, gibt es weder Lob noch Tadel, weder Lohn noch Strafe mehr.

Ein so wichtiger Gegenstand wie die Moral geht die Religion ebensoviel an wie den Staat. Die christliche, jüdische, mohammedanische und chinesische Moral haben beinahe die gleiche Sittenlehre. Die christliche hat trotz ihrer langen Geltung noch zwei Arten von Feinden zu bekämpfen. Die einen sind die Philosophen, die nur den gesunden Menschenverstand und die streng exakte logische Beweisführung gelten lassen und alle Ideen und Systeme verwerfen, die nicht mit den Regeln der Logik übereinstimmen; doch davon reden wir hier nicht. Die andren sind die Freigeister49-1, deren Sitten, durch lange Gewöhnung an das Laster verderbt, sich gegen das harte Joch<50> aufbäumen, das die Religion ihren Leidenschaften auflegen will. Sie streifen ihre Fesseln ab, sprechen sich stillschweigend von einem Gesetze los, das ihnen Zwang antut, und suchen in völligem Unglauben eine Freistätte. Ich behaupte nun: alle Beweggründe, die man zur Besserung solcher Charaktere anwenden kann, gereichen der christlichen Religion offenbar zum größten Vorteil. Ja, ich glaube, der eigne Vorteil des Menschen ist das mächtigste Motiv, mit dem man sie von ihren Verirrungen abbringen kann. Ist der Mensch einmal davon überzeugt, daß es in seinem eignen Interesse liegt, tugendhaft zu sein, so wird er sich auch lobenswerter Handlungen befleißigen, und da er dann der Moral des Evangeliums tatsächlich gemäß lebt, wird man ihn auch leicht dahin bringen, aus Liebe zu Gott das zu tun, was er schon aus Liebe zu sich selbst getan hat. Das nennen die Theologen: heidnische Tugenden in christliche, geheiligte verwandeln.

Doch hier stellt sich ein neuer Einwand dar. Man wird mir gewiß entgegenhalten: „Du widersprichst dir selbst. Du denkst nicht daran, daß man die Tugend als einen Trieb der Seele zu größter Selbstlosigkeit definiert. Wie kannst du also wähnen, man könne zu dieser völligen Selbstaufgabe durch den eigenen Vorteil gelangen, das heißt, durch den ihr strikt entgegengesetzten Seelenzustand?“

Der Einwurf ist stark, aber doch leicht zu widerlegen, wenn man die verschiedenen Triebfedern der Selbstliebe betrachtet. Bestünde sie nur aus dem Verlangen nach Gütern und Ehren, so hätte ich nichts zu erwidern. Aber ihr Trachten beschränkt sich nicht auf so wenig. Sie umfaßt zunächst Liebe zum Leben und zur Selbsterhaltung, dann Begierde nach Glück, Furcht vor Tadel und Schmach, Verlangen nach Ansehen und Ruhm und schließlich die Leidenschaft für alles, was man für nützlich hält. Dazu tritt noch Abscheu vor allem, was man der Selbsierhaltung schädlich glaubt. Man braucht also nur die Urteile der Menschen zu berichtigen. Wonach muß ich trachten, was muß ich meiden, um die sonst rohe und schädliche Eigenliebe nützlich und lobenswert zu machen?

Die Beispiele der größten Uneigennützigkeit, die wir haben, rühren aus der Eigenliebe her. Die hochherzige Aufopferung der beiden Decius50-1, die ihr Leben freiwillig Hingaben, um dem Vaterland den Sieg zu erringen — woraus entsprang sie, wenn nicht daraus, daß sie ihr Leben weniger hoch einschätzten als den Ruhm? Weshalb widerstand Scipio im Jünglingsalter, wo die Leidenschaften so gefährlich sind, der Versuchung, in die ihn die Schönheit seiner Gefangenen brachte? Warum gab er sie als Jungfrau ihrem Verlobten zurück und überhäufte beide mit Geschenken50-2? Können wir zweifeln, daß der Held gemeint hat, sein edles, großmütiges Benehmen werde<51> ihn mehr ehren als die rohe Sättigung seiner Begierde? Er zog also den guten Ruf der Wollust vor.

Wie viele Züge von Tugend, wie viele unsterbliche Ruhmestaten hat man nicht tatsächlich dem Instinkt der Selbstliebe zu verdanken? Aus einem geheimen, fast unmerklichen Gefühl beziehen die Menschen alles auf sich selbst. In sich sehen sie einen Mittelpunkt, in dem alle Strahlen ihres Umkreises zusammenlaufen. Welche gute Tat sie auch tun mögen, sie selbst sind deren verborgener Gegenstand. Das stärkere Gefühl überwiegt bei ihnen das schwächere, und oft bestimmt ihr Handeln ein falscher Schluß, dessen Mängel sie nicht einsehen. Man darf ihnen also nur das wahre Gute zeigen, ihnen dessen Wert klarmachen und ihre Leidenschaften in den Dienst der Tugend stellen, indem man sie lenkt und eine gegen die andre setzt.

Gilt es ein Verbrechen zu verhüten, das jemand begehen will, so findet man ein Abschreckungsmittel in den Gesetzen, die es bestrafen. Man muß dann den Selbsterhaltungstrieb jedes Menschen wachrufen und ihn den schlimmen Absichten entgegenstellen, die ihn den strengsten Strafen, ja dem Tode aussetzen. Der Selbsterhaltungstrieb kann auch Wüstlinge bessern, die durch ihre Ausschweifungen ihre Gesundheit zerrütten und ihr Leben verkürzen. Ein gleiches gilt von denen, die sich vom Jähzorn hinreißen lassen; denn es gibt Beispiele dafür, daß diese Leidenschaft bei großer Heftigkeit epileptische Anfälle zur Folge hat.

Die Furcht vor Tadel bringt fast die gleichen Wirkungen hervor wie der Selbsterhaltungstrieb. Wie viele Frauen verdanken ihre Keuschheit, deretwegen man sie lobt, dem Verlangen, ihren Ruf vor Verleumdung zu schützen! Wie viele Männer sind nur darum uneigennützig, weil sie fürchten, in der Welt als Betrüger und Elende dazustehen, wenn sie anders handelten.

Kurz, die verschiedenen Triebfedern der Eigenliebe geschickt in Bewegung zu setzen, es so hinzustellen, daß alle Vorteile von guten Handlungen dem Handelnden selbst zugute kommen — das ist das Mittel, um diesen Quell des Guten und Bösen zur treibenden Kraft des Verdienstes und der Tugend zu machen.

Ich muß zu unsrer Schande gestehen, daß man in unsrem Jahrhundert eine merkwürdige Abkühlung gegen alle Bestrebungen zur Besserung des menschlichen Herzens und der Sitten antrifft. Man sagt öffentlich und läßt es sogar drucken: die Moral sei ebenso langweilig wie unnütz. Man behauptet: die Menschennatur sei ein Gemisch von Gut und Böse, das sich nicht ändern lasse; die stärksten Gründe wichen der Gewalt der Leidenschaften, und man müsse die Welt gehen lassen, wie sie geht.

Wenn man nun mit dem Erdboden ebenso verführe, wenn man ihn unbebaut ließe, so würde er sicherlich nur Disteln und Dornen tragen, nie aber die reichen und nützlichen Ernten, die uns mit Nahrungsmitteln versorgen. Ich gebe zu: soviel man sich auch um Besserung der Sitten bemüht, es wird stets Lasier und Verbrechen auf der Welt geben. Aber es werden ihrer doch weniger sein, und damit ist schon viel gewonnen. Es wird dann auch mehr gebesserte und voll entwickelte Seelen geben,<52> die sich durch hervorragende Eigenschaften auszeichnen. Sind nicht aus der Schule der Philosophen erhabene Seelen, fast göttliche Menschen hervorgegangen, die die Tugend zur höchsten, der Menschheit erreichbaren Vollendung gebracht haben? Die Namen eines Sokrates, Aristides, Cato, Brutus, Antoninus Pius, Mark Aurel werden in den Annalen des Menschengeschlechts so lange fortleben, wie es tugendhafte Seelen auf der Welt gibt. Auch die Religion hat einige treffliche Männer hervorgebracht, die sich durch Menschlichkeit und Wohltätigkeit auszeichneten. Zu ihnen rechne ich indessen nicht die mürrischen, fanatischen Mönche, die in ftommen Kerkern die Tugenden begruben, durch die sie ihren Nächsten hätten nützlich werden können, und die lieber der Gesellschaft zur Last fallen, als ihr dienen wollten.

Heutzutage müßte man damit anfangen, das Vorbild der Alten nachzuahmen, alle Aufmunterungsmittel zur Besserung des Menschengeschlechts anzuwenden, in den Schulen die Sittenlehre jedem andren Unterricht vorzuziehen und sie leicht faßlich vorzutragen. Vielleicht käme man seinem Zweck bedeutend näher, wenn man Katechismen anfertigte, aus denen die Kinder von klein auf lernten, daß die Tugend zu ihrem Glück unerläßlich ist. Ich wünschte, die Philosophen beschäftigten sich weniger mit ebenso vorwitzigen wie fruchtlosen Untersuchungen und übten ihre Talente mehr an der Moral. Vor allem aber sollte ihr Wandel ihren Schülern in allen Stücken zum Muster dienen. Dann führten sie mit Recht den Namen: Lehrer des Menschengeschlechts.

Die Theologen sollten sich weniger um die Erklärung unbegreiflicher Dogmen bemühen. Sie sollten die Wut verlernen, uns Dinge beweisen zu wollen, die uns als Mysterien und als höher denn alle Vernunft verkündigt sind. Vielmehr sollten sie sich darauf legen, praktische Moral zu predigen und statt blumenreicher Reden nützliche, schlichte, klare und dem Verständnis ihrer Zuhörer angemessene Andachten abzuhalten. Bei spitzfindigen Beweisführungen schlafen die Menschen ein. Ist aber von ihrem eignen Vorteil die Rede, so wachen sie auf. Derart ließe sich durch geschickte und weise Reden die Eigenliebe zur Führerin der Tugend machen. Man könnte mit Erfolg neue Beispiele gebrauchen, die dem Geiste der zu Belehrenden an, gepaßt sind. Will man einen trägen Bauern zur besseren Bestellung seines Ackers aufmuntern, so erreicht man das sicherlich am leichtesten mit dem Hinweis auf seinen durch Emsigkeit reich gewordenen Nachbarn. Man muß ihm sagen, es hinge nur von ihm ab, den gleichen Wohlstand zu erlangen. Stets müssen die gewählten Vorbilder der Fassungskraft und dem Stande derer entsprechen, die sie nachahmen sollen. Aus zu ungleichen Lebenslagen darf man sie niemals nehmen. Der Ruhm des Miltiades störte den Schlaf des Themisiokles.

Wenn nun große Beispiele auf die Alten so starken Eindruck gemacht haben, warum sollen sie in unsren Tagen wirkungslos bleiben? Die Liebe zum Ruhm ist edlen Seelen angeboren, man braucht sie nur zu beleben und anzufachen. Dann werden Menschen, die bis dahin nur hinvegetierten, von diesem glücklichen Triebe<53> entstammt, wie Halbgötter dastehen. Reicht auch die vorgeschlagene Methode zur Ausrottung aller Lasier auf Erden nicht aus, so kann sie doch, dünkt mich, den guten Sitten Anhänger werben und Tugenden erwecken, die ohne ihre Hilfe in dumpfem Schlafe geblieben wären. Damit leistet man der Gesellschaft stets einen Dienst, und das ist auch der Zweck dieser Abhandlung.

<54>

Über den Nutzen der Künste und Wissenschaften im Staate (1772)54-1

Wenig aufgeklärte und wahrheitsliebende Leute haben den Künsten und Wissenschaften den Krieg zu erklären gewagt. War ihnen die Verlästerung dessen gestattet, was der Menschheit zur höchsten Ehre gereicht, so muß die Verteidigung erst recht gestattet sein. Sie ist die Pflicht aller, die die menschliche Gesellschaft lieben und ein dankbares Herz für das besitzen, was sie den Wissenschaften schulden. Unglücklicherweise machen widersinnige Behauptungen den Menschen oft größeren Eindruck als Wahrheiten. Es gilt also, ihnen die Augen zu öffnen und die Urheber solchen Aberwitzes zu beschämen — nicht durch Schmähungen, sondern durch triftige Gründe. Ich scheue mich, vor der Akademie zu sagen, daß jemand so frech gewesen ist, in Frage zu stellen, ob die Wissenschaften der menschlichen Gesellschaft nützlich oder schädlich sind. Darüber dürfte doch niemand im Zweifel sein! Wenn wir einen Vorzug vor den Tieren besitzen, so liegt er sicherlich nicht in unsern körperlichen Eigenschaften, sondern in dem größeren Verstande, den die Natur uns verliehen hat. Auch die Menschen untereinander scheidet der Geist und das Wissen. Woher käme wohl sonst der unendliche Abstand zwischen einem kultivierten und einem barbarischen Volke, wenn nicht daher, daß das eine aufgeklärt ist, das andre aber in Verdummung und Stumpfsinn dahinlebt?

Die Völker, die sich solcher Überlegenheit erfreuten, waren dankbar gegen die, die ihnen diesen Vorzug verschafften. Daher stammt der gerechte Ruhm jener Leuchten der Welt, jener Weisen, deren gelehrte Arbeiten ihre Landsleute und ihr Zeitalter aufgeklärt haben.

Der Mensch stellt an sich wenig vor. Er wird mit mehr oder minder entwicklungsfähigen Anlagen geboren, die der Ausbildung bedürfen. Seine Kenntnisse müssen vermehrt werden, damit seine Begriffe sich erweitem können. Sein Gedächtnis ist zu bereichern, damit der Vorrat die Einbildungskraft mit Stoff versieht, den sie verar<55>betten kann, und sein Urteil ist zu schärfen, damit es seine eignen Leistungen abschätzen lernt. Der gewaltigste Geist gleicht ohne Kenntnisse einem rohen Diamanten, der erst unter den Händen eines geschickten Steinschleifers seinen Wert erhält. Wieviel Geist geht derart für die menschliche Gesellschaft verloren, und wie viele große Männer jedes Schlages werden im Keime erstickt, sei es durch Unwissenheit, sei es durch die elenden Verhältnisse, in die sie gesetzt sind!

Das wahre Wohl des Staates, sein Vorteil und Glanz erfordern also, daß die Volksgenossen so unterrichtet und aufgeklärt wie möglich sind. Dadurch erhält der Staat in jedem Berufe zahlreiche geschickte Untertanen, die zur tüchtigen Verwaltung der verschiedenen Ämter, die man ihnen anvertrauen muß, wohl imstande sind.

Der Zufall der Geburt hat viele in eine Lebenslage gebracht, in der sie nicht ermessen können, welch unendlichen Schaden mehr oder weniger alle europäischen Staaten durch die Mißgriffe von Unwissenden erleiden, und so werden ihnen diese Übelstände vielleicht nicht so fühlbar, als wenn sie deren Augenzeugen wären. Es ließe sich eine Menge solcher Beispiele anführen, wenn die Art und der Umfang dieser Rede uns nicht in die richtigen Schranken verwiese. Nur die Faulheit, die sich zu unterrichten verschmäht, nur die anspruchsvolle Unwissenheit, die alles mit Beschlag belegt und zu allem unfähig ist, konnte irgend einen Narren55-1 zu der durch elende Aberwitzigkeiten gestützten Behauptung verführen, die Wissenschaften wären verderblich, verfeinerten nur die Lasier und verderbten die Sitten. Solche Verkehrtheiten springen in die Augen! In welcher Form man sie auch vorbringe, fest sieht, daß die Bildung den Geist veredelt, anstatt ihn zu erniedrigen. Was verdirbt die Sitten? Böse Beispiele sind es. Wie Seuchen in großen Städten schlimmere Verheerungen anrichten als in Dörfern, so macht auch die Ansteckung des Lasters in volkreichen Städten größere Fortschritte als auf dem Lande, wo die tägliche Arbeit und ein abgeschlosseneres Leben die Sitten einfach und rein erhält.

Es hat falsche Staatsmänner gegeben, die in kleinlichen Begriffen befangen waren und ohne gründliches Eingehen auf den Gegenstand glaubten, es sei leichter, ein unwissendes und verdummtes Volk zu regieren als eine aufgeklärte Nation. Das ist wirklich eine überwältigende Behauptung! Die Erfahrung beweist vielmehr, daß ein Volk desto eigensinniger und starrköpfiger ist, je dümmer es ist, und daß es weit schwerer hält, seinen Starrsinn zu brechen, als ein leidlich gebildetes Volk von einer gerechten Sache zu überzeugen. Das wäre ein schönes Land, wo die Talente ewig unterdrückt blieben und nur ein Einziger weniger beschränkt wäre als die andren! Solch ein von Unwissenden bevölkerter Staat gliche dem verlorenen Paradiese der Bibel, das nur von Tieren bewohnt war.

Dem erlauchten Hörerkreis der Akademie braucht zwar nicht erst bewiesen zu werden, daß Künste und Wissenschaften ebenso nützlich, wie für die Völker, die sie besitzen,<56> ruhmvoll sind. Aber es ist doch vielleicht nicht unangebracht, eine Gattung weniger aufgeklärter Leute davon zu überzeugen, um sie gegen die Einflüsse zu schützen, die schändliche Sophisten auf ihren Geist ausüben könnten. Mögen diese doch einen kanadischen Wilden mit dem Bürger eines zivilisierten europäischen Staates vergleichen! Der ganze Vorteil wird jedenfalls bei dem letzteren liegen! Wie kann man die rohe Natur einer vervollkommneten, den Mangel an Existenzmitteln dem auskömmlichen Leben, Grobheit der Höflichkeit, Sicherheit des Eigentums, die man unter dem Schutze der Gesetze genießt, dem Recht des Stärkeren und der Räuberei vorziehen, die Habe und Wohlfahrt der Familien zerstört?

Die Gesellschaft, die von einer Volksgemeinschaft gebildet wird, kann weder der Künste noch der Wissenschaften entbehren. Durch die Wasserbaukunst werden die Gegenden längs der Flüsse vor deren Austreten und vor Überschwemmungen bewahrt. Ohne sie würden fruchtbare Gebiete sich in ungesunde Sümpfe verwandeln und viele Familien ihren Unterhalt einbüßen. Die höher gelegenen Gegenden bedürfen des Feldmessers, der die Äcker abmißt und einteilt. Die durch Erfahrung bestätigten physikalischen Kenntnisse tragen zur Vervollkommnung des Ackerbaues und besonders der Gärtnerei bei. Die Botanik, die sich dem Studium der Heilkräuter widmet, die Chemie, die die Säfte aus ihnen zu ziehen weiß, belebt wenigstens unsre Hoffnung während der Krankheit, selbst wenn sie uns nicht zu heilen vermögen. Die Anatomie führt und leitet die Hand des Wundarztes bei den schmerzhaften, aber notwendigen Operationen, die unser Dasein durch Entfernung des erkrankten Körperteils retten. Die Mechanik dient zu vielerlei. Soll eine Last gehoben oder fortgeschafft werden, sie setzt sie in Bewegung. Soll das Erdinnere durchwühlt werden, um Metalle zu fördern, sie trocknet die Stollen durch klug erfundene Maschinen aus und befreit den Bergmann von dem überfiüssigen Wasser, das ihn töten oder seine Arbeit verhindern würde. Gilt es, Mühlen zum Zermahlen unsres bekanntesten und notwendigsten Nahrungsmittels zu errichten, so werden sie durch die Mechanik vervollkommnet. Ebenso erleichtert die Mechanik die Arbeit durch Verbesserung der verschiedenen Werkzeuge, die der Arbeiter benutzt. Alle Maschinen gehören in ihr Fach, und wie viele Maschinen aller Art sind erforderlich! Die Schiffsbaukunsi gehört vielleicht zu den größten Errungenschaften des Denkvermögens. Aber wie vieler Kenntnisse bedarf nicht auch der Steuermann, um das Schiff zu lenken und den Fluten und Winden zu trotzen! Er muß in der Astronomie Bescheid wissen, gute Seekarten und genaue Kenntnis der Geographie besitzen. Er muß Fertigkeit im Rechnen haben, um die zurückgelegte Entfernung und den Ort, wo er sich befindet, zu bestimmen, wobei er künftig eine Hilfe an den in England kürzlich vervollkommneten Instrumenten finden wird.

Künste und Wissenschaften reichen sich die Hand. Ihnen danken wir alles. Sie sind die Wohltäter des Menschengeschlechts. Der Bürger großer Städte genießt sie, ohne in seiner stolzen Bequemlichkeit zu wissen, wie vieler durchwachter Nächte und Anstren<57>gungen es bedarf, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und seinen oft wunderlichen Neigungen zu genügen.

Wie viele Kenntnisse erheischt nicht der Krieg, der zuweilen notwendig ist, aber oft auch zu leichtsinnig unternommen wird! Schon die Erfindung des Schießpulvers hat die Kriegführung so völlig verändert, daß die größten Helden des Altertums, wenn sie heute auf die Welt zurückkehrten, sich zur Behauptung ihres rechtmäßig erworbenen Ruhmes mit unsren Entdeckungen vertraut machen müßten. In der heutigen Zeit muß ein Kriegsmann Mathematik, Befestigungskunst, Hydraulik und Mechanik studieren, um Festungswerke anlegen und künstliche Überschwemmungen herbeiführen zu können, um die Kraft des Pulvers zu kennen, den Wurf der Bomben zu berechnen, die Wirkung der Minen zu bestimmen, den Transport der Kriegsmaschinen erleichtern zu können. Er muß mit der Lagerkunst, der Taktik, der Mechanik des Exerzierens vertraut sein, muß genaue Kenntnis des Geländes und der Geographie besitzen. Seine Feldzugspläne müssen, obwohl er auf Mutmaßungen beschrankt ist, einem mathematischen Beweise gleichen. Er muß die Geschichte aller früheren Kriege im Kopfe haben, damit seine Phantasie aus ihr wie aus einer fruchtbaren Quelle schöpfen kann.

Aber nicht allein die Heerführer müssen ihre Zuflucht zu den Archiven der Vergangenheit nehmen. Auch der Beamte, der Jurist könnten ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie den Teil der Geschichte, der die Gesetzgebung betrifft, nicht gründlich beherrschen. Es genügt nicht, daß sie den Geist der Gesetze ihres Vaterlandes studiert haben, sie müssen auch den der andren Völker kennen und wissen, bei welchen Anlässen die Gesetze eingeführt oder abgeschafft wurden.

Selbst die Träger der Staatsgewalt und die, welche unter ihnen die Regierung leiten, können das Geschichtsstudium nicht entbehren. Die Geschichte ist ihr Brevier, ein Gemälde, das ihnen die feinsten Schattierungen der Charaktere und Handlungen der Machthaber, ihre Tugenden und Laster, ihr Glück und Unglück und ihre Hilfsmittel zeigt. In der Geschichte ihres Vaterlandes, auf die sie ihr Hauptaugenmerk richten müssen, finden sie den Ursprung seiner guten und schlechten Einrichtungen und eine Kette von zusammenhängenden Ereignissen, die sie bis an die Gegenwart führt. In ihr finden sie die Gründe, die die Völker vereinigt und ihre Bande wieder zerrissen haben, Beispiele, die nachzuahmen oder zu vermeiden sind. Aber welch ein Gegenstand des Nachdenkens ist für einen Herrscher erst die Musterung all der Fürsten, die ihm die Geschichte vorführt! Unter ihnen befinden sich notwendig solche, deren Charaktere oder Handlungen mit den seinen verwandt sind, und im Urteil der Nachwelt sieht er wie in einem Spiegel das Urteil, das seiner selbst harrt, sobald mit seinem Hinscheiden die Furcht, die er einflößte, völlig verschwunden ist.

Sind die Historiker die Lehrer der Staatsmänner, so sind die Logiker die Zerschmetterer der Irrtümer und des Aberglaubens. Sie haben die Hirngespinste geistlicher und weltlicher Marktschreier bekämpft und zerstört. Ohne sie würden wir vielleicht noch<58> heute, gleich unsren Vorfahren, erdichteten Göttern Menschenopfer darbringen und das Werk unsrer eignen Hände anbeten. Wir würden gezwungen sein, zu glauben, und wagten nicht nachzudenken, und so dürften wir vielleicht noch immer nicht unsre Vernunft dazu brauchen, die für unser Schicksal wichtigsten Fragen zu prüfen. Wir würden noch immer wie unsre Väter den Freipaß für das Paradies und Ablaß für Verbrechen mit Gold aufwiegen. Die Wüstlinge wurden Hab und Gut drangeben, um nicht ins Fegefeuer zu kommen. Wir würden noch Scheiterhaufen für Andersdenkende errichten. Leere Gebräuche würden den Zwang zur Tugend ersetzen, und tonsurierte Betrüger würden uns im Namen der Gottheit zu den abscheulichsten Schandtaten antreiben. Wenn der Fanatismus zum Teil noch besieht, so kommt das daher, weil er in den Zeiten der Unwissenheit zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, und weil der Vorteil gewisser Gesellschaften in grauen, schwarzen, braunen und weißen Kutten es erheischt, das Übel stets wieder zu beleben und seine Ausbrüche zu vermehren, nur damit sie das Ansehen nicht einbüßen, das sie noch im Geiste des Volkes besitzen.

Wir geben zu, daß die Logik das Begriffsvermögen des Pöbels übersteigt. Diese zahlreiche Menschengattung läßt sich immer zu allerletzt die Augen öffnen. Aber wenn sie auch in allen Ländern den Schatz des Aberglaubens behütet, so darf man doch sagen, daß man ihr den Wahn von Zauberern, Besessenen, Goldmachern und andre, ebenso kindische Albernheiten ausgetrieben hat. Das verdanken wir der tieferen Naturerkenntnis.

Die Physik hat sich mit der Analyse und mit der Erfahrung verbündet. Man hat kräftig in die Dunkelheiten hineingeleuchtet, die den Gelehrten des Altertums so viele Wahrheiten verbargen. Wenn wir auch nicht zur Kenntnis der geheimen Urgründe gelangen können, die der große Weltenbaumeister sich selbst vorbehalten hat, so fanden sich doch mächtige Geister, die die ewigen Gesetze der Schwerkraft und der Bewegung entdeckt haben. Der Kanzler Bacon, der Vorläufer der neuen Philosophie, oder besser gesagt der Mann, der ihre Fortschritte ahnte und vorhersagte, hat Newton auf die Pfade seiner wunderbaren Entdeckungen geführt. Newton löste Descartes ab, der die alten Irrtümer beseitigte, um sie durch eigne zu ersetzen. Seitdem hat man die Luft gewogen58-1, den Himmel ausgemessen, den Lauf der Gestirne mit unendlicher Genauigkeit berechnet58-2, die Finsternisse vorhergesagt, eine unbekannte Eigenschaft der Materie, die Elektrizität, entdeckt, deren Wirkungen die Vorstellungskraft in Erstaunen setzen. Ohne Zweifel wird man binnen kurzem auch die Wiederkehr der Kometen ebenso vorausbestimmen können wie die Finsternisse. Doch eins danken wir schon dem gelehrten Bayle: er hat den Schrecken verscheucht, den das Erscheinen des Kometen bei den Unwissenden hervorrief58-3. Gestehen wir es nur: so sehr unsre menschliche Schwäche uns auch demütigt, so sehr stärken die Leistungen jener großen Männer unsren Mut und lassen uns die Würde unsres Seins empfinden.

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Schelme und Betrüger sind also die einzigen, die sich den Fortschritten der Wissenschaften widersetzen und es sich zur Aufgabe machen können, sie zu verlästern; denn sie sind die einzigen, denen die Wissenschaft schaden kann.

In dem philosophischen Zeitalter, in dem wir leben, hat man nicht nur die hohen Wissenschaften verleumden wollen; es fanden sich auch Leute von so mürrischem Wesen, oder vielmehr so alles Gefühls und Geschmacks bar, daß sie den schönen Künsten den Krieg erklärt haben. Nach ihrer Meinung ist ein Redner ein Mensch, der mehr darauf ausgeht, schön zu sprechen als richtig zu denken. Ein Dichter ist ihnen ein Narr, der sich mit Silbenzählen abgibt, ein Geschichtsschreiber ein Zusammenstoppler von Lügen. Leute, die ihre Schriften lesen, sind Zeitvergeuder und ihre Bewunderer oberflächliche Geister. Sie möchten all die alten Dichtungen, die geistreichen, sinnbildlichen Fabeln, die soviel Wahrheit enthalten, in den Bann tun. Sie wollen nicht begreifen, daß, wenn Amphion die Mauern Thebens mit den Klängen seiner Leier erbaute, das bedeuten soll, daß die Künste die Sitten wilder Völker milderten und die Entstehung gesellschaftlicher Zustände herbeiführten.

Es gehört eine sehr fühllose Seele dazu, dem Menschengeschlecht den Trost und Beistand rauben zu wollen, den ihm die schönen Wissenschaften in den Bitternissen des Lebens gewähren. Man befreie uns von unsrem elenden Schicksal oder gestatte uns, es zu versüßen. Nicht ich will den gallsüchtigen Feinden der schönen Wissenschaften antworten, sondern ich berufe mich auf die Worte des philosophischen Konsuls, des Vaters des Vaterlandes und der Beredsamkeit. „Die Wissenschaften“, sagt Cicero59-1, „bilden die Jugend und erheitern das Alter. Sie verleihen Glanz im Glück und bieten Zuflucht und Trost im Unglück. Sie erfreuen daheim und belästigen uns nicht außer dem Hause. Sie durchwachen mit uns die Nächte, begleiten uns auf Reisen und wohnen mit uns auf dem Lande. Ja, wären wir auch selbst unfähig, sie zu erlangen oder ihren Zauber recht zu genießen, wir müßten sie doch stets bewundern, wenn wir sie nur bei andren gewahren.“

Möchten die, die so gern eifern, Achtung vor dem lernen, was Achtung verdient, und statt ebenso ehrenhafte wie nützliche Beschäftigungen zu bekritteln, ihre Galle lieber über den Müßiggang ergießen, der aller Lasier Anfang ist. Wie hätte wohl Griechenland in den denkwürdigen Zeiten, da es einen Sokrates, Plato, Aristides, Alexander, Perikles, Thukydides, Euripides und Xenophon hervorbrachte, den hellen Glanz ausgestrahlt, der noch jetzt unsre Augen blendet, wenn Wissenschaften und Künste für die menschliche Gesellschaft nicht notwendig und unentbehrlich wären und ihre Pfiege weder Nutzen noch Annehmlichkeit noch Ruhm brächte? Gewöhnliche Handlungen entschwinden dem Gedächtnis, aber die Taten, Entdeckungen und Fortschritte der Großen hinterlassen bleibenden Eindruck.

Nicht anders war es bei den Römern. Ihr großes Zeitalter war dasjenige, wo der stoische Cato mit der Freiheit unterging, wo Cicero den Verres niederschmetterte und<60> sein Buch von den Pflichten, seine Tuskulanen, sein unsterbliches Werk über die Natur der Götter schrieb, wo Varro seine „Origines“ und sein Gedicht über den Bürgerkrieg verfaßte60-1 wo Cäsar durch seine Milde das Gehässige seiner Gewaltherrschaft aus, löschte, wo Virgil seine Äneis vortrug und Horaz seine Oden dichtete, wo Livius die Namen aller großen Männer, die die Republik ausgezeichnet hatten, der Nachwelt überlieferte. Frage sich ein jeder, zu welcher Zeit er in Athen oder Rom hätte leben mögen, und er wird ohne Zweifel jene glänzenden Epochen wählen.

Auf jene glorreichen Zeiten folgte eine abscheuliche Barbarei. Wilde Völker überschwemmten fast ganz Europa. Sie führten Lasier und Unwissenheit mit sich, die dem übertriebensten Aberglauben die Wege ebneten. Erst nach elf Jahrhunderten der Verdummung konnte die Menschheit sich von jenem Roste reinigen, und in dieser Zeit der Wiedergeburt der Wissenschaften machte man viel mehr Aufhebens von den guten Schriftstellern, die Italien zuerst zierten, als von Leo X., der sie beschützte. Franz I. war neidisch auf ihren Ruhm und wollte ihn teilen. Er machte vergebliche Versuche, die fremden Gewächse in ein Erdreich zu verpflanzen, das für sie noch nicht vorbereitet war. Erst gegen Ende der Regierung Ludwigs XIII. und unter Ludwig XIV. begann für Frankreich das schöne Zeitalter, wo alle Künste und Wissenschaften in gleichem Schritt der höchsten Stufe der Vollendung entgegensirebten, die zu erreichen der Menschheit verstattet ist. Seitdem verbreiteten sich die verschiedenen Künste überall. Dänemark hatte bereits einen Tycho de Brahe erzeugt, Preußen einen Kopernikus, und Deutschland rühmte sich, einen Leibniz hervorgebracht zu haben. Auch Schweden hätte die Liste seiner großen Männer vermehrt, wären nicht die fortwährenden Kriege, in die die Nation damals verstrickt war, dem Fortschritt der Künste schädlich gewesen.

Alle aufgeklärten Fürsten haben Die beschützt, deren gelehrte Arbeiten dem menschlichen Geiste zur Ehre gereichen. In unsren Tagen ist es so weit gekommen, daß eine Regierung in Europa, die die Ermunterung der Wissenschaften im geringsten verabsäumte, binnen kurzem um ein Jahrhundert hinter ihren Nachbarn zurückstehen würde; Polen liefert ein handgreifliches Beispiel dafür. Wir sehen eine große Kaiserin60-2 es sich zur Ehrensache machen, Kenntnisse in ihren weiten Staaten einzuführen und zu verbreiten. Alles, was dazu beitragen kann, wird von ihr als äußerst wichtig behandelt.

Wer fühlte sich nicht bewegt und gerührt, wenn er vernimmt, wie man in Schweden das Gedächtnis eines großen Mannes ehrt? Ein junger König, der den Wert der Wissenschaften kennt, läßt dort gegenwärtig Descartes ein Grabmal errichten, um im Namen seiner Vorgänger die Dankesschuld abzutragen, die sie seinen Talenten<61> schuldeten61-1. Welche süße Genugtuung ist es für die Minerva61-2 die diesem jungen Telemach das Leben geschenkt und ihn selbst unterrichtet hat, in ihm ihren Geist, ihre Kenntnisse und ihr Herz wiederzufinden! Mit Recht darf sie sich ihres Werkes freuen und sich selbst Beifall zollen. Ist es unserm Herzen auch nicht erlaubt, alles, was unser Gefühl uns im Hinblick auf sie einstößt, verschwenderisch auszuschütten, so wird es doch dieser und jeder existierenden Akademie erlaubt sein, ihr die aufrichtigsten Huldigungen darzubringen und sie dankerfüllt unter die kleine Zahl aufgeklärter Fürstinnen aufzunehmen, die die Wissenschaften geliebt und beschützt haben.

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Betrachtungen über die Betrachtungen der Mathematiker über die Dichtkunst (1762)62-1

alle Welt schweigt, übernehme ich Unwürdiger, der Letzte unter den französischen Dichtern, die Verteidigung meiner Brüder in Apoll und ihrer zaubere vollen Kunst gegen die Angriffe der verderblichen Sekte der Mathematiker. Gibt es nichts Besseres zu tun? werden diese in ihrer Bosheit fragen. Vielleicht! kann man ihnen antworten. Aber es gilt die Ehre einer göttlichen Kunst zu rächen. Der Ge> meinsinn, den man als Mitglied der Dichterzunft erlangt, zwingt mich zu handeln und das Schweigen zu brechen, das bei längerer Dauer verbrecherisch würde. Geht es hier doch um einen großen Gegenstand. Indes zur Sache!

Nach der Behauptung der Mathematiker finden Leute, die in ihrer Jugend die Dichtkunst liebten, sie langweilig, wenn sie alt und schwach werden. Schade um sie! Aber was ist damit bewiesen? Worauf wollen die Mathematiker mit ihrer Behauptung hinaus? Ich glaube ihre Absicht zu erraten, und mein Gewissen zwingt mich, sie zu offenbaren. „Die Greise“, so sagen sie, „sind voll Weisheit. Sie sind von den Irrtümern und Vorurteilen der Jugend geheilt, durch lange Erfahrung gewitzigt und genießen die öffentliche Achtung. Wenn wir beweisen, daß die Greise in ihrer Weisheit der Poesie überdrüssig sind, verleugnen wir die Poesie selber. Zugleich beschämen wir alle, die Liebhaber der Poesie sind und für verständig gelten wollen. Dadurch schwächen wir ihren Anhang beträchtlich und belustigen die Leute weidlich mit unsren Kurven, Tangenten, Ellipsen und Parabeln und all unsren Spielsachen, die bisher einen sehr schlechten Absatz fanden.“ Welch eine Verschwörung! Wieviel Langeweile würde sich über die Erde verbreiten, könnten sie ihren Plan zur Ausführung bringen!

Die Dichtkunst ist eine lebendige und harmonische Schilderung aller Dinge der Natur und aller Gefühle unsres Herzens. Ist sie das, so behaupte ich dreist: man<63> kann den Geschmack an ihr nur verlieren, wenn man das seelische Feingefühl verloren hat — wofern man nicht zeitlebens geistig gelähmt war. Die Dichtkunst kann somit nie außer Mode kommen. Sie kann zu einer Zeit mehr blühen als zu einer andren; das hängt von dem Genie oder der Talentlosigkeit ihrer Hüter ab.

Die Sonette, Gedichte mit zwei feststehenden Reimen und andre Versspielereien hat man mit Recht vernachlässigt; denn wenn sie auch gelingen, entspricht ihr Erfolg doch nicht der aufgewandten Mühe. Die Elegie ist mehr im Schwange denn je. Man gibt ihr nur einen andren Namen. Gehört nicht ein Viertel aller guten Tragödien zur elegischen Dichtung? Die Trauerelegie mißfallt durch das Gekünstelte ihrer Gefühle und weil die meisten Dichter zu lange Elegien schreiben, die den Leser ermüden.

Die Gattung der Eklogen ist geteilt worden. Die Landschaftsschilderung führt zu einer Unzahl von reizvollen Einzelbildern, und die Liebe kommt überall zur Darstellung, wo sie in den ältesten Zeiten möglich ist. Die Besitzer großer Herden waren damals die vornehmen Herren, und ihre Troubadoure besangen die Reize des Landlebens. Theokrit, der jenen Zeiten noch nahe stand, schilderte ihre Sitten in seinen Idyllen. Er fand damit Anklang, weil die Griechen die Erinnerung an jene Zeiten noch bewahrten. Virgil ahmte Theokrit nach, und die Römer, die in der griechischen Literatur bewandert waren, fanden Geschmack an ihren Werken, obwohl die Sitten sich bereits sehr verändert hatten. Vollends in unsrem Jahrhundert des Luxus und der Weichlichkeit sind die Sitten zum Gegenteil der holden Schlichtheit geworden, die in jenen alten Zeiten herrschte. Die Hirten, die wir sehen, sind armseliges Volk und durch den beständigen Umgang mit ihren Herden verdummt. Aus ihnen könnte man keine Amaryllis oder Thyrsis63-1 mehr machen, und folglich können sie keine Rolle mehr spielen. Immerhin besitzen wir den „Bach“ von Madame Deshoulières63-2, ein reizendes Gedicht, und wir bedauern die Verehrer der Algebra, daß es nicht die Ehre hat, ihnen zu gefallen.

Die Satire in Versen ist ebensowenig langweilig. Ihr Salz reizt und gefällt; denn der Mensch ist eine boshafte Kreatur. Sie ist freilich gefährlicher als die Prosasatire, da man Verse leichter im Gedächtnis behält. Sie werden zu Sprichwörtern, und wehe dem, den sie verspotten! Die Prosasatire hat den Vorzug, daß sie leichter vergessen wird. Wenn es schon Satiren geben muß, so verträgt sie sich besser mit der Menschlichkeit. Die kleinen Gedichte sind, wenn sie lustig, naiv und liebenswürdig sind, die Träger des harmlosen Scherzes. Sind auch niederträchtige darunter, so bilden die gutartigen doch den Reiz der Geselligkeit.

Aber unsre Mathematiker, die auf dem Saturnring hocken, wissen von alledem nichts. Der Dunst der Gleichungen verschleiert ihnen, was auf der kleinen Erdkugel<64> vorgeht. Das Volk der Reimschmiede ist sehr zu beklagen, daß es von den Kurvenzeichnern zu Boden geschlagen wird. Aber es gibt sich nicht verloren. Es ist vielmehr überzeugt, daß dreißig gute Verse dem Publikum mehr Spaß machen als alle astronomischen Tabellen.

Ich komme nun zu einem andren Trick der kunstfeindlichen Mathematiker. Sie fallen über die mäßigen Dichter her, deren Zahl leider Legion ist, und lassen durchblicken, daß ihr Ansehen sinkt. Daraus wollen sie allgemeine Schlüsse ziehen, die auf den Untergang der ganzen Poesie abzielen. Wie sehr das zutrifft, ergibt sich aus ihrer Erklärung, Virgil habe nicht die Ehre, ihnen zu gefallen. Sie würden wohl noch manche andre angreifen, aber sie fürchten die Lebenden. Nur die Toten beißen nicht. Mögen sie selbst sich in die Algebra vergraben, mögen sie bleich werden über ihren Integralrechnungen, die das Ergötzlichste auf Erden sind. Aber mögen sie auch darauf verzichten, den Krieg in eine Nachbarprovinz zu tragen, deren Sitten und Gesetze sie nicht kennen und in der sie unter dem nichtigen Vorwand, Mißbräuche zu beseitigen, nur alles auf den Kopf stellen würden.

Die Herren Mathematiker möchten die Herren des Menschengeschlechts spielen. Sie berufen sich auf die Vernunft, als hätten sie sie allein gepachtet. Sie reden hochtrabend vom philosophischen Sinne, als könnte man den nicht auch ohne ab minus x und dergleichen Zeug besitzen. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Verstand in allen Lebenslagen erforderlich ist und daß der Dichter Analyse, Methode und Urteilskraft ebenso nötig hat wie der Rechner.

In der Dichtkunst verschließt sich der Verstand nicht dem Zauber der Einbildungskraft. Ebensowenig verachtet er das Wunderbare, vorausgesetzt, daß es sich in gewissen Grenzen hält. Streng prüft er die Gedanken, die grammatische Richtigkeit, die Fabel, den Knoten, die Entwicklung der Handlung, die Charaktere, wenn solche vorhanden sind, den Aufbau, die Methode und Struktur des Werkes, den Dialog, wenn es ein Drama ist. Aber er überläßt dem Gehör das Urteil über den Wohlklang und dem Geschmack die Entscheidung über gewisse Ausschmückungen, die in einem Lande ergötzen, aber im andren mißfallen. Varignon64-1 gibt keinen Lehrsatz zur Bildung des Gehörs. Duverney64-2 soll bei seinem Seziermesser bleiben, aber Boileau64-3 soll über die Dichter richten. Ein Mathematiker, der bei seinen Berechnungen ein Auge verloren hatte64-4, kam auf den Einfall, ein Menuett nach a plus b zu komponieren. Wäre es vor dem Richterstuhl Apolls gespielt worden, so hätte es dem armen Mathematiker leicht so ergehen können wie Marsyas, dem lebendig Geschundenen.

Die Poesie wirkt belehrend im Epos und im Drama, wo sie große Tugenden und Laster darstellt. Sie wird zur strengen Tadlerin in der Satire. Scherzend bessert sie<65> die Sitten in der Komödie oder hüllt sich mahnend in das Gewand der Fabel. Bei ihr finden wir Erholung, Zerstreuung und Ergötzung. Cicero, der Vater des Vaterlandes und der Beredsamkeit, gesteht65-1, daß er sich des Abends von den Anstrengungen seines Advokatenberufes an den Reizen der Poesie erquickt habe. Die edelsten Geister des Altertums fanden ihren Hochgenuß in ihr. Die Poesie hat verschiedene Gattungen; jede besitzt ihre Vorzüge. Wir wollen keine ausschließen und uns vor den barbarischen Rechenmeistern hüten, die die Zahl unsrer Freuden verringern wollen.

Diese Barbaren messen alles mit der gleichen Elle, den Lehrsatz und das Epigramm. Sie möchten die Ars poetica Boileaus der Algebra unterwerfen, so gut wie die Berechnung der lebendigen Kräfte. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Gefühl und Genuß sich nicht berechnen lassen. Mögen sie ihren durch das Opium der Integral- und Differentialrechnung betäubten Sinnen mißtrauen. Diese Banausen wähnen uns lächerlich zu machen, indem sie von einem großen Dichter berichten, er habe sich gerühmt, das Wort Perücke in einem Vers angebracht zu haben65-2. Mögen sie nicht erröten, wenn sie erfahren, was sie da so geringschätzig und hochmütig abtun.

Die feinfühlige französische Poesie sieht in gewissen volkstümlichen Worten etwas Gewöhnliches. Kann man sie also durchaus nicht umgehen, so muß man sie umschreiben. Dieser Zwang ist hart, denn man muß einem gewöhnlichen Gedanken eine vornehme Wendung geben. Mit seltenem Geschick hat Racine solche gemeinen Ausdrücke unter kraftvollen Beiwörtern sozusagen versteckt, z. B. in den folgenden Versen:

So liegt sein Leib, von keinem Grab gedeckt,
Zum Fraß den gierigen Hunden hingestreckt 65-3.

Man muß selbst viele Verse gemacht haben, um die große Kunst in der Überwindung der Schwierigkeit voll zu ermessen. Doch was sind Verse für die Despoten des<66> Firmaments! Dieselben Despoten haben — offenbar mit einem unzulänglichen Fernrohr — die Beobachtung gemacht, daß die wahren Dichter fröhlichen Gedanken abhold sind. Ach, sie haben selbst keine, die armen Schlucker, und das gestehen sie ja auch ziemlich gutwillig durch ihre Versicherung, daß alles sie langweilt. Lassen wir sie also nach Herzenslust gähnen, und wäre es im siebenten Himmel, und verzichten wir auf die frohen Gedanken nur in der Tragödie und in der Elegie. Aber so sehr sie auch gähnen, sie lassen es dabei nicht bewenden. Sie wollen uns auch noch das Reich der Mythologie rauben. Doch wir wollen sie mit dem Blitz des gewaltigen Boileau niederschmettern:

Bald ist's verpönt, die Weisheit vorzuführen,
Mit Wag' und Binde Themis zu zitieren66-1.

Sie wollen die alte Mythologie in Bann tun, damit wir uns eine neue ersinnen und uns den frommen Henkern ausliefern, in deren Händen Galilei — einer der ihren — fast umkam. Lassen wir das, meine Brüder, und behalten wir unser Besitztum! Was liegt daran, welcher Alte diese geistreichen Allegorien ersann? Benutzen wir sie mit Verstand und am rechten Orte. Es kommt nur darauf an, sie geschickt anzubringen. Glauben sie etwa, es gäbe neue Gedanken? Da täuschen sie sich. Unser Ideenkreis ist nicht so weit, wie sie wähnen. Neu ist an den meisten Gedanken nur die Form und die Art ihrer Darstellung. Wer uns engere Grenzen zieht, macht uns arm; unsre Kunst braucht Überfluß und Verschwendung. Cicero66-2 wünscht, bei einem angehenden Redner Überschüssiges wegschneiden zu können. Mit Recht. Wir glauben ihm mehr als Euklid, trotz all seiner Gelehrsamkeit. Schon Salomo hat gesagt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Er hat sich nicht geirrt, wenn man von einigen metaphysischen Abgeschmacktheiten absieht, von denen schwer zu erraten war, daß der menschliche Geist sie eines Tages aushecken und ein furchtgebietendes System daraus zimmern würde. Aber es kommt noch besser: Leibniz und Newton haben fast gleichzeitig die gepriesene Integralrechnung erfunden. Wenn also zwei Mathematiker sich in den abstraktesten Gedanken begegnen und die andren ewig ihre Kurven berechnen, warum will man uns dann das Recht nehmen, die antike Mythologie zu benutzen? Haben wir darauf nicht den gleichen Anspruch wie auf die Systeme von Newton oder Descartes? Ich wiederhole: unser Gebiet ist die Wirklichkeit und die Welt der Phantasie. Benutzen wir alles und folgen wir dem Beispiel der Natur, die sich in dem, was sie schafft, stets wiederholt, aber nie abschreibt.

Ach, meine Herren Mathematiker, was haben Sie für eine sonderbare Logik! Da Sie Anakreon nichts anhaben können, setzen Sie zunächst die Gattung, in der er gedichtet hat, herab, und dann sagen Sie: das Original darf nicht kopiert werden!<67> Wir Dichter bitten Sie submissest um Verzeihung, wenn Ihre Richtersprüche bei uns so wenig Geltung finden. Sie müssen irgend eine falsche Zahl in Ihre Rechnung eingesetzt haben; denn wenn Eure Hoheiten gütigst erlauben, machen wir Sie darauf aufmerksam, daß ein gewisser Chaulieu und ein Mann namens Gresset besagten Anakreon mit Glück nachgeahmt haben, daß ihre Werke manches Schöne enthalten, auf das Sie kein Auge geworfen haben, kurz, daß Sie von unsren Dichtern reden wie der Blinde von der Farbe. Die Poesie ist keineswegs eine bloße Phantastekunst, sondern eine Kunst der Nachbildung: Ut pictura poesis erit67-1.

Wie gesagt: die Poesie soll alle Gebilde der Natur und alle Regungen des Gemüts malen, soll das Gewaltige mit dem Lieblichen paaren, soll belehren und ergötzen. Und das gelingt den Dichtern, denen die Natur Genie und Talent verliehen hat. Und wenn es schlechten Dichtern wie z. B. mir nicht gelingt, so beweist das nichts gegen die Kunst. Die Schönheit bleibt ihr unzerstörbares Erbteil, auch wenn tausend Chapelains und Pradons67-2 dagegen sündigen.

Nachdem unsre Feinde uns soviel Anlaß zu Klagen gegeben, meine Brüder in Apoll, stellt sich hier ein Grund zur Dankbarkeit ein. Sie geruhen nämlich, die hehren Ausdrücke ihrer erhabenen Wissenschaft auf uns anzuwenden, und beehren uns — vielen Dank dafür — mit Formeln, um uns klarzumachen, daß unsre Formeln in der Prosa abgeschmackt sind. Die Poesie ist die Sprache der Götter und die Prosa die der Lastträger. Da nun so verschiedene Redeweisen auch verschiedene Ausdrücke haben müssen, so sehe ich nicht ein, warum sie sich ereifern. Sollten vielleicht gewählte Worte, wie „zuvor“, „verscheiden“, „Gewaffen“, „Roß und Reisige“, die zur Dichtersprache gehören, nicht in ihren Gleichungen vorkommen? Die Poesie besitzt ohne Zweifel Wendungen, die in der Prosa an anderer Stelle stehen als im Verse. So sagt Voltaire:

Mitrane, ja, geheimer Wink vom Thron
Führt dir Arsazes zu in Babylon67-3.

Der Prosaiker würde sagen: „Auf geheimen Befehl des Königs sollst du Arsazes in Babylon freien.“ Sollten wir aber nicht die Ehre haben, die Herren recht zu verstehen, so bitten wir sie inständigst, uns ihre erhabenen Gedanken klarzumachen, da wir sie sonst für dunkel halten müßten. Die Poesie hat ihre Regeln und die Prosa desgleichen, genau wie Athen und Sparta ihre Gesetze hatten, die dem Geiste des Volkes, für das sie geschaffen worden, angepaßt waren. Vielleicht aber wollten die neuen Gesetzgeber uns nur darüber belehren, daß die Regeln der Prosa andere sind als<68> die unsren. In diesem Falle danken wir ihnen für die ebenso neue wie tiefe Bemerkung, mit der sie uns beehren. Allerdings erinnere ich mich, schon so etwas gehört zu haben, und täuscht mich mein Gedächtnis nicht — denn ich bin nicht unfehlbar —, so ist das ein Diebstahl an Vaugelas68-1, den sie bei aller ihrer mathematischen Würde begangen haben. Nun aber frage ich sie: ist's ein Verbrechen, wenn die Poesie vor der Prosa den Vorrang hat? Dann müßte ja auch eine Melodie in drei Takten für schlecht gelten, weil sie nicht in vier Takten komponiert ist. Zum Glück denken wir nicht so, oder — wie man uns wohl vorwerfen könnte — wir sind keine Mathematiker und haben keine Ahnung davon, was philosophischer Geist ist. Die Mathematiker aber dürfen sich so viel Paradorien leisten, wie sie wollen. Jede Sophisterei wird durch den mathematischen Sinn sanktioniert.

Eine neue Entdeckung: sie machen uns darauf aufmerksam, daß der Geschmack an der Ode erkaltet. Dann wollen wir ihn doch wieder aufwärmen! Indes prüfen wir erst einmal, ob das zutrifft. Ich sehe Horaz und Rousseau68-2 in aller Händen; geistvolle Leute finden ihren Hochgenuß daran. Die Herren Mathematiker haben die Antwort bereit: „Schade um die Leute! Sie haben keinen philosophischen Sinn.“ Das ist der Kern des ganzen Streites, und diese Formel führt zu bündigen Schlüssen.

Unsre neuen Schulmeister dozieren: die Ode muß von Anfang bis zu Ende erhaben sein. Bitte lesen Sie doch die Abhandlung über das Erhabene von Longinus68-3, die Sie sicherlich nicht kennen. Aber solche raschen Richtersprüche haben etwas Imponierendes, das Sie mehr befriedigt als die Erörterung von so kindischem Zeug. Wollten wir es uns indes herausnehmen, Sie unsrerseits zu schulmeistern, so würden wir Ihnen submissest vorhalten, daß es mehr als eine Art von Oden gibt. Es gibt Pindarische, die man mit erhabenen Gedanken so vollpfropft, wie man kann, und andre, weniger erhabene, die auch ihren Reiz besitzen. Kurz, bei uns muß der Stil dem Gegenstand entsprechen. Wir ziehen alle Register des Pathos auf, wenn wir Zeus die Titanen stürzen lassen. Wir setzen einen Dämpfer auf, wenn Apoll die Daphne verfolgt, und stimmen unsren Sang vollends auf piano bei der Geschichte des Argus. Welcher Aufwand von Bescheidenheit! Unsre kurvenzeichnenden Despoten gestehen, sie wüßten nicht, was die schöne Regellosigkeit der Ode sei. Daraus schließe ich, daß es mit ihrer Kenntnis in der Poetik auch sonst nicht weit her ist. Um Ihnen jedoch die schöne Regellosigkeit der Ode klarzumachen, so gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Apollo ehedem seine Orakel durch den Mund einer Priesterin, der Pythia, verkündete. Die geriet in Ekstase und stieß die heiligen Worte begeistert hervor. Man nimmt nun an, der Dichter sei gleich ihr des Gottes voll. Sein verzückter Geist überspringt die verbindenden Gedanken, die zur Verkettung der gewöhnlichen<69> Rede dienen und die der denkende Leser sich leicht ergänzt. Seine Begeisterung stürmt zu den Kraftsiellen, und der Rest fällt als nebensächlich fort, da er nicht stracks zum Ziele führt. So drücken seine sich überstürzenden Worte nur das Wichtigste aus. Aber diese gesteigerte Sprache läßt sich auf die Dauer nicht durchhalten. Verständige Dichter schleudern sie nur wie Blitzstrahlen; dann dämpfen sie den Ton, weil alles sehr Leb, hafte kurz sein muß, just wie die tiefsten Wonnen der Menschheit.

Dürften wir wohl fragen, was ein Schüler der Logik von der folgenden Beweisführung halten würde: „Es sind schlechte Oden gedichtet worden, folglich hat der Geschmack sich von der Ode abgewandt.“ Er würde doch erkennen, daß der Geschmack sich nicht von der Ode, sondern nur von den schlechten Oden abwendet!

Kurz, unsre Gesetzgeber kommen mit der Sprache heraus und veröffentlichen ihre Gesetze: Wir danken ihnen! Offenbar machten Racine, Boileau und Voltaire regellose Verse, und für die Zukunft mußte eine Regel festgesetzt werden. Aber die Herren sagen ja nur Wohlbekanntes. Vielleicht gestatten sie uns eine Erklärung über gewisse Dinge, in die tiefer einzudringen sie sich offenbar nicht die Zeit genommen haben. Der Vers soll ebenso natürlich und grammatisch korrekt sein wie die beste Prosa. Das ist das große Verdienst Racines, durch das er seinen Ruf so lange behalten wird, wie die französische Sprache nicht entartet. Aber damit isi doch nicht gesagt, daß die Poesie keine Ausnahmen zuließe und daß man sie genau so beurteilen müßte wie die Prosa. Die Ellipse isi in der Poesie eine Schönheit. Wie fein sagt Racine:

Lieb war er mir im Unbestand. Was galt mir Treue?69-1

So spricht Hermione in einem Augenblick der Leidenschaft. In Prosa müßte es unbedingt heißen: „Was lag mir an seiner Treue?“ Nach den Regeln der Despoten wäre dieser Vers Racines also nichts wert. Daraus schließe ich, daß ungerechte Gesetze nichts taugen, und schließe ich falsch, dann sieht man's ja: ich habe keinen philosophischen Sinn.

Von einem Dichter verlangt man richtiges Denken, stete Eleganz und Harmonie, Zusammenhang und Aufbau der Gedanken, einen dem Gegenstand angemessenen Stil, Anmut, Reichtum und Mannigfaltigkeit, vor allem aber die Kunst, zu fesseln. Das alles sind Gaben der Natur, die man Genie und Talent nennt, die sich durch Studium der guten Autoren vervollkommnen und durch Geschmack verfeinern lassen. Wir wagen zu behaupten: wem immer diese Himmelsgaben verliehen wurden, der bedarf keines PrivUegs von unsren Despoten, um Leser und Bewunderer zu finden. Diese wahrhaft göttlichen Gaben sind bei allen zivilisierten Völkern und in allen<70> Zeitaltern so selten, daß die Namen derer, die sie besaßen, das Gedächtnis der Kunstfreunde nie beschweren werden. Vielleicht könnte man hinzufügen: die Mathematiker waren verbreiteter; denn mit Fleiß und rein mechanischer Kunstfertigkeit kann jedermann Kurven berechnen. Doch wir hüten uns, eine so waghalsige und ketzerische Behauptung aufzustellen, und begnügen uns mit der Versicherung, daß die Dichtkunst das größte Genie im Bunde mit mächtiger, aber geregelter Einbildungskraft erfordert.

Ich zitterte schon, als ich die neuen mathematischen Gesetze für die Poesie las, und fürchtete nicht ohne Grund, die Gesetzgeber möchten sich's beikommen lassen, den Reim zu verpönen und an seiner Statt Zahlen an die Versenden setzen, die der Silbenzahl entsprechen. Das hätte sie mit der Poesie vielleicht wiederausgesöhnt, und sie hätten die Verse dann von Rechts wegen durch Zahlen und Berechnungen unterjocht. Aber zum Glück sind sie nicht auf den Einfall gekommen. Sie waren so gütig, den Reim gutzuheißen, ja ihn für den französischen Versbau als notwendig zu fordern.

Es demütigt uns, daß sie ihre Gesetze so trocken verkünden, ohne sie zu begründen. Wir durften hoffen, sie würden mit ihrem philosophischen Sinn die Frage ergründen, ob der Reim oder das Versmaß unsre Alexandriner eintönig macht. Fällt beim Lesen solcher Verse auf die Dauer etwas zur Last, so ist es die ewige Wiederkehr des gleichen Rhythmus, ein Mißstand, dem sich durch wechselnde Versmaße leicht abhelfen ließe. Wir wähnten, unsre Schulmeister hätten irgend eine physikalische, aus der sinnlichen Wahrnehmung abgeleitete Betrachtung über den Reim angestellt und damit die Meinung des größten zeitgenössischen Dichters bestätigt. Denn der Maler und Bildhauer schafft für das Auge, der Dichter und Musiker aber für das Gehör. Jeder Künstler gehört vor den Richterstuhl des Sinnes, für den er schafft. Also haben die Ohren und nicht die Augen über den Reim zu entscheiden. Allein die Mathematiker würden sich etwas zu vergeben meinen, wenn sie zu solchen Kleinigkeiten herabstiegen. Das hieße ja, Milben mit der Keule des Herkules erschlagen.

Dieselben Herren wollen die Poesie aus der Musik verbannen und sie durch rhythmische Prosa ersetzen. Wir haben Anlaß zu glauben, daß sie ob der Harmonie der Sphären in Verzückung geraten waren, als ihnen dieser Gedanke entfuhr. Nicht Prosa braucht die Musik, sondern, wenn es doch gesagt werden muß, Verse mit männlichen Reimen. Da wir aber keine despotischen Gesetze erlassen, müssen wir unsre Meinung begründen. Beim Sprechen verletzt das stumme e das Ohr nicht; denn im Französischen liegt der Ton nicht auf der letzten Silbe. Nicht so bei der Musik. Die Note, die zur letzten Silbe gehört, muß betont werden, und durch diese Dehnung wirkt das an sich stumme e unangenehm und verletzend.

Unsre Mathematiker führen uns nun zum zweitenmal ihren Greis vor, offenbar ihr Lieblingsargument! Prüfen wir es aufmerksam und sehen wir zu, ob es tat<71>sächlich gegen die Poesie spricht. Um zu beweisen, daß die Poesie nur eine seichte Kurzweil sei, müßte jeder Mensch auf Erden in einem bestimmten Alter den Geschmack an der Poesie verlieren, wie die Kinder ihre Puppen nicht mehr mögen, ohne daß ein äußeres Motiv hinzuträte. Wenn es aber in Pais ein paar faselnde Greise, Misanthropen, Hypochonder, Kranke, Gelähmte und Schlagflüssige gibt: was beweist das? Doch nur, daß ein kranker und grämlicher Greis die Freuden seiner Jugend nicht mehr zu genießen vermag! Wenn ein Pascal, ein Malebranche die Poesie nicht liebten und beide großen Männer sie wie Dummköpfe beurteilten, so beweist das doch nur, daß man Unsinn redet, wenn man seine Sache nicht versieht, und daß es eine große Lehre für die Menge, ja selbst für die Philosophen ist, sich über alles zu unterrichten, bevor man urteilt. Uns ist es daher sehr recht, wenn alle Greise, die ihre seelische Spannkraft eingebüßt haben, keine Verse mehr lesen und Mathe, matiker werden.

Unser Gesetzgeber scheint bisweilen milder zu werden. Racine findet Gnade vor ihm; aber warum behandelt er die guten Stücke von Corneille nicht ebenso, und Boileau, den wahren Gesetzgeber des Parnasses, und Rousseau, den französischen Horaz? La Fontaine scheint mehr zu taugen als die übrigen. Aber hier enthüllen sich wieder die unheilvollen Absichten der Mathematiker. Nachdem sie mathematisch sirenge Gesetze erlassen haben, verfallen sie darauf, La Fontaines liebenswürdige Nachlässigkeit als Muster hinzustellen. Die Dialektik der Algebraiker ist fürwahr unverständlich für uns arme Poeten, die wir nach den gewöhnlichen Regeln der Logik denken.

Doch zitieren wir ihre eignen Worte: „Der Geist will vom Dichter stets ergötzt werden, will aber zugleich ausruhen können. Das findet er bei La Fontaine, dessen Nachlässigkeit ihren eignen Reiz hat, um so mehr, als sein Gegenstand es erfordert.“ So ruht sich der Geist der Mathematiler in den Nachlässigkeiten der Dichter aus, und es gibt Gegenstände, die nachlässige Dichter erfordern! Das nenne ich philosophische Urteile! Es ist klar, daß die Herren uns zum besten haben und auf dem Parnaß nur regieren wollen, um dort alles in Aufruhr zu versetzen und auf den Kopf zu stellen. Langweilen sie sich bei VirgU, so geschieht es, um ihn anzuschwärzen und uns weiszumachen, daß sein Ruf sich nur auf ein Vorurteil der Schulweisheit gründet. Loben sie Tasso, so geschieht es, weil es, nachdem Virgil abgefertigt ist, nur zweier Federstriche bedarf, um Tassos Abgeschmacktheiten an den Tag zu legen und ihm gleichfalls den Garaus zu machen. Und wenn es keine Dichtung mehr gibt, wird sich die Welt mit Kurven aller Art die Zeit vertreiben. Die Damen werden bei ihrer Toilette das Vorrücken der Tag- und Nachtgleiche berechnen. Das Boudoirgeplauder wird sich um Einfalls- und Reflexionswinkel, Kegelschnitte und alle Algebra der Welt drehen. Trotzdem wage ich unsren kurvenzeichnenden Gesetzgebern vorherzusagen, daß diese glückliche Zeit nie kommen, oder wenn sie kommt, nicht lange währen wird. Als Bürger des Weltenraumes kennen sie die Menschen nicht. Man<72> erwiese uns einen schlechten Dienst, wenn man uns die Poesie und ihre Freuden vergällte, und bestünden sie auch nur aus Trug und Irrtum, wenn man uns eine holde Kunst raubte, die unsre Sitten mildert, uns tröstet, den Geist erhebt und uns zerstreut.

Übrigens verlangen wir nicht von allen den gleichen Geschmack. Wir zwingen die Freunde der Poesie nicht, einen Dichter einem andern vorzuziehen. Wir finden es vielmehr ungerecht, seinen eignen Geschmack der Welt als allgemeines Gesetz vorzuschreiben.

Oh, meine Brüder in Apoll! An Euch wende ich mich nun, nachdem ich alle Listen und Fallstricke offenbart habe, mit denen unsre Feinde uns verderben wollen. Ihr seht, die Mathematiker wollen den Krieg in unser Land tragen, wollen uns das Reich der Mythologie rauben. Rüsten wir uns beizeiten zur Abwehr. Machen wir es wie die Römer, denen es durch Scipios Zug nach Afrika gelang, Hannibals Krieg auf karthagisches Gebiet hinüberzuspielen. Tragen wir gleichfalls den Krieg in Feindesland. Man wirft uns vor, wir schmückten uns mit den Federn der Mythoslogie. Beweisen wir ihnen, daß auch ihr Newton ein Plagiator ist. Er hat seine Berechnung der Planetenbewegung von Huyghens72-1 entlehnt, die Anziehung durch plastische oder geheime Kräfte von den Neuplatonikern72-2, den Begriff des Leeren von Epikur. Er hat dem Nichts ein Dasein gegeben und was schlimmer ist, das Nichts ausgemessen. Die Sache verhält sich so. Alle Planeten schweben im Leeren. Der Abstand zwischen zwei Planeten ist berechnet, z. B. auf drei Millionen Meilen von der Erde zum Jupiter. Damit sind also drei Millionen Nichtse berechnet. Was man aber berechnet, existiert, also kann das Nichts existieren. Durch solche Angriffe werdet Ihr sie zwingen, Euch den Frieden anzubieten, und es soll zur Bedingung gemacht werden, daß fortan jedermann nur von dem reden darf, was er versieht, und sich wohl hüten muß, den Künsten Gesetze vorzuschreiben, bevor er seinen Gegenstand kennt, daß die Architekten beim Bau eines Hauses nicht mit dem Dach, sondern mit den Fundamenten beginnen sollen, und daß man Geschichte nur nach der chronologischen Reihenfolge und nicht umgekehrt studieren darf.

Ich für mein Teil erkläre, daß ich auf meine alten Tage die Poesie ebenso leidem schaftlich liebe wie in meiner Jugend, und ich bitte Apollo, er möge mich gnädig in dem wahren und orthodoxen poetischen Glauben erhalten, den Homer uns gelehrt, Virgil ausgebaut, Horaz erklärt und kommentiert hat, dessen Apostel Tasso, Petrarca,<73> Ariost, Milton, Boileau, Racine, Corneille, Voltaire und Pope waren und der durch ununterbrochene Überlieferung bis auf uns gekommen ist. In diesem Glauben will ich leben und sterben, auf daß meine Seele nach meinem Tode zur Schar der erwählten seligen Geister eingehen möge, die im Elysium wohnen.

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Über die deutsche Literatur
Die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, ihre Ursachen und die Mittel zu ihrer Verbesserung (1780)74-1

Sie wundern sich, mein Herr, daß ich nicht in Ihren Beifall über die Fortschritte einstimme, die nach Ihrer Meinung die deutsche Literatur täglich macht. Ich liebe unser gemeinsames Vaterland ebensosehr wie Sie, und darum hüte ich mich wohl, es zu loben, bevor es Lob verdient. Das hieße ja einen Wettläufer mitten im Laufe als Sieger ausrufen. Ich warte, bis er sein Ziel erreicht hat. Dann wird mein Beifall ebenso aufrichtig wie wahr sein.

Wie Sie wissen, herrscht in der Gelehrtenrepublik Meinungsfreiheit. Sie haben Ihren Standpunkt und ich den meinen. Gestatten Sie also, daß ich Ihnen meine Denkweise und meine Ansichten über die alte und neue Literatur darlege, sowohl in Bezug auf die Sprache wie auf die Kenntnisse und den Geschmack.

Ich beginne mit Griechenland, als der Wiege der schönen Künste. Die Griechen besaßen die wohllautendste Sprache, die es je gegeben hat. Ihre ersten Theologen, ihre ersten Geschichtsschreiber waren Dichter. Sie gaben der Sprache glückliche Wem dungen, schufen eine Fülle malerischer Ausdrücke und lehrten ihre Nachfolger, sich mit Grazie, Höflichkeit und Anstand ausdrücken.

Von Athen gehe ich nach Rom. Dort finde ich eine Republik, die lange gegen ihre Nachbarn ringt, die um Ruhm und Herrschaft kämpft. Alles im römischen Staate war Nerv und Kraft. Erst nach der Niederwerfung seiner Nebenbuhlerin Karthago bekam Rom Geschmack für die Wissenschaften. Der große Africanus74-2, der Freund des Laelius und Polybios, war der erste Römer, der die Wissenschaften schirmte. Nach ihm kamen die Gracchen, dann Antonius und Crassus, zwei zu ihrer Zeit berühmte Redner. Kurz, die Sprache, der Stil, die römische Beredsamkeit gelangten zur Vollendung erst in der Zeit des Cicero und Hortensius und durch die Schöngeister, die das augusteische Zeitalter zierten.

Diese kurze Übersicht zeigt mir den Gang der Dinge. Ich bin überzeugt, daß ein Autor nicht gut zu schreiben vermag, wenn die Sprache, die er spricht, nicht geformt<75> und geschliffen ist. Ich sehe, daß man in allen Ländern mit dem Notwendigen beginnt und erst später das Angenehme hinzufügt. Die römische Republik entsteht; sie kämpft um die Eroberung von Ländern und kultiviert sie. Sobald sie nach den Punischen Kriegen feste Gestalt gewonnen hat, stellt sich der Geschmack an den Künsten ein; die lateinische Sprache und Beredsamkeit vervollkommnen sich. Allein ich übersehe nicht, daß zwischen dem ersten Africanus und Ciceros Konsulat eine Zeitspanne von hundertsechzig Jahren liegt.

Daraus schließe ich, daß die Fortschritte in allen Dingen langsam sind, und daß der Kern, den man in die Erde legt, erst Wurzel schlagen, wachsen, seine Zweige ausbreiten und kräftig werden muß, bevor er Blüten und Früchte hervorbringt.

Nach dieser Regel untersuche ich nun Deutschland, um die gegenwärtige Lage richtig zu beurteilen. Ich reinige meinen Geist von allen Vorurteilen: die Wahrheit allein soll mir leuchten. Ich finde eine halbbarbarische Sprache, die in ebenso viele Mundarten zerfällt, als Deutschland Provinzen hat. Jeder Kreis bildet sich ein, seine Redeweise sei die beste. Es gibt noch keine von der Nation anerkannte Sammlung einer Auswahl von Wörtern und Ausdrücken, die die Reinheit der Sprache feststellt. Was man in Schwaben schreibt, wird in Hamburg nicht verstanden, und der österreichische Stil erscheint den Sachsen dunkel. Aus diesem äußeren Grunde ist ein Schriftsteller auch bei der schönsten Begabung außerstande, diese rohe Sprache in vorzüglicher Weise zu handhaben. Verlangt man von einem Phidias, er solle eine knidische Venus bilden, so gebe man ihm einen fehlerlosen Marmorblock, feine Meißel und gute Spitzhämmer. Dann kann es ihm gelingen: ohne Werkzeuge keine Künstler.

Vielleicht wird man mir einwenden, daß die griechischen Republiken einst ebenso viele verschiedene Mundarten hatten wie wir. Man wird hinzufügen, daß man selbst in unsren Tagen die engere Heimat der Italiener an Stil und Aussprache erkennt, die von Landschaft zu Landschaft wechseln. Ich zweifle diese Wahrheiten nicht an, aber das darf uns nicht hindern, den Verlauf der Tatsachen im alten Griechenland wie im modernen Italien zu verfolgen. Die berühmten Dichter, Redner und Geschichtsschreiber stellten die Sprache durch ihre Schriften fest. Das Publikum übernahm durch stillschweigende Übereinkunft die Wendungen, Ausdrücke und Bilder, die die großen Künstler in ihren Werken geprägt hatten. Diese Ausdrücke wurden Allgemeingut. Sie verfeinerten, bereicherten und veredelten jene Sprachen.

Werfen wir nun einen Blick auf unser Vaterland. Ich höre ein Kauderwelsch reden, dem jede Anmut fehlt, das jeder nach seiner Laune handhabt. Die Ausdrücke werden wahllos angewandt, die treffendsten und bezeichnendsten Wörter vernachlässigt, und der eigentliche Sinn ertrinkt in einem Meere von Beiwerk.

Ich stelle Nachforschungen an, um unsern Homer, unsern Virgil, Anakreon und Horaz, unsern Demosthenes, Cicero, Thutydides und Livius auszugraben. Ich finde nichts, meine Mühe ist umsonst. Seien wir also aufrichtig und gestehen wir uns ehrlich: die schönen Künste sind auf unserm Boden bisher nicht gediehen. Deutschland<76> hat Philosophen hervorgebracht, die den Vergleich mit den alten aushalten, ja, sie in mehr als einer Hinsicht übertroffen haben. Ich behalte mir vor, in der Folge darauf zurückzukommen.

Was die schöne Literatur angeht, so wollen wir unsre Armut nur ruhig zugeben. Alles, was ich Ihnen einräumen kann, ohne mich zum niedrigen Schmeichler meiner Landsleute zu machen, ist dies: Wir haben in der kleinen Gattung der Fabeln einen Gellert gehabt, der sich neben Phädrus und Äsop zu stellen gewußt hat. Die Dichtungen von Canitz76-1 sind erträglich, nicht wegen ihrer Diktion, sondern eher als schwache Nachahmung des Horaz. Nicht übergehen will ich die Idyllen von Geßner76-2, die einige Anhänger gefunden haben. Erlauben Sie mir jedoch, den Werken des Catull, Tibull und Properz den Vorzug zu geben.

Gehe ich die Historiker durch, so finde ich nur die deutsche Geschichte von Professor Mascov76-3, die ich als die wenigst unvollständige anführen kann. Soll ich ehrlich vom Verdienst unsrer Redner sprechen? Da kann ich nur den berühmten Quandt76-4 aus Königsberg vorführen, der das seltene und einzige Talent besaß, seiner Sprache Wohllaut zu verleihen. Und ich muß zu unsrer Schande hinzufügen, daß sein Verdienst weder anerkannt noch gefeiert wurde. Wie kann man von den Menschen verlangen, daß sie sich Mühe geben, sich in ihrem Fache zu vervollkommnen, wenn der Ruhm nicht ihr Lohn ist?

Ich füge zu den Genannten noch einen anonymen Autor hinzu, dessen ungereimte Verse ich las76-5. Ihr Tonfall und Wohlklang kam von einem Gemisch von Daktylen und Spondäen. Sie hatten Sinn und Verstand, und mein Ohr wurde angenehm berührt von wohlklingenden Lauten, die ich unsrer Sprache nicht zugetraut hätte. Ich gestatte mir die Vermutung, daß diese Art des Versbaus für unsre Sprache vielleicht die angemessenste und überdies dem Reim vorzuziehen ist. Wahrscheinlich würde man Fortschritte machen, wenn man sich die Mühe gäbe, sie auszubilden.

Vom deutschen Theater will ich garnicht reden. Melpomene ist nur von sehr rauhen Liebhabern umworben worden. Die einen liefen auf Stelzen, die andern krochen im Schlamme, aber alle verstießen gegen ihre Gesetze. Sie wußten weder zu fesseln noch zu rühren und wurden von ihren Altären gestürzt. Thaliens Liebhaber waren glücklicher. Sie haben uns wenigstens ein wirkliches, bodenwüchsiges Lust<77>spiel geliefert: den „Postzug“.77-1 Es sind unsre Sitten, unsre Lächerlichkeiten, die der Dichter da auf der Bühne bloßstellt. Das Stück ist gut gearbeitet. Hätte Molière das gleiche Thema bearbeitet, er hätte es nicht besser machen können.

Es tut mir leid, Ihnen kein größeres Verzeichnis unsrer guten Erzeugnisse vorlegen zu können. Ich klage die Nation deshalb nicht an: es fehlt ihr weder an Geist noch an Talent, aber äußere Ursachen verhinderten sie daran, sich mit ihren Nachbarn zugleich emporzuschwingen.

Gehen wir, wenn es Ihnen gefallt, bis zur Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften zurück, und vergleichen wir die Lage Italiens, Frankreichs und Deutschlands zur Zeit jener Umwälzung des menschlichen Geistes.

Wie Sie wissen, stand ihre Wiege wieder in Italien. Das Haus Este, die Medizäer und Papst Leo X., die sie beschützten, trugen zu ihren Fortschritten bei. Während Italien sich kultivierte, zerfiel Deutschland, durch Theologen verhetzt, in zwei Parteien, die sich durch ihren Haß aufeinander, durch Schwärmerei und Fanatismus hervortaten. Zur selben Zeit versuchte Franz I. von Frankreich, sich mit Italien in den Ruhm zu teilen, zur Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften beizutragen. Er erschöpfte sich in vergeblichen Anstrengungen, sie in sein Land zu verpflanzen: seine Bemühungen blieben fruchtlos77-2. Die Monarchie war durch das Lösegeld erschöpft, das sie für ihren König an Spanien zahlen mußte77-3, und befand sich in einem Zustande der Entkräftung. Die Kriege der Ligue, die nach dem Tode Franz' I. ausbrachen, hinderten die Bürger, sich den schönen Künsten zu widmen. Erst gegen Ende der Regierungszeit Ludwigs XIII., als die Wunden der Bürgerkriege verheilt waren, unter dem Ministerium des Kardinals Richelieu, in einer Zeit, die dem Unternehmen günstig war, nahm man den Plan Franz' I. wieder auf. Der Hof ermunterte die Gelehrten und Schöngeister. Alles wurde von Wetteifer ergrissen, und bald darauf, unter Ludwig XIV., stand Paris weder Rom noch Florenz nach.

Was geschah damals in Deutschland? Gerade als Richelieu sich durch die Geschmacksbildung seiner Nation mit Ruhm bedeckte, tobte der Dreißigjährige Krieg. Deutschland wurde von zwanzig verschiedenen Heeren verwüstet und geplündert, die bald siegreich, bald unterliegend, Not und Elend verbreiteten. Das Land war verheert, die Felder lagen brach, die Städte waren fast menschenleer. Nach dem Westfälischen Frieden fand Deutschland keine Zeit, sich zu erholen. Bald kämpfte es gegen die Macht des türkischen Reiches, das damals sehr furchtbar war. Bald widerstand es den französischen Heeren, die Germanien überschwemmten und das Reich der Gallier vergrößern wollten. Als die Türken Wien belagerten (1683) oder Mélac die Pfalz verwüstete (1689), als die Flammen Häuser und Städte in Asche legten, als die wilde Zügellosigkeit der Soldateska selbst das Asyl des Todes entweihte und<78> die toten Kaiser aus ihren Gräbern78-1 riß, um sie ihrer elenden Hüllen zu berauben, als verzweifelte Mütter sich mit ihren verhungerten Kindern im Arm aus den Trümmern der Heimat retteten — sollte man da zu Wien oder Mannheim Sonette dichten oder Epigramme machen? Die Musen verlangen ruhige Heimstätten. Sie fliehen die Orte, wo Verwirrung herrscht und alles zusammenstürzt. Wir fingen daher erst nach dem Spanischen Erbfolgekrieg an, das wiederherzustellen, was wir durch eine solche Kette von Mißgeschicken verloren hatten. Die geringen Fortschritte, die wir gemacht haben, fallen also weder dem Geist noch den Talenten der Nation zur Last. Wir dürfen sie nur einer Reihe unseliger Umstände zuschreiben, einer Verkettung von Kriegen, die uns zugrunde gerichtet, uns an Menschen und Geld arm gemacht haben.

Verlieren Sie den Faden der Ereignisse nicht. Folgen Sie unsren Vätern auf ihrem Wege, und Sie werden ihrem weisen Benehmen Beifall zollen. Sie haben genau so gehandelt, wie es sich in ihrer Lage gebührte. Sie haben sich zunächst der Landwirtschaft zugewandt, haben die Felder, die aus Mangel an Arbeitskräften unbestellt dalagen, wieder ertragfähig gemacht, die zerstörten Häuser aufgebaut, die Fortpflanzung aufgemuntert. Überall ging man emsig an die Urbarmachung brachliegenden Landes. Die zunehmende Bevölkerung erzeugte den Gewerbfleiß. Selbst der Luxus, der in kleinen Staaten eine Geißel ist, aber den Geldumlauf großer Reiche vermehrt, hat sich eingestellt. Kurz, reisen Sie jetzt in Deutschland, durchziehen Sie es von einem Ende zum andern, so werden Sie auf Ihrem Weg überall Flecken in blühende Städte verwandelt sehen, hier Münster, weiterhin Kassel, dort Dresden und Gera78-2. In Franken finden Sie Würzburg und Nürnberg. Auf dem Wege nach dem Rhein kommen Sie nach Fulda und Frankfurt, und weiterhin nach Mannheim, Mainz und Bonn. In jeder dieser Städte findet der erstaunte Reisende Bauten, die er im Hercynischen Walde wohl nicht anzutreffen glaubte. Die mannhafte Tatkraft unsrer Landsleute hat sich also nicht darauf beschränkt, die durch früheres Unglück erlittenen Verluste zu ersetzen. Sie strebte höher hinaus und verstand das zu vollenden, was unsre Vorfahren begonnen hatten.

Seit diesen vorteilhaften Veränderungen sehen wir den Wohlstand allgemeiner werden. Der dritte Stand schmachtet nicht mehr in schmählicher Erniedrigung. Die Väter können den Unterricht ihrer Kinder bestreiten, ohne sich in Schulden zu stürzen. Das sind die Grundlagen der glücklichen Umwälzung, die wir erwarten. Die Fesseln, die den Geist unsrer Vorfahren ketteten, sind zerbrochen. Schon merkt man, daß die Saat edlen Wetteifers in den Geistern aufkeimt. Wir schämen uns, unsren Nachbarn in manchem nicht gleichzustehen. Mit unermüdlicher Arbeit streben wir danach, die Zeit wieder einzuholen, die wir durch unser Mißgeschick verloren haben. Im allgemeinen ist der nationale Geschmack entschieden für alles, was unsrem Vaterlande zum Ruhm<79> gereichen kann. Bei solcher Gesinnung liegt es fast auf der Hand, daß die Musen auch uns in den Tempel des Ruhmes einführen werden.

Prüfen wir also, was uns zu tun übrig bleibt, um aus unsren Feldern das letzte Dorngestrüpp der Barbarei auszurotten und die so erwünschten Fortschritte zu beschleunigen, nach denen unsre Landsleute sireben.

Wie ich schon sagte: man muß damit anfangen, die Sprache zu vervollkommnen. Sie muß gehobelt und gefeilt, muß von geschickten Händen geformt werden. Klarheit ist die erste Regel für alle, die reden und schreiben wollen, da sie ja ihre Gedanken veranschaulichen, ihre Ideen durch Worte ausdrücken müssen. Was helfen die richtigsten, stärksten, glänzendsten Gedanken, wenn man sich nicht verständlich machen kann? Viele unsrer Schriftsteller gefallen sich in weitschweifigem Stil. Sie häufen Einschaltung auf Einschaltung, und oft findet man das Zeitwort, von dem der Sinn des ganzen Satzes abhängt, erst am Ende der Seite. Nichts verdunkelt den Satzbau mehr. Sie sind weitläufig, wo sie reich sein sollten. Das Rätsel der Sphinx läßt sich leichter erraten als ihre Gedanken.

Etwas andres schadet dem Fortschritt der Literatur ebensosehr wie die Mängel, die ich unsrer Sprache und dem Stil unsrer Schriftsteller vorwerfe, nämlich das Fehlen guter Studien. Unser Volk wurde der Pedanterie beschuldigt, weil wir eine Menge kleinlicher und schwerfälliger Kommentatoren gehabt haben. Um sich von diesem Vorwurf zu reinigen, fängt man an, das Studium der gelehrten Sprachen zu vernachlässigen. Um nicht für pedantisch zu gelten, ist man drauf und dran, oberfiächlich zu werden. Wenige von unsren Gelehrten können mühelos die klassischen Autoren, griechische wie lateinische, lesen. Will man aber sein Ohr am Wohllaut Homerischer Verse bilden, so muß man sie fließend lesen können, ohne Beihilfe eines Wörterbuches. Ein gleiches gilt für Demosthenes, Aristoteles, Thukydides und Plato. Auf dieselbe Weise muß man sich mit den lateinischen Autoren vertraut machen. Die heutige Jugend befaßt sich fast garnicht mehr mit dem Griechischen, und wenige lernen Latein genug, um die Werke der großen Schriftsteller, die Zierden des augusteischen Zeitalters, mittelmäßig übersetzen zu können. Und doch sind das die reichen Quellen, aus denen die Italiener, Franzosen und Engländer, unsre Vorgänger, ihre Kenntnisse geschöpft haben. An diese großen Vorbilder haben sie sich soviel wie möglich gehalten und von ihnen denken gelernt. Aber bei aller Bewunderung der großen Schönheiten, von denen die Werke der Alten wimmeln, sind ihnen auch deren Mängel nicht entgangen. Bei aller Hochschätzung soll man Kritik üben und niemals in blinde Schmeichelei verfallen.

Die schönen Tage, die Italiener, Franzosen und Engländer vor uns genossen haben, beginnen jetzt merklich abzunehmen. Das Publikum ist gesättigt von den bereits erschienenen Meisterwerken. Die Kenntnisse werden seit ihrer größeren Verbreitung weniger geachtet. Kurz, diese Völker glauben sich im Besitze des Ruhmes, den ihre Schriftsteller ihnen erworben haben, und schlafen auf ihren Lorbeeren ein.

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Aber ich weiß nicht, wie mich diese Abschweifung von meinem Gegenstand abgebracht hat. Kehren wir zum heimischen Herde zurück und fahren wir fort in der Prüfung der Mängel, die unsren Studien anhaften.

Ich glaube zu bemerken, daß die kleine Zahl guter und geschickter Lehrer für die Bedürfnisse unsrer Schulen nicht ausreicht. Wir haben viele Schulen, und alle wollen versorgt sein. Sind die Lehrer Pedanten, so verweilt ihr kleinlicher Geist bei Nichtigkeiten und vernachlässigt die Hauptsache. Breit, weitschweifig, langwellig, gehaltlos in ihrem Unterricht — so ermüden sie ihre Schüler und stößen ihnen Widerwillen gegen die Studien ein. Andre versehen ihr Amt nur ums Geld. Ob ihre Zöglinge durch ihren Unterricht etwas lernen oder nicht, ist ihnen gleich, wenn sie nur ihr Gehalt pünktlich ausgezahlt bekommen. Noch schlimmer ist es, wenn solche Lehrer selbst mangelhafte Kenntnisse besitzen. Wie sollen sie andren etwas beibringen, wenn sie selber nichts wissen? Aber Gott verhüte, daß es von dieser Regel keine Ausnahmen gäbe und daß man in Deutschland nicht einige tüchtige Lehrer fände! Ich bestreite das durchaus nicht. Nur wünschte ich innigst, ihre Zahl möchte größer sein.

Was wäre nicht über die fehlerhafte Methode zu sagen, mit der die Lehrer in Grammatik, Logik, Rhetorik und andren Wissenschaften unterrichten! Wie können sie den Geschmack ihrer Schüler bilden, wenn sie selber das Gute vom Mittelmäßigen und dies vom Schlechten nicht zu unterscheiden wissen, wenn sie Weitschweifigkeit mit reichem Stil, den gemeinen und niedrigen mit dem naiven, nachlässige, fehlerhafte Prosa mit schlichtem Stil, Schwulst mit dem Erhabenen verwechseln, wenn sie die Arbeiten ihrer Schüler nicht gewissenhaft verbessern, ihre Fehler nicht rügen, ohne sie zu entmutigen, und ihnen nicht mit Sorgfalt die Regeln einprägen, die sie beim Schreiben stets vor Augen haben sollen? Das gleiche gilt für die Richtigkeit der bildlichen Ausdrücke. Ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, in dem Widmungsbrief eines Professor Heineccius an eine Königin die schönen Worte gelesen zu haben: „Ihro Majestät glänzen wie ein Karfunkel am Finger der jetzigen Zeit.“80-1 Kann man ein schieferes Bild gebrauchen? Warum ein Karfunkel? Hat die Zeit einen Finger? Man stellt sie mit Flügeln dar, weil sie unablässig entflieht, mit einem Stundenglase, weil sie die Stunden einteilt. Man gibt ihr eine Sense m die Hand, zum Zeichen, daß sie alles Lebende niedermäht und zerstört. Wenn aber schon Professoren sich in so läppischem und niedrigem Stil ausdrücken, was soll man dann von ihren Schülern erwarten?

Gehen wir nun von den Schulen zu den Universitäten über und untersuchen wir sie ebenso unparteiisch. Der Fehler, der mir am meisten in die Augen springt, ist der<81> Mangel einer allgemeinen Methode für den gelehrten Unterricht. Jeder Professor hat seine eigne. Nach meiner Ansicht gibt es nur eine gute Methode; an die muß man sich halten. Wie aber geht es heute zu? Ein Professor der Jurisprudenz z. B. hat einige Lieblingsjuristen, deren Meinungen er erklärt. Er hält sich an ihre Werke und verschweigt, was andre Autoren über das Recht geschrieben haben. Er streicht die Würde seiner Wissenschaft heraus, um seine eignen Kenntnisse ins Licht zu setzen. Er glaubt für ein Orakel zu gelten, wenn er in seinen Vorträgen dunkel ist. Er spricht von den Gesetzen von Memphis, wenn es sich um das Osnabrücker Gewohnheitsrecht handelt81-1, oder bläut einem würdigen Zögling des Klosters Sankt Gallen die Gesetze des Minos ein. Der Philosoph hält sich ungefähr in der gleichen Weise an sein Lieblingssystem. Die Schüler verlassen sein Kolleg voller Vorurteile. Sie haben nur einen kleinen Teil der philosophischen Systeme vernommen und kennen weder all ihre Irrtümer noch all ihre Ungereimtheiten. Was die Medizin betrifft, so schwanke ich noch, ob sie eine Kunst ist oder nicht. Jedenfalls aber bin ich überzeugt, daß kein Mensch die Macht besitzt, einen Magen, Lungen oder Nieren zu erneuern, wenn diese wichtigen Organe des menschlichen Lebens schadhaft sind. Meinen Freunden rate ich ernstlich, im Krankheitsfalle lieber einen Arzt zu rufen, der schon mehrere Kirchhöfe angefüllt hat, als einen Schüler Hoffmanns81-2 oder Boerhaves81-3, der noch keinen umgebracht hat. Gegen die Mathematiklehrer habe ich nichts einzuwenden. Die Mathematik ist die einzige Wissenschaft, die keine Selten erzeugt hat. Sie beruht auf Analysis, Synthesis und Berechnung. Sie beschäftigt sich nur mit greifbaren Wahrheiten, und so hat sie denn in allen Ländern die gleiche Methode. Auch der Theologie gegenüber hülle ich mich in ehrfürchtiges Schweigen. Man sagt, sie sei eine göttliche Wissenschaft und Ungeweihte dürften das heilige Rauchfaß nicht berühren. Mit den Herren Geschichtsprofessoren darf ich wohl etwas weniger behutsam verfahren und bei ihrer Prüfung einige leise Zweifel ausdrücken. Ich gestatte mir die Frage an sie: Ist das Studium der Chronologie das Wichtigste in der Geschichte? Ist es eine unverzeihliche Sünde, sich im Todesjahr des Belos81-4 zu irren, oder in dem Tage, da Darius durch das Wiehern seines Pferdes auf den persischen Thron erhoben wurde? Zu welcher Stunde die Goldene Bulle bekannt gemacht wurde, ob um sechs Uhr morgens oder um vier Uhr nachmittags? Was mich betrifft, so genügt mir der Inhalt der Goldenen Bulle und daß sie im Jahre 1356 erlassen wurde. Ich will damit zwar nicht die Historiker in Schutz nehmen, die Verstöße in der Zeitrechnung begehen. Aber ich würde ihnen solche kleinen Fehler eher nachsehen als bedeutende Mängel,<82> wie z. B. verworrene Darstellung der Begebenheiten, unklare Entwicklung der Ursachen und Wirkungen, Außerachtlassen aller Methode, schwerfälliges Verweilen bei Kleinigkeiten und oberflächliches Berühren der Hauptsachen. Über die Genealogie denke ich fast ebenso. Ich meine, man soll einen Gelehrten nicht steinigen, weil er den Stammbaum der heiligen Helena, Kaiser Konstantins Mutter, oder der Hildegard, der Gattin oder Geliebten Karls des Großen, nicht zu entwirren vermag. Man soll nur das Wissenswerte lehren und den Rest übergehen.

Vielleicht finden Sie mein Urteil zu streng. Da hienieden nichts vollkommen ist — so werden Sie schließen —, haften auch unsrer Sprache, unsren Schulen und Universitäten Mängel an. Sie werden hinzufügen, die Kritik sei leicht, aber die Kunst schwer, und wenn man es besser machen wolle, müsse man die Regeln angeben, die zu befolgen sind. Ich bin gern erbötig, mein Herr, Sie zufriedenzustellen. Ich glaube, wenn andre Nationen sich vervollkommnen konnten, so haben wir die gleichen Mittel wie sie, und es kommt nur auf ihre Anwendung an. Schon lange habe ich in meinen Mußestunden darüber nachgedacht. Der Gegenstand ist mir also geläufig genug, um ihn zu Papier zu bringen und ihn Ihrer Einsicht zu unterbreiten, zumal ich nicht den geringsten Anspruch auf Unfehlbarkeit mache.

Beginnen wir mit der deutschen Sprache. Ich werfe ihr vor, daß sie weitschweifig, spröde und unmelodisch ist und daß es ihr an der Fülle bildlicher Ausdrücke gebricht, die so notwendig sind, um gebildeten Sprachen neue Wendungen und Anmut zu geben. Zur Bestimmung des Weges, den wir einschlagen müssen, um dies Ziel zu erreichen, untersuchen wir, welchen Weg unsre Nachbarn gegangen sind.

In Italien sprach man zur Zeit Karls des Großen noch eine barbarische Mundart, ein Gemisch hunnischer und longobardischer Worte, mit lateinischen Wendungen vermengt, die aber dem Ohr eines Cicero oder Virgil unverständlich gewesen wären. Diese Mundart blieb, wie sie war, in den nachfolgenden Jahrhunderten der Barbarei. Lange nachher erschien Dante. Seine Verse entzückten seine Leser, und die Italiener begannen zu glauben, daß ihre Sprache die der Welteroberer ablösen könnte. Später, kurz vor und während der Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften, blühten Petrarca, Ariost, Sannazaro82-1 und Kardinal Bembo.82-2 Der Genius dieser berühmten Männer legte die italienische Sprache im wesentlichen fest. Zugleich bildete sich die Akademie della Crusca82-3, die über die Erhaltung und Reinheit des Stils wacht.

Ich gehe nun zu Frankreich über. Ich finde die Art, wie man am Hofe Franz' I. sprach, mindestens ebenso mißtönig wie unser heutiges Deutsch. Mögen die Be<83>wunderer von Marot83-1, Rabelais83-2 und Montaigne83-3 mir vergeben: ihre rohen, anmutlosen Schriften haben mir nichts als Langeweile und Ekel verursacht. Nach ihnen, gegen Ende der Regierung Heinrichs IV., erschien Malherbe83-4, der erste Dichter, den Frankreich gehabt hat. Oder besser gesagt, als Versmacher ist er weniger fehlerhaft wie seine Vorgänger. Zum Beweis dafür, daß er es in seiner Kunst noch nicht zur Vollendung gebracht hat, brauche ich Sie nur an die Verse zu erinnern, die Sie aus einer seiner Oden kennen:

Nimm, Ludwig, Deinen Blitz, und wie ein Leu
Schlag mit dem letzten Schlag das letzte Haupt
Der Rebellion entzwei!

Sah man je einen Löwen mit einem Blitzstrahl bewaffnet? Die Fabel legt den Blitz in die Hand des Göttervaters oder leiht ihn dem Adler, der ihn begleitet, aber nie hat der Löwe dies Attribut gehabt. Doch verlassen wir Malherbe mit seinen schiefen Bildern und kommen wir zu Corneille, Racine, Boileau, Bossuet, Flechier, Pascal, Fénelon, Boursault83-5 und Vaugelas83-6, den wahren Vätern der französischen Sprache. Sie haben den Stil gebildet, den Wortgebrauch festgelegt, den Tonfall der Sätze harmonisch gemacht und der alten mißtönigen, barbarischen Mundart ihrer Voreltern Kraft und Energie verliehen. Die Werke dieser Schöngeister wurden verschlungen. Was gefällt, bleibt im Gedächtnis. Wer literarisches Talent besaß, ahmte sie nach. Stil und Geschmack dieser großen Männer teilte sich seitdem der ganzen Nation mit.

Gestatten Sie mir jedoch, einen Augenblick stehenzubleiben. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß in Griechenland, in Italien und Frankreich die Dichter die ersten waren, die ihre Sprache biegsam und wohlklingend machten. Dadurch war sie schon geschmeidiger und bildsamer, als die nachfolgenden Prosaschriftsteller sie übernahmen.

Gehe ich nun zu England über, so finde ich ein ähnliches Bild, wie ich es von Italien und Frankreich entworfen. England wurde von den Römern, den Sachsen, den Dänen und endlich von Wilhelm dem Eroberer, Herzog der Normandie, unterjocht (1066). Aus dem Sprachwirrwarr seiner Besieger entstand unter Beimischung der Mundart, die noch jetzt in Wales gesprochen wird, die englische Sprache. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß sie in jenen barbarischen Zeiten mindestens ebenso roh war wie die Sprachen, von denen vorhin die Rede war. Doch die Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften hatte bei allen Völkern die gleiche<84> Wirkung. Europa war der krassen Unwissenheit müde, in der es so viele Jahrhunderte geschmachtet hatte: es wollte sich aufklären. England, stets eifersüchtig auf Frankreich, strebte nach Hervorbringung eigner Schriftsteller, und da man zum Schreiben eine Sprache haben muß, fing es an, die seine zu vervollkommnen. Um schneller vorwärts zu kommen, eignete es sich aus dem Lateinischen, Französischen und Italienischen alle Ausdrücke an, die ihm notwendig erschienen. Es brachte berühmte Schriftsteller hervor, aber sie konnten die scharfen Laute ihrer Sprache, die jedes fremde Ohr verletzen, nicht mildern. Andre Sprachen verlieren in der Übersetzung; das Englische allein gewinnt. Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: als ich einmal mit Gelehrten zusammen war, fragte jemand, welche Sprache wohl die Schlange gesprochen hätte, die unsre Urmutter verführte. „Sie sprach Englisch,“ antwortete ein Gelehrter, „denn die Schlange zischt.“ Nehmen Sie den schlechten Scherz für das, was er wert ist.

Nachdem ich Ihnen dargelegt habe, auf welche Weise bei andren Völkern die Sprache ausgebildet und vervollkommnet wurde, werden Sie gewiß meinen, wir könnten mit den gleichen Mitteln dasselbe erreichen. Wir müssen also große Dichter und Redner haben, die uns diesen Dienst leisten. Von den Philosophen dürfen wir ihn nicht erwarten; ihnen kommt es zu, die Irrtümer auszurotten und neue Wahrheiten zu entdecken. Die Dichter und Redner aber sollen uns durch ihren Wohllaut entzücken, uns überzeugen und rühren.

Da sich indes kein Genie nach Belieben erzeugen läßt, wollen wir zusehen, ob wir nicht auch so einige Fortschritte machen können, indem wir uns an provisorische Hilfsmittel halten. Um unfern Stil gedrungener zu machen, ist jede unnütze Einschaltung fortzulassen. Um Energie zu erlangen, laßt uns die alten Autoren übersetzen, die den kraftvollsten und anmutigsten Ausdruck hatten. Nehmen wir von den Griechen Thukydides und Xenophon. Vergessen wir die Poetik des Aristoteles nicht. Bemühen wir uns vor allem, die Kraft des Demosthenes wiederzugeben. Von den Lateinern nehmen wir Epiktets Handbuch, die Selbsibetrachtungen des Kaisers Mark Aurel84-1, Cäsars Kommentarien, Sallust, Tacitus und die „Ars poetica“ des Horaz. Die Franzosen können uns die „Gedanken“ von Larochefoucauld84-2, die „Persischen Briefe“ und den „Geist der Gesetze“ von Montesquieu liefern. Alle diese vorgeschlagenen Bücher, meist in Spruchform geschrieben, werden die Übersetzer zur Vermeidung aller unnützen und überflüssigen Worte zwingen. Unsre Schriftsteller werden ihren ganzen Scharfsinn aufbieten, um ihre Gedanken zusammenzudrängen und ihrer Übersetzung die gleiche Kraft zu geben, die man an den Originalen bewundert. Indes werden sie bei allem Streben nach Energie darauf zu achten haben, daß sie nicht<85> dunkel werden. Um die Klarheit des Stils, die oberste Pflicht jedes Schriftstellers, zu bewahren, werden sie nie von den Regeln der Grammatik abweichen und die Zeitwörter, die die Sätze regieren sollen, so stellen, daß kein Doppelsinn möglich ist. Derartige Übersetzungen werden dann als Muster dienen, nach denen unsre Schriftsteller sich bilden können. Dann werden wir uns schmeicheln dürfen, die Vorschrift befolgt zu haben, die Horaz in semer Poetik den Schriftstellern erteilt: tot verba, tot pondera85-1.

Es wird schwer sein, die harten Laute zu mildern, an denen unsre meisten Worte reich sind. Die Vokale schmeicheln dem Ohr. Zu viele Konsonanten hintereinander verletzen es, da sie schwer auszusprechen sind und keinen Wohllaut haben. Auch haben wir viele Tätigkeits- und Hilfszeitwörter, deren letzte Silbe stumm und unschön ist, wie sagen, geben, nehmen. Man füge diesen Endungen ein a hinzu und bilde daraus sagena, gebena, nehmena: diese Laute tun dem Ohre wohl.85-2 Allein ich weiß auch: selbst wenn der Kaiser mit seinen acht Kurfürsten auf feierlichem Reichstage das Gesetz erließe, daß die Worte so ausgesprochen werden sollen, die eifrigen Deutschtümler würden sich doch darüber lustig machen und auf gut Lateinisch schreien: Caesar non est super grammaticos!85-3 Und das Volk, das in jedem Land über die Sprache entscheidet, würde nach wie vor sagen und geben wie gewöhnlich aussprechen. Die Franzosen haben durch die Aussprache viele Worte gemildert, die das Ohr verletzten. Kaiser Julian sagte einst, die Gallier krächzten wie die Krähen. Solche Worte sind nach der alten Aussprache cro-jo-gent, voi-yaigent. Heute spricht man croient und voient aus. Wenn das auch nicht schön klingt, so doch weniger unangenehm. Ich glaube, wir könnten es mit manchen Worten ebenso machen.

Es gibt noch einen Fehler, den ich nicht übergehen darf, nämlich die niedrigen und trivialen Vergleiche, die der Sprache des gemeinen Volks entnommen sind. So z. B. drückte sich ein Dichter aus, der seine Werke ich weiß nicht welchem Gönner widmete: „Schieß, großer Gönner, schieß deine Strahlen armdick auf deinen Knecht hernieder.“ Was sagen Sie zu diesen armdicken Strahlen? Hätte man zu jenem Dichter nicht sagen sollen: „Mein Freund, lerne erst denken, ehe du zur Feder greifst“? Ahmen wir also nicht die Armen nach, die reich scheinen wollen. Gestehen wir ehrlich unsre Dürftigkeit ein und lassen wir uns durch dies Geständnis lieber ermuntern, uns durch Fleiß die Schätze der Literatur anzueignen, deren Besitz unsren nationalen Ruhm krönen wird.

Nachdem ich Ihnen dargelegt habe, wie man unsre Sprache veredeln könnte, bitte ich Sie, mir die gleiche Aufmerksamkeit bei der Wahl der Mittel zu leihen, durch<86> die man den Kreis unsrer Kenntnisse erweitern, die Studien leichter und nützlicher machen und zugleich den Geschmack der Jugend bilden könnte.

Ich schlage erstens vor, eine überlegtere Wahl der Schullehrer zu treffen und ihnen eine verständige, sinnreiche Lehrmethode der Grammatik und Logik vorzuschreiben. Die fleißigen Kinder sollen kleine Auszeichnungen erhalten und die nachlässigen leichte Rügen. Ich glaube, das beste und klarste Handbuch der Logik ist das von Wolff.86-1 Man müßte also alle Schullehrer nötigen, danach zu lehren, zumal das Handbuch von Batteur86-2 nicht übersetzt und auch nicht besser ist. Für die Rhetorik halte man sich an Quintilian. Wer bei seinem Studium keine Beredsamkeit lernt, wird sie nie erlangen. Der StU seines Werkes ist klar; es enthält alle Regeln und Vorschriften der Rede, kunst. Daneben aber müssen die Lehrer auch die Aussätze ihrer Schüler sorgfältig durchsehen, ihnen die Gründe für die gemachten Verbesserungen angeben und die gelungenen Stellen loben.

Bei Befolgung der vorgeschlagenen Methode werden die Lehrer die Keime der natürlichen Anlagen entwickeln, das Urteil ihrer Schüler bilden, sie daran gewöhnen, nicht ohne Kenntnis des Grundes zu entscheiden und richtige Schlüsse aus ihren Regeln zu ziehen. Die Rhetorik wird ihren Geist methodisch machen. Sie werden die Kunst lernen, ihre Ideen zu ordnen, in Zusammenhang zu bringen und sie durch natürliche, unmerkliche und geschickte Übergänge zu verknüpfen. Sie werden den Stil dem Gegenstand anpassen lernen, richtige Bilder wählen, sowohl um Abwechslung hineinzubringen, wie um Blumen auf die geeigneten Stellen zu streuen. Sie werden es vermeiden, zwei bildliche Ausdrücke miteinander zu verquicken, was so leicht einen schiefen Sinn gibt. Durch die Rhetorik werden sie weiterhin lernen, die vorzubringenden Beweise dem Verständnis ihrer Zuhörer anzupassen, sich in die Geister einzuschmeicheln, zu gefallen und zu rühren, Abscheu und Mitleid zu erregen, zu überzeugen und den Beifall aller zu gewinnen. Welch göttliche Kunsi ist es, durch das bloße Wort, ohne äußere Macht und Gewalt, die Geister zu unterjochen, die Herzen zu beherrschen und in einer zahlreichen Gesellschaft die Leidenschaften zu erregen, die man ihr einflößen will!

Wären die guten Autoren ins Deutsche übersetzt, so würde ich ihre Lektüre als etwas Wichtiges und Notwendiges empfehlen. So gibt es zur Ausbildung der Logik nichts Besseres als Bayles Abhandlungen über die Kometen86-3 und über das „Nötige sie hereinzukommen86-4!“ Nach meiner schwachen Einsicht ist Bayle der erste<87> Logiker Europas. Seine Schlüsse besitzen nicht nur Kraft und Schärfe, sondern er zeichnet sich vor allem auch dadurch aus, daß er eine Behauptung mit einem Blick übersieht, ihre starke und schwache Seite erkennt, wie man sie stützen und wie man die Gegner widerlegen kann. In seinem großen „Dictionnaire“87-1 greift er Ovid wegen der Entstehung der Welt aus dem Chaos an. Da findet man vorzügliche Artikel über die Manichäer, über Epikur, Zoroaster usw. Alle verdienen gelesen und studiert zu werden. Das wird ein unschätzbarer Gewinn für die Jugend sein, die sich die Urteilskraft und den durchdringenden Verstand dieses großen Mannes zu eigen machen kann.

Sie erraten schon im voraus, welche Autoren ich den Schülern der Beredsamkeit empfehle. Damit sie den Grazien opfern lernen, wünschte ich, sie läsen die großen Dichter, Homer, Virgil, ein paar ausgewählte Oden des Horaz, einige Verse des Anakreon. Damit sie Geschmack an der hohen Redekunst gewinnen, würde ich ihnen Demosthenes und Cicero in die Hand geben. Man müßte ihnen klarmachen, worin der Unterschied zwischen beiden Redekünstlern besteht. Dem einen ließe sich nichts hinzufügen, dem andern nichts fortnehmen.87-2 Auf diese Lektüre könnten die schönen Grabreden Bossuets87-3 und Flechiers87-4, des französischen Demosthenes und Cicero, und die kleinen Fastenpredigten von Massillon87-5 folgen, die voller Züge erhabenster Beredsamkeit sind.

Damit die Schüler lernen, wie man Geschichte schreiben soll, möchte ich, daß sie Livius, Sallust und Tacitus läsen. Man müßte sie auf den Adel des Stils, die Schönheit der Darstellung aufmerksam machen, aber zugleich die Leichtgläubigkeit rügen, mit der Livius am Ende jedes Jahres eine Aufstellung von Wundern gibt, deren eins immer lächerlicher ist als das andre. Danach könnten die jungen Leute die Weltgeschichte von Bossuet und die „Römischen Staatsumwälzungen“ vom Abbé Vertot87-6 lesen. Auch könnte man die Einleitung zur „Geschichte Karls V.“ von Robertson87-7 hinzufügen. Auf die Weise würde man ihren Geschmack bilden und sie lehren, wie man schreiben muß. Besitzt aber der Lehrer selbst solche Kenntnisse nicht, so wird er sich mit dem Hinweis begnügen: „Hier wendet Demosihenes das große oratorische Argument an. Hier und im größten Teil seiner Rede bedient er sich des Enthymema87-8. Hier ist eine Apostrophe, dort eine Prosopopöe87-9, hier<88> eine Metapher, eine Hyperbel.“ Das ist ja gut; wenn aber der Lehrer die Schönheiten des Autors nicht besser hervorhebt und nicht auf die Fehler aufmerksam macht, die auch dem größten Redner unterlaufen, so hat er seine Aufgabe nur halb erfüllt. Ich dringe so sehr auf alle diese Dinge, weil ich möchte, daß die Jugend mit klaren Begriffen die Schule verläßt, daß man nicht nur ihr Gedächtnis anfüllt, sondern vor allem auch ihr Urteil zu bilden sucht, damit sie das Gute vom Schlechten unterscheiden lerne und nicht bloß sage: „Das gefällt mir“, sondern künftig auch stichhaltige Gründe angeben könne, warum sie etwas billigt oder verwirft.

Um sich von dem Mangel an Geschmack zu überzeugen, der bis auf diesen Tag in Deutschland herrscht, brauchen Sie nur ins Schauspiel zu gehen. Da sehen Sie die abscheulichen Stücke von Shakespeare88-1 in deutscher Sprache aufführen, sehen alle Zuhörer vor Wonne hinschmelzen beim Anhören dieser lächerlichen Farcen, die eines kanadischen Wilden würdig sind. Ich nenne sie so, weil sie gegen alle Regeln des Theaters verstoßen. Diese Regeln sind nicht willkürlich. Sie finden sie in der Poetik des Aristoteles. Dort sind Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung als die einzigen Mittel vorgeschrieben, ein Trauerspiel packend zu machen. In den englischen Stücken dagegen umspannt die Handlung den Zeitraum von Jahren. Wo bleibt da die Wahrscheinlichkeit? Da treten Lastträger und Totengräber auf und halten Reden, die ihrer würdig sind; dann kommen Fürsten und Königinnen. Wie kann dies wunderliche Gemisch von Hohem und Niedrigem, von Hanswurstereien und Tragik gefallen und rühren? Man mag Shakespeare solche wunderlichen Verirrungen verzeihen; denn die Geburt der Künste ist niemals die Zeit ihrer Reife. Aber nun erscheint noch ein „Götz von Berlichingen“ auf der Bühne88-2, eine scheußliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke, und das Publikum klatscht Beifall und verlangt mit Begeisterung die Wiederholung dieser abgeschmackten Plattheiten. Ich weiß, über Geschmack läßt sich nicht streiten. Gleichwohl erlauben Sie mir, Ihnen eins zu sagen: wer an Seiltänzern und Marionetten ebensoviel Vergnügen findet wie an den Tragödien von Racine, der will nur die Zeit totschlagen. Der zieht das, was zu seinen Augen spricht, dem vor, was zum Geiste spricht, die bloße Schaustellung dem, was zu Herzen geht. Doch kehren wir zu unserm Thema zurück.

Nachdem ich von den Schulen gesprochen habe, muß ich den Universitäten gegenüber mit dem gleichen Freimut auftreten und Ihnen die Verbesserungen vorschlagen, die allen denen als die vorteilhaftesten und nützlichsten erscheinen werden, die sich die Mühe reiflichen Nachdenkens geben. Man glaube nur ja nicht, die Lehrmethode der Wissenschaften sei gleichgültig. Wenn es den Professoren an Klarheit und Deutlichkeit gebricht, ist ihre Mühe umsonst. Sie haben ihre Vorträge schon im<89> voraus fertig und halten sich daran. Ob nun dieser Lehrgang gut oder schlecht ausgearbeitet sei, danach fragt niemand. Man sieht denn auch, wie wenig Nutzen die Studenten von ihrem Studium haben. Sehr wenige verlassen die Universität mit den Kenntnissen, die sie von dort mitbringen sollten. Meine Idee wäre also die, jedem Professor die Regel vorzuschreiben, nach der er sich bei seinen Vorlesungen zu richten hätte. Hier ein Entwurf dazu.

Lassen wir den Mathematiker und Theologen beiseite, da sich der Gewißheit des einen nichts hinzufügen läßt und man die Volksmeinungen in Bezug auf den andern nicht antasten darf.

Ich nehme mir zuerst den Philosophen vor. Ich würde verlangen, daß er seinen Kursus mit einer genauen Definition des Begriffes PHUosophie beginnt. Dann soll er bis auf die fernsten Zeiten zurückgehen und all die verschiedenen philosophischen Systeme in der Reihenfolge, in der sie gelehrt worden sind, nacheinander durchgehen. So würde es z. B. nicht genügen, wenn er seinen Schülern von den Stoikern sagt, sie nähmen in ihrem System an, daß die menschlichen Seelen Teile der Gottheit seien. So schön und erhaben dieser Gedanke auch ist, so muß der Professor doch auf den in ihm liegenden Widerspruch hinweisen. Denn wäre der Mensch ein Teil der Gottheit, so besäße er unbegrenztes Wissen; das aber hat er nicht. Wäre Gott in den Menschen, so könnte es jetzt geschehen, daß der englische Gott sich mit dem französischen und spanischen bekriegte, daß diese verschiedenen Teile der Gottheit sich gegenseitig zu vernichten suchten und daß endlich alle von den Menschen begangenen Missetaten und Verbrechen göttliche Werke wären. Welcher Aberwitz, solche Abscheulichkeiten anzunehmen! Sie sind also nicht wahr.

Kommt er zum System Epikurs, so wird er vor allem auf die Gleichgültigkeit verweisen, die der Philosoph seinen Göttern beilegt, die aber der göttlichen Natur widerspricht. Er wird nicht vergessen, auf die Ungereimtheit der Lehre von der Abweichung der Atome89-1, sowie auf alles aufmerksam zu machen, was der Exaktheit und Folgerichtigkeit des logischen Denkens widerstrebt. Er wird ohne Zweifel auch die Sekte der Skeptiker erwähnen und darauf hindeuten, wie notwendig es oft ist, sein UrteU in metaphysischen Fragen zurückzuhalten, da weder Analogie noch Erfahrung uns einen Faden reichen, der uns durch dies Labyrinth führt.

Dann wird er auf Galilei kommen, wird dessen System klarlegen und dabei den Aberwitz des römischen Klerus ins rechte Licht setzen, der nicht dulden wollte, daß die Erde sich dreht, und der sich gegen die Antipoden auflehnte, aber trotz seiner vermeintlichen Unfehlbarkeit seinen Prozeß wenigstens diesmal vor dem Richterstuhl der Vernunft verlor. Dann kommt Kopernikus, Tycho de Brahe, das System der Wirbel89-2. Der Professor wird seinen Hörern die Unmöglichkeit des vollen Raumes klarmachen, die jede Bewegung ausschlösse. Er wird trotz Descartes klar beweisen,<90> daß die Tiere keine Maschinen sind. Daran wird sich ein Abriß des Newtonschen Systems vom leeren Raume schließen, den man annehmen muß, ohne sagen zu können, ob das eine Negation des Daseins oder ob die Leere ein Wesen sei, von dessen Natur wir uns keinen bestimmten Begriff machen können. Das hindert jedoch nicht, daß der Professor seine Hörer von der völligen Übereinstimmung des von Newton berechneten Systems mit den Naturerscheinungen unterrichtet, die die Neueren zur Annahme der Schwere, der Gravitation, der Zentripetal- und Zentrifugalkraft nötigt, verborgenen Eigenschaften der Natur, die bis auf diesen Tag unerforscht geblieben sind.

Nun wird die Reihe an Leibniz kommen, an das Monadensystem und die prästabilierte Harmonie. Der Professor wird zweifellos darauf hinweisen, daß es ohne Einheit keine Zahl gibt. Es müssen also unteilbare Körper angenommen werden, aus denen die Materie besieht. Er wird seinen Zuhörern klarmachen, daß die Materie theoretisch unendlich teilbar ist, daß aber in der Wirklichkeit die Urkörper sich wegen ihrer zu großen Kleinheit der Wahrnehmung entziehen und daß man notwendig unzerstörbare Atome annehmen muß, die die Grundlage der Elemente bilden; denn aus nichts entsteht nichts, und nichts geht zu Grunde. Der Professor wird das System der prästabilierten Harmonie als den Roman eines genialen Mannes darstellen90-1 und gewiß hinzufügen, daß die Natur den kürzesten Weg nimmt, um zu ihren Zielen zu gelangen. Er wird bemerken, daß man die Dinge nicht ohne Notwendigkeit vervielfältigen darf.

Dann wird Spinoza an die Reihe kommen. Er wird ihn ohne Mühe mit den gleichen Argumenten widerlegen, die er gegen die Stoiker angewandt hat. Wenn er Spinozas System da angreift, wo es die Existenz des höchsten Wesens zu leugnen scheint, so wird es ihm leicht fallen, es zu Staub zu zermalmen, zumal wenn er die Bestimmung jedes Dinges, den Zweck aufzeigt, wozu es geschaffen ist. Alles, selbst das Wachstum eines Grashalmes, beweist das Dasein Gottes. Wenn der Mensch auch nur einen Funken von Verstand besitzt, den er sich nicht selbst gegeben hat, mit wieviel mehr Grund muß dann das Wesen, von dem er alles hat, einen unendlich tieferen und unermeßlichen Verstand besitzen!

Unser Professor wird Malebranche90-2 nicht ganz übergehen. Er wird die Grundlehren dieses gelehrten Paters aus dem Orden des Oratoriums entwickeln und dabei zeigen, daß die daraus von selbst entfließenden Folgerungen zur Lehre der Stoiker zurückführen, zur Annahme einer Weltseele, von der alle lebenden Wesen Teile sind. Wenn wir aber in Gott alles sehen, wenn unsre Gefühle, Gedanken und Wünsche und unser Wille unmittelbar aus seiner geistigen Einwirkung auf unsre Organe entstehen, so werden wir zu Maschinen, die Gottes Hand bewegt. Gott allein bleibt, und der Mensch verschwindet.

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Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Professor, wenn er Verstand hat, nicht den weisen Locke vergißt, den einzigen Metaphysiker, der die Phantasie dem gesunden Menschenverstand geopfert hat, sich an die Erfahrung hält, soweit sie ihn führen kann, und klüglich haltmacht, wenn dieser Führer versagt.

In der Sittenlehre wird der Professor einige Worte über Sokrates sagen, Mark Aurel gerecht werden und ausführlicher auf Ciceros Buch „Von den Pflichten“ eingehen, das beste Moralbuch, das man je geschrieben hat und schreiben wird.

Den Ärzten will ich nur zwei Worte sagen. Sie müssen ihre Schüler vor allem zu genauer Beobachtung der Symptome der Krankheiten anhalten, damit sie deren Wesen gut kennen lernen. Diese Symptome sind ein rascher und schwacher Puls, ein starker und heftiger Puls, ein aussetzender Puls, trockene Zunge, die Augen, die Art der Transpiration, der Ausscheidungen, sowohl des Urins wie der Exkremente. Aus alledem können sie Schlüsse ziehen und die Art des Übels, das die Krankheit verursacht, mit größerer Bestimmtheit erkennen. Nach dieser Diagnose müssen sie die richtigen Heilmittel wählen. Auch wird der Professor seine Schüler sorgfältig auf die eigenartige Verschiedenheit der Temperamente hinweisen und auf die Berücksichtigung, die sie erfordern. Er wird die gleiche Krankheit bei den verschiedenen Temperamenten verfolgen und vor allem darauf dringen, daß bei ein und derselben Krankheit die Arznei stets der Konstitution des Kranken angepaßt werde. Trotz aller dieser Belehrungen wage ich nicht zu behaupten, daß die jungen Äskulape Wunder verrichten werden. Das Publikum wird nur den Gewinn haben, daß weniger Menschen durch die Unwissenheit und Trägheit der Ärzte ums Leben kommen.

Der Kürze halber übergehe ich die Botanik, die Chemie und die physikalischen Experimente, um mich mit dem Herrn Professor der Rechtsgelehrsamkeit zu befassen, der mir eine recht mürrische Miene zeigt. Zu ihm werde ich sagen: „Herr Professor, wir leben nicht mehr im Jahrhundert der Worte, sondern der Tatsachen. Haben Sie zu Nutz und Frommen der Menschen die Gewogenheit, etwas weniger Pedanterie und etwas mehr gesunden Menschenverstand in Ihre vermeintlich so tiefen Vorlesungen zu bringen. Sie verlieren Ihre Zeit mit dem Vortrag eines Völkerrechts, das nicht einmal Privatpersonen, geschweige denn die Mächtigen achten und das die Schwachen nicht schützt. Sie unterweisen Ihre Schüler in den Gesetzen des Minos, Solon, Lykurg, der zwölf Tafeln Roms, des Codex Justinianus. Aber kein Wort oder nur wenig von den Gesetzen und Bräuchen in unsren Provinzen. Zu Ihrer Beruhigung versprechen wir Ihnen zu glauben, daß Ihr Hirn eine miteinander verschmolzene Quintessenz des Cujaz und Bartolos91-1 ist. Geruhen Sie jedoch zu beachten, daß nichts kostbarer ist als Zeit, und daß der, welcher sie mit unnützen Phrasen vergeudet, ein Verschwender ist, den Sie unter Kuratel stellen würden, wenn er vor Ihren Richtersiuhl käme. Gestatten Sie daher, Herr Professor, so gelehrt Sie auch sind,<92> daß ein Unwissender meines Schlages, wenn Sie seine Schüchternheit ermutigen, Ihnen eine Art von Kursus der Rechtslehre vorschlägt, den Sie abhalten könnten. Sie würden damit beginnen, die Notwendigkeit der Gesetze zu beweisen, weil keine Gesellschaft ohne sie bestehen kann. Sie würden zeigen, daß es bürgerliche Gesetze, Strafgesetze und andre, die auf Übereinkunft92-1 beruhen, gibt. Die ersten sollen das Eigentum schützen, sowohl Erbschaften, Mitgiften, das Erbteil der Witwen, wie das Handels- und Verkehrsrecht. Sie geben an, nach welchen Grundsätzen bei Grenzstreitigkeiten zu verfahren und überhaupt strittige Rechte zu entscheiden sind. Die Strafgesetze hingegen sollen das Verbrechen mehr zu Boden schlagen, als bestrafen. Die Strafen müssen dem Vergehen angemessen sein, und die milderen sind den strengeren allemal vorzuziehen92-2. Die Übereinkunftsgesetze endlich werden.von den Regierungen geschaffen, um Handel und Industrie zu begünstigen. Die beiden ersten Gesetzesarten sind stetiger Natur, die letzteren hingegen dem Wechsel unterworfen, mögen nun äußere oder innere Ursachen zur Abschaffung oder zur Einführung dieser oder jener Bestimmungen nötigen.“ Ist diese Einleitung mit aller nötigen Klarheit erfolgt, so wird der Herr Professor, ohne Pufendorf92-3 oder Grotius92-4 zu Rate zu ziehen, gütigst die Gesetze des Landes erläutern, in dem er lebt. Er wird sich vor allem hüten, seinen Schülern den Geist der Streitsucht einzuimpfen. Statt Verwirrer wird er Entwirrer aus ihnen machen und sich sorgfältig bemühen, Richtigkeit, Klarheit und Genauigkeit in seine Vorlesungen zu bringen. Um seine Schüler von Jugend auf zu dieser Methode zu erziehen, wird er insbesondere nicht versäumen, ihnen Verachtung für sophistische Rechthaberei einzuflößen, die offenbar eine unerschöpfliche Fundgrube für Spitzfindigkeiten und Rechtsverdrehung ist.

Ich wende mich nun an den Herrn Geschichtsprofessor. Ihm schlage ich als Muster den weisen und berühmten Thomasius92-5 vor. Unser Professor wird Ruf gewinnen, wenn er diesem großen Manne nahekommt, und Ruhm, wenn er ihm gleicht. Er wird seinen Kursus chronologisch mit der alten Geschichte beginnen und mit der neueren enden. Er wird in der Abfolge der Jahrhunderte kein Volk auslassen, weder die Chinesen noch die Russen, weder die Polen noch den Norden, wie es Bossuet in seinem sonst sehr schätzenswerten Werke getan hat. Unser Professor wird sich namentlich der Geschichte Deutschlands widmen, da sie für die Deutschen am fesselndsten ist. Er wird sich indes hüten, sich zu sehr in die Dunkelheit der ältesten Zeiten zu vertiefen, über die uns die Urkunden fehlen und deren Kenntnis im übrigen sehr unnütz ist. Er wird ohne längeres Verweilen das neunte bis zwölfte Jahrhundert durchgehen. Erst beim dreizehnten Jahrhundert, wo die Geschichte mehr Interesse verdient,<93> wird er ausführlicher werden. Je weiter er vorrückt, um so mehr wird er sich auf Einzelheiten einlassen, weil diese immer enger mit der Geschichte der Gegenwart zusammenhängen. Insbesondere wird er sich länger bei Ereignissen aufhalten, die Folgen gehabt haben, als bei denen, die sozusagen ohne Nachkommenschaft gestorben sind. Der Professor wird auf den Ursprung der Rechte, Bräuche und Gesetze eingehen, wird zur Kenntnis bringen, bei welchen Anlassen sie im Reich eingeführt wurden. Er wird die Entstehung der freien Reichsstädte und ihre Privilegien, die Entstehung der Hansa und der Landeshoheit von Bischöfen und Äbten schildern. Er wird, so gut er kann, erklären, wie die Kurfürsten das Recht erwarben, den Kaiser zu wählen. Die verschiedenen Formen der Rechtspflege im Laufe der Jahrhunderte dürfen nicht übergangen werden. Besonders aber von der Zeit Karls V. an muß der Professor all seine Einsicht und Geschicklichkeit aufbieten. Von jener Epoche ab wird alles fesselnd und denkwürdig. Er wird nach bestem Vermögen die Ursachen der großen Ereignisse aufzuklären suchen. Parteilos wird er die Taten derer loben, die sich berühmt gemacht haben, und die tadeln, die Fehler begingen.

Nun beginnen die Religionswirren: diesen Teil wird der Professor als Philosoph behandeln. Es folgen die Kriege, die aus jenen Wirren entstanden. Diese Fragen, die großes Interesse beanspruchen, sind mit der gebührenden Würde zu erörtern. Schweden nimmt Partei gegen den Kaiser. Der Professor wird sagen, aus welchem Anlaß Gustav Adolf nach Deutschland ging und weshalb Frankreich für Schweden und die Sache des Protestantismus eintrat. Aber er wird nicht die alten Lügen wiederholen, die allzu leichtgläubige Geschichtsschreiber verbreitet haben. Er wird nicht sagen, Gustav Adolf sei von einem deutschen Fürsten getötet worden, der in seinem Heere diente93-1, well das weder wahr noch erwiesen noch wahrscheinlich ist. Der Westfälische Friede wird ein umständlicheres Eingehen erfordern, da er die Grundlage der deutschen Freiheit bildet, das Grundgesetz, das den kaiserlichen Ehrgeiz in gebührenden Schranken hält. Auf ihm beruht unsre jetzige Verfassung.

Hiernach wird der Professor berichten, was sich unter der Regierung der Kaiser Leopold, Josef und Karl VI. zutrug. Dies weite Feld bietet ihm Gelegenheit zur Betätigung seiner Gelehrsamkeit und seines Geistes, besonders wenn er nichts Wesentliches fortläßt.

Nach der Darstellung der denkwürdigen Ereignisse jedes Jahrhunderts wird er nicht vergessen, über die jeweiligen Geisiessirömungen und über die Männer zu berichten, die sich durch ihre Talente, ihre Entdeckungen oder ihre Werke hervorgetan haben. Er wird auch die ausländischen Zeitgenossen der Deutschen, von denen er spricht, nicht unerwähnt lassen.

Hat er derart die Geschichte Volk für Volt durchgenommen, so würde er, glaube ich, den Studierenden einen Dienst erweisen, wenn er den ganzen Stoff zusammen<94>faßte und ihn in einer allgemeinen Übersicht darstellte. Dabei wäre besonders die chronologische Anordnung nötig, damit man die Zeitalter nicht verwechselt und jedes wichtige Ereignis an die Stelle setzt, die ihm in der Zeitfolge zukommt, die Zeitgenossen neben die Zeitgenossen. Um das Gedächtnis nicht mit Daten zu überlasten, wäre es gut, die Epochen zu bezeichnen, in denen die wichtigsten Umwälzungen stattfanden. Das sind lauter Anhaltspunkte für das Gedächtnis, die man leicht behält und ohne die das ungeheure Chaos der Geschichte im Kopfe der jungen Leute wirr durcheinanderwogt.

Ein Geschichtstursus, wie ich ihn vorschlage, muß reiflich überlegt, gründlich durchdacht und von allen Kleinigkeiten frei sein. Weder das Theatrum europaeum94-1 noch Bünaus „Deutsche Geschichte“94-2 darf der Professor zu Rate ziehen. Lieber möchte ich ihn auf die Kolleghefte von Thomasius verweisen, wenn solche noch vorhanden sind.

Was ist für einen Jüngling, der in die Welt treten will, notwendiger und unterrichtender als die Betrachtung der Reihe von Wechselfällen, die das Antlitz der Welt so oft verändert haben? Wo lernt er die Nichtigkeit alles Menschlichen besser kennen, als wenn er auf den Trümmern der Königreiche und Weltmonarchien umhergeht? Aber welche Freude muß ihn erfüllen, wenn er in dem Wust von Verbrechen, den man an seinen Augen vorüberziehen läßt, hier und da eine jener tugendhaften, göttlichen Seelen findet, die für die Verderbtheit des Menschengeschlechts um Gnade zu bitten scheinen! Das sind die Vorbilder, denen er folgen soll. Er hat eine Menge glücklicher, von Schmeichlern umgebener Menschen gesehen. Der Tod trifft den Abgott, die Schmeichler entfliehen, die Wahrheit tritt zutage, und die Flüche des Volkes ersticken die Stimme der Lobredner. Ich hoffe, der Professor wird Einsicht genug haben, seinen Schülern die Grenzen zwischen edlem Wetteifer und maßlosem Ehrgeiz zu zeigen und sie zum Nachdenken über so viele verderbliche Leidenschaften anzuregen, die den Untergang der größten Reiche verschuldet haben. Mit hundert Beispielen wird er ihnen beweisen, daß gute Sitten die wahren Wächter der Staaten sind, wogegen Verderbtheit, Luxus und übermäßige Sucht nach Reichtum jederzeit die Vorläufer ihres Verfalls waren. Bei Befolgung des vorgeschlagenen Lehrplans wird der Herr Professor sich nicht darauf beschränken, das Gedächtnis seiner Schüler mit Tatsachen anzufüllen, sondern danach trachten, ihr Urteil zu bilden, ihre Denkweise zu berichtigen und ihnen vor allem Liebe zur Tugend einzuflößen. Das ist nach meiner Ansicht all den unverdauten Kenntnissen vorzuziehen, mit denen man die Köpfe der Jugend vollstopft.

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Aus allem bisher Dargelegten ergibt sich allgemein die Notwendigkeit, alle alten und neuen Klassiker mit Fleiß und Eifer ins Deutsche zu übertragen. Das brachte uns den doppelten Vorteil, unsre Sprache auszubilden und Kenntnisse zu verbreiten. Wenn wir alle guten Autoren bei uns einbürgern, bringen sie uns neue Ideen und bereichern uns mit der Anmut und den Reizen ihrer Schreibweise. Und wieviel würde das Publikum nicht daraus lernen! Von den sechsundzwanzig Millionen, die in Deutschland wohnen, können wohl keine hunderttausend gut Lateinisch, besonders, wenn man den Haufen von Priestern und Mönchen abzieht, deren Kenntnisse kaum so weit reichen, daß sie etwas von der Syntax verstehen. So sind also 25 900 000 Seelen von allem Wissen ausgeschlossen, nur well sie es nicht in der Landessprache erwerben können. Welche günstigere Veränderung könnte uns wohl widerfahren als die Verbreitung und Verallgemeinerung des Wissens? Der Edelmann, der auf dem Lande lebt, würde eine Auswahl von Büchern treffen, die ihm zusagen; er würde sich unterhalten und dabei belehren. Der grobe Bürgersmann würde weniger ungeschliffen sein. Die Müßiggänger fänden ein Mittel gegen die Langeweile. Der Sinn für die schöne Literatur würde allgemein werden. Liebenswürdigkeit, Sanftmut und Grazie würden sich über die Gesellschaft verbreiten, und der Unterhaltung würden unerschöpfliche Quellen erschlossen. Aus der Reibung der Geister entspränge jener feine Takt, jener gute Geschmack, der mit raschem Unterscheidungsvermögen das Schöne erfaßt, das Mäßige verwirft und das Schlechte verschmäht. Das Publikum würde zum aufgeklärten Richter werden und die neuen Schriftsteller zwingen, ihre Werte mit größerer Emsigkeit und Sorgfalt auszuarbeiten und sie nicht eher herauszugeben, als bis sie gründlich gesellt und geglättet sind.

Der Weg, den ich weise, ist nicht aus meiner Phantasie entsprungen. Er ist der Weg aller Völker, die zur Kultur gelangt sind. Einen andren gibt es nicht. Je mehr der Sinn für die Literatur zunimmt, um so mehr Auszeichnung und Erfolg haben die zu erwarten, die sie in hervorragender Weise pflegen, und um so mehr wird ihr Beispiel andre ermutigen. Deutschland erzeugt Männer der emsigen Forschung, Philosophen, Genies und alles, was man wünschen kann. Es fehlt nur ein Prometheus, der das himmlische Feuer raubt und sie beseelt.

Der Boden, der den berühmten de Vinea, den Kanzler des unglücklichen Kaisers Friedrich II., erzeugte, das Land, wo die Verfasser der berühmten Dunkelmännerbriefe geboren wurden, die ihrer Zeit weit voraus waren und Rabelais zum Muster gedient haben, der Boden, der den berühmten Erasmus hervorbrachte, dessen „Lob der Narrheit“ von Witz sprudelt und noch besser wäre, wenn man ein paar mönchische Plattheiten entfernte, denen man den schlechten Geschmack der Zeit anmerkt, das Land, wo Melanchthon geboren wurde, so klug wie gelehrt — der Boden, sage ich, der diese großen Männer hervorgebracht hat, ist nicht erschöpft und wird noch viele andre erzeugen. Wieviel große Männer könnte ich ihnen zur Seite stellen! Dreist zähle ich zu den unsren Kopernikus, der durch seine Berechnungen das Planetensystem<96> berichtigte und das bewies, was Ptolemäos96-1 ein paar tausend Jahre vor ihm zu behaupten gewagt hatte. Derweil entdeckte am andren Ende von Deutschland ein Mönch durch seine chemischen Versuche die erstaunlichen Wirkungen des Schießpulvers, und ein andrer erfand die Buchdruckerkunst, diese glückliche Erfindung, die gute Bücher verewigt und dem Volke für geringes Geld Bildung ermöglicht. Dem erfinderischen Geiste Otto von Guerickes verdanken wir die Luftpumpe. Unvergessen ist der berühmte Leibniz, der Europa mit dem Rufe seines Namens erfüllte. Seine Einbildungskraft hat ihn zwar zu einigen Hirngespinsten in seinem Systeme verleitet, aber seine Irrtümer sind doch nur die eines großen Geistes. Ich könnte meine Liste durch die Namen Thomasius, Bilfinger96-2, Haller96-3 und viele andre erweitern. Allein die Gegenwart gebietet mir Schweigen. Das Lob der einen würde die andren zurücksetzen.

Ich sehe einen Einwand voraus. Man wird mir vielleicht vorhalten, es habe während der italienischen Kriegswirren einen Pico von Mirandola gegeben. Gewiß, aber der war doch nur ein Gelehrter. Man wird hinzufügen: wahrend Cromwell sein Vaterland umstürzte und seinen König96-4 auf dem Blutgerüst enthaupten ließ, veröffentlichte Toland seinen „Leviathan“96-5 und kurz darauf Milton sein „Verlorenes Paradies“. Ja selbst zur Zeit der Königin Elisabeth hatte der Kanzler Bacon96-6 schon Aufklärung in Europa verbreitet und war zum Orakel der Philosophie geworden, indem er die zu machenden Entdeckungen angab und den Weg zu diesem Ziele wies. Auch während der Kriege Ludwigs XIV. machten gute Schriftsteller aller Art Frankreich berühmt. Warum also, wird man sagen, sollten unsre deutschen Kriege der Literatur verderblicher gewesen sein als die unsrer Nachbarn?

Darauf kann ich leicht antworten. In Italien blühten die Künste und Wissenschaften eigentlich nur unter dem Schutze des Lorenzo von Medici, des Papstes Leo X. und des Hauses Este. Damals gab es wohl vorübergehende Kriege, aber sie waren nicht verderblich. Italien wachte eifersüchtig über den Ruhm, den ihm die Wiedergeburt der schönen Künste verschaffen mußte, und munterte sie mit allen Kräften auf. In England richtete sich Cromwells Politik, von Fanatismus geschürt, nur gegen den Thron. Er war grausam gegen seinen König, aber er regierte sein Volk mit Weisheit, und daher blühte der Handel nie mehr als unter seinem Protektorat. So kann man den „Leviathan“ denn nur als Schmähschrift einer Partei ansehen. Miltons „Verlorenes Paradies“ ist zweifellos besser. Der Dichter besaß stärkere Einbildungstraft. Er hatte den Stoff seiner Dichtung aus einem jener religiösen Spiele entlehnt,<97> die noch zu seiner Zeit in Italien aufgeführt wurden, und wie vor allem betont werden muß, herrschte damals Friede und Wohlstand in England. Bacon, der sich unter der Regierung Elisabeths hervortat, lebte an einem gebildeten Hofe. Er besaß den Scharfblick von Jupiters Adler zur Erforschung der Wissenschaften und die Weisheit Minervas zu ihrem reiflichen Durchdenken. Bacons Genie ist eine jener seltenen Erscheinungen, die von Zeit zu Zeit auftauchen und ihrem Jahrhundert so viel Ehre machen wie dem menschlichen Geiste. In Frankreich hatte Richelieus Regierung das große Zeitalter Ludwigs XIV. vorbereitet. Aufklärung begann sich zu verbreiten; der Krieg der Fronde war nur ein Kinderspiel. Ludwig XIV., nach jeder Art von Ruhm begierig, wollte, daß seine Nation in der Literatur und im guten Geschmack ebenso die erste wäre, wie in der Macht, in Eroberungen, in Politik und Handel. Er trug seine Waffen siegreich in Feindesland. Frankreich rühmte sich der Erfolge seines Monarchen, ohne die Verheerungen des Krieges zu spüren. Es ist also natürlich, daß die Musen, die sich nur in Ruhe und Überfluß wohl fühlen, sich in seinem Reiche niederließen.

Besonders aber sollte man eins beachten: in Italien, England und Frankreich schrieben die ersten Schriftsteller und ihre Nachfolger in der eignen Sprache. Das Publikum verschlang ihre Werke, und das Wissen wurde Allgemeingut des Volkes.

Bei uns lagen die Dinge ganz anders. Unsre Religionsstreitigkeiten brachten einige Zänker hervor, die in dunklen Ausdrücken unverständliche Dinge verfochten, stets die gleichen Argumente anführten oder bestritten und abwechselnd Sophismen und Beleidigungen gebrauchten. Unsre ersten Gelehrten waren wie überall Männer, die in ihrem Gedächtnis Tatsachen auf Tatsachen häuften, urteilslose Pedanten, wie Lipsius, Freinshemius, Gronovius, Graevius97-1, schwerfällige Wiederkäuer einiger dunkler Phrasen, die sie in den alten Handschriften fanden. Das mochte bis zu einem gewissen Grade nützlich sein, allein sie hätten nicht ihren ganzen Fleiß aufNebensachen und Nichtigkeiten verwenden dürfen. Das Ärgerlichste dabei war, daß diese Herren in ihrer pedantischen Eitelkeit den Beifall ganz Europas beanspruchten. Teils um mit ihrem schönen Latein zu prunken, teils um von fremden Pedanten bewundert zu werden, schrieben sie nur Lateinisch, sodaß ihre Werke für Deutschland fast ganz verloren gingen. Daraus entsprang ein doppelter Nachteil. Erstens wurde die deutsche Sprache nicht geformt und blieb in ihrem rohen Zustande stecken, und zweitens tonnte die Masse des Volkes, die kein Latein verstand, sich nicht bilden und verharrte nach wie vor in der tiefsten Unwissenheit. Das sind einwandfreie Wahrheiten. Möchten die Herren Gelehrten sich bisweilen erinnern, daß die Wissenschaften Nahrungsmittel des Geistes sind. Das Gedächtnis nimmt sie auf, wie der Magen die Speisen, aber sie ver<98>ursachen Verdauungsbeschwerden, wenn der Verstand sie nicht verarbeitet. Ist unser Wissen ein Schatz, so muß man es nicht vergraben, sondern nutzbar machen, indem man es in einer allen Mitbürgern verständlichen Sprache verbreitet.

Erst seit kurzem wagen die Gelehrten, in ihrer Muttersprache zu schreiben, und schämen sich nicht mehr, Deutsche zu sein. Wie Sie wissen, ist es noch nicht lange her, daß das erste Wörterbuch der deutschen Sprache98-1 erschienen ist. Ich erröte, daß ein so nützliches Werk nicht ein Jahrhundert vor mir auf die Welt kam. Indes mehren sich die Anzeichen, daß ein Umschwung der Geister sich vorbereitet. Der Nationalruhm macht sich geltend. Man hegt den Ehrgeiz, den Nachbarn gleichzukommen, und will sich Wege zum Parnaß und zum Tempel des Gedächtnisses bahnen. Die Feinfühligen unter uns spüren das schon. Man übersetze also die Werke der alten und neuen Klassiker in unsre Sprache. Soll das Geld bei uns in Umlauf kommen, so bringen wir es unter die Leute, indem wir die einst so seltenen Kenntnisse verallgemeinern!

Um schließlich nichts zu vergessen, was unsre Fortschritte gehemmt hat, füge ich hinzu, daß die wenigsten deutschen Höfe sich der deutschen Sprache bedient haben. Unter Kaiser Josef sprach man in Wien nur Italienisch; unter Karl VI. wurde Spanisch bevorzugt; unter Franz I., einem geborenen Lothringer, war die Umgangssprache mehr Französisch als Deutsch. Ebenso war es an den kurfürstlichen Höfen. Was konnte der Grund sein? Ich wiederhole: das Spanische, Italienische, Französische waren Sprachen mit feststehenden Regeln, das Deutsche aber nicht. Doch trösten wir uns: in Frankreich ging es ebenso. Unter Franz I., Karl IX., Heinrich III. sprach man in der guten Gesellschaft mehr Spanisch und Italienisch als Französisch, und die heimische Sprache nahm erst ihren Aufschwung, als sie geschlissen, klar und elegant wurde, als sie durch Entlehnung malerischer Ausdrücke aus zahllosen klassischen Werken Farbe und zugleich grammatische Regeln bekam. Unter Ludwig XIV. verbreitete sich das Französische über ganz Europa, und zwar zum Teil den guten Schriftstellern zuliebe, die damals blühten, ja sogar wegen der guten Übersetzungen der Alten, die man in Frankreich hatte. Heutzutage ist diese Sprache zum Schlüssel geworden, der Ihnen in allen Häusern und Städten Einlaß verschafft. Reisen Sie von Lissabon nach Petersburg, von Stockholm nach Neapel: mit Französisch werden Sie überall durchkommen. Durch diese einzige Sprache sparen Sie sich viele andre, die Sie sonst lernen müßten und die Ihr Gedächtnis belasten würden. Anstatt dessen können Sie es mit Wissen erfüllen, was bei weitem vorzuziehen ist.

Das, mein Herr, sind die verschiedenen Hindernisse, infolge deren wir nicht so schnell vorwärts gekommen sind wie unsre Nachbarn. Doch wer zuletzt kommt, über<99>holt bisweilen seine Vorgänger. Das könnte bei uns schneller geschehen, als man glaubt, sobald die Herrscher Geschmack an der Literatur finden, sobald sie Die ermuntern, die sich ihr widmen, und Die loben und belohnen, die am meisten geleistet haben. Wenn wir erst Medizäer haben, werden wir auch Genies erblühen sehen. Ein Augustus wird einen Virgil hervorbringen. Wir werden unsre Klassiker haben. Jeder wird sie lesen, um von ihnen zu lernen. Unsre Nachbarn werden Deutsch lernen. Die Höfe werden mit Vergnügen Deutsch sprechen, und es kann geschehen, daß unsre geschliffene und vervollkommnete Sprache sich dank unsren guten Schriftstellern von einem Ende Europas zum andren verbreitet. Diese schönen Tage unsrer Literatur sind noch nicht gekommen, aber sie nahen. Ich künde sie Ihnen an, sie stehen dicht bevor. Ich werde sie nicht mehr sehen. Mein Alter raubt mir die Hoffnung darauf. Ich bin wie Moses: ich sehe das gelobte Land von ferne, aber ich werde es nicht betreten. Entschuldigen Sie diesen Vergleich. Moses bleibt darum doch, was er ist, und ich will mich durchaus nicht mit ihm in Vergleich stellen. Die schönen Tage der Literatur aber, die wir erwarten, sind mehr wert als die kahlen und dürren Felsen des unfruchtbaren Idumäa.

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II. Theologische Streitschriften

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Vorrede zum Auszug aus Fleurys Kirchengeschichte (1766)103-1

Das Christentum hat wie alle Mächte der Welt einen bescheidenen Anfang gehabt. Der Held dieser Sekte ist ein Jude aus der Hefe des Volkes, von zweifelhafter Herkunft, der in die Abgeschmacktheiten der alten hebräischen Weissagungen gute Morallehren sticht, dem man Wunder zuschreibt und der am Ende zu schimpflichem Tode verurteilt wird. Zwölf Schwärmer verbreiten seine Lehre vom Morgenland bis nach Italien, gewinnen die Geister durch die reine und heilige Moral, die sie predigen, und lehren — einige Wunder abgerechnet, die Menschen mit glühender Einbildungskraft aufregen konnten — nichts als den Deismus.

Die christliche Religion begann sich zu der Zeit auszubreiten, wo das römische Reich unter der Tyrannei einiger Wüteriche seufzte, die es nach einander beherrschten. Der Bürger, der unter ihrem blutigen Regiment schon auf alles Elend gefaßt war, das die Menschheit befallen kann, fand nirgends Trost und Beistand gegen so große Leiden außer im Stoizismus. Die christliche Moral war mit der stoischen Lehre verwandt: das ist die einzige Ursache der raschen Fortschritte, die das Christentum machte.

Seit der Regierung des Claudius103-2 hielten die Christen zahlreiche Versammlungen ab, in denen sie ihre Liebesmahle oder gemeinsamen Mahlzeiten einnahmen. Die Häupter der Regierung schöpften um so mehr Verdacht, als sie sich ihrer Tyrannei bewußt waren. Sie verboten diese Versammlungen, die heimlichen Zusammenkünfte und jede Zusammenrottung des Volkes; denn sie fürchteten, es könnte sich daraus eine Verschwörung entspinnen und irgend ein kühner Volksführer möchte die Fahne der Empörung aufpflanzen. Der Glaubenseifer der Frommen trotzte dem Verbot des Senates. Einige Schwärmer störten die Opferfeiern und trieben ihre fromme Frechheit so weit, daß sie die Götterbilder umstürzten. Andre zerrissen die kaiserlichen Edikte. Ja, einige Christen, die in den Legionen dienten, verweigerten den Gehorsam. Das war der Grund zu den Verfolgungen, die die Kirche sich<104> zum Triumph anrechnet. Daher die gerechte Bestrafung einiger obskurer Christen, die als Übertreter der Staatsgesetze und als Störer des bestehenden Kultus hingerichtet wurden. Natürlich mußten die Christen diese Schwärmer vergöttern. Die heidnischen Henker bevölkerten das Paradies. Nach der Hinrichtung sammelten Priester die Gebeine der Märtyrer und bestatteten sie ehrenvoll. Nun mußten bei ihren Gräbern Wunder geschehen. Das Volk in seinem dumpfen Aberglauben verehrte die Asche der Blutzeugen. Bald stellte man ihre Bilder in den Kirchen auf, und heilige Betrüger, die einander zu übertreffen suchten, führten allmählich die Anrufung der Heiligen ein. Sie wußten wohl, daß dieser Brauch gegen das Christentum und besonders gegen das mosaische Gesetz verstieß. Um also den Schein zu retten, unterschieden sie zwischen Anbetung und Verehrung104-1. Das dumme Volk aber, das keine Unterschiede macht, betete plump und ehrlich die Heiligen an. Indes kam dies Dogma und der neue Kultus nur allmählich in Aufnahme. Er wurde erst nach der Regierung Karls des Großen, um die Mitte des neunten Jahrhunderts, fest begründet.

Durch ähnliche Fortschritte kamen alle neuen Dogmen zur Macht. Im Urchristentum hatte Christus für einen Menschen gegolten, an dem das höchste Wesen Wohlgefallen fand. Als Gott wird er in den Evangelien nirgends bezeichnet, wenn anders man nicht Ausdrücke wie Gottes Sohn, Sohn Belials mißversteht, die nur sprichwörtliche Redensarten der Juden zur Bezeichnung der Güte oder Schlechtigkeit eines Menschen waren. Die Meinung, daß Christus Gott sei, kam erst in der Kirche auf und befestigte sich schließlich durch die Spitzfindigkeit einiger griechischer Philosophen von der peripatetischen Sekte, die zum Christentum übergetreten waren. Sie bereicherten es mit einem Teil jener dunklen Metaphysik, in die Plato einige Wahrheiten gehüllt hatte, deren Bekanntgabe ihm zu gefährlich erschien.

Im Kindesalter der Kirche, in den ersten Jahrhunderten, wo die Machthaber und Beherrscher des römischen Reiches Heiden waren, konnten die Förderer einer noch im Dunkeln lebenden Sekte keine Macht erlangen. Folglich mußte die Regierungsform der Kirche notwendig republikanisch sein. In den Lehren herrschte insgemein keinerlei Zwang, und die Christen blieben bei der größten Mannigfaltigkeit ihrer Ansichten doch immer vereint. Zwar verfocht mancher starrsinnige Priester seine Glaubenssätze hartnäckig und bäumte sich gegen jeden Widerspruch auf. Aber dieser Eifer beschränkte sich doch bloß auf das Disputieren. Die Geistlichen hatten keine Macht zur Verfolgung und daher keine Mittel, ihre Gegner zu ihrer Denkweise zu zwingen.

Zu Beginn des vierten Jahrhunderts, als Konstantin sich aus politischen Gründen zum Beschützer des Christentums aufwarf, änderte sich alles. Kaum saß er fest auf dem Throne, so schrieb er ein ökumenisches Konzil nach Nizäa aus (325). Von den Kirchenvätern, die zu diesem KonzU erschienen, stimmten dreihundert gegen Arius.<105> Sie erklärten und bestätigten rundweg die Göttlichkeit Christi, fügten ins Glaubens, bekenntnis die Worte „Gottes eingeborener Sohn“ ein und taten schließlich die Arianer in Bann. So erwuchsen bei jeder Kirchenversammlung neue Dogmen. Beim Konzil zu Konstantinopel (381) kam die Reihe an den Heiligen Geist. Den versammelten Kirchenvätern wäre es indessen wohl schwer gefallen, die dritte Person der Gottheit zum Vater und Sohn hinzuzufügen, wäre ihnen nicht ein Priester zu Hilfe gekommen, der verschmitzter und durchtriebener war als die andren. Er stickte nämlich einen eigens ersonnenen Vers vorn an das Johannesevangelium an: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ usw.105-1. So grob der Betrug in unsrer Zeit scheinen würde, so war er es damals doch nicht. Denn schon hatten anstatt des Volkes die Bischöfe die Bewahrung des Glaubens und der Schriften in die Hände bekommen und aus einer Menge von Schriften eine Anzahl ausgewählt, die sie für kanonisch erklärten. Zu diesem Vorteil, den sie bereits hatten, kam noch die Spaltung des Reiches, kamen die Kriege und die Verheerungen der Barbaren, die die Wissenschaft zerstörten und Unwissenheit und Dummheit beförderten. So war das Betrügen denn, wie man einsieht, keine große Kunst. Unbildung, Aberglaube und Stumpfsinn hatten ihm lange genug vorgearbeitet. Hätte auch jemand gewagt, die Stelle im Iohannesevangelium für interpoliert zu erklären, so brauchte man ja nur zu sagen, die Originalhandschrift sei erst neuerdings entdeckt worden.

Als Stifter neuer Dogmen mußten die Bischöfe sich notwendig ihrer Macht und ihres Einflusses bewußt werden. Es liegt in der Menschennatur, die Vorteile, die man hat, auszunutzen. Auch die Geistlichen waren Menschen und handelten demgemäß. Immerhin gingen sie mit einem gewissen Geschick zu Werke. Irgend ein Waghalsiger, den sie vorschoben, mußte eine neue Meinung äußern, die für sie vorteilhaft war und die sie annehmen wollten. Dann beriefen sie ein Konzil, und da wurde die Meinung als Glaubensartikel festgesetzt. So fand irgend ein Mönch in einer Stelle der Makkabäer105-2 die Lehre vom Fegefeuer. Die Kirche nahm sie an, und das neue Dogma brachte ihr mehr Schatze ein, als Spanien durch die Entdeckung von Amerika gewonnen hat. Ähnlichen Machenschaften ist auch die Verfertigung der falschen Dekretalien105-3 zuzuschreiben, die den Päpsten zum Schemel ihres Thrones gedient haben, von dem herab sie fortan den bestürzten Völkern Gesetze diktierten.

Bevor die Kirche aber zu dieser Höhe emporstieg, machte sie noch mehrere Wandlungen durch. Während der ersten drei Jahrhunderte dauerte die republikanische Form fort. Seit Kaiser Konstantins Übertritt zum Christentum aber entstand eine<106> Art von Aristokratie, deren Häupter die Kaiser, die Päpste und die vornehmsten Patriarchen waren. Diese Regierungsform erfuhr in der Folge Veränderungen, wie alles Menschenwerk. Wenn Ehrgeizige miteinander um Macht und Ansehen buhlen, so sparen sie weder List noch Kunstgriffe, um einander zu verdrängen, und am Ende siegen die Geriebensten über ihre Rivalen. Die Schlausten waren diesmal die Päpste. Sie benutzten die Schwäche des osirömischen Reiches, um die Macht der Cäsaren an sich zu reißen und die Rechte der Kaiserkrone auf die päpstliche Tiara zu übertragen. Gregor III. war der erste, der das versuchte. Papst Stephan III. ging auf diesem Wege weiter. Vom Langobardenkönig Aistulph aus Rom vertrieben, floh er nach Frankreich und krönte dort den Usurpator Pippin (754), unter der Bedingung, daß Pippin Rom von den Langobarden befreite. Nach Rom zurückgekehrt, schrieb der Papst, um die Hilfe aus Frankreich zu beschleunigen, einen Brief an den König, den er im Namen der Jungfrau, des heiligen Petrus und aller Heiligen gekrönt hatte, und drohte ihm mit ewiger Verdammnis, wenn er ihn nicht schleunigst vom Druck der Langobarden befreite. Das fränkische Reich, auf das er keinerlei Recht besaß, hatte er Pippin geschenkt, und Pippin schenkte ihm dafür — so behauptete er wenigstens — Rom und das römische Gebiet106-1, das doch eigentlich den Kaisern in Konstantinopel gehörte. Darauf wurde Karl der Große vom Papste106-2 zu Rom gekrönt (800) — nicht, weil er glaubte, die Kaiserkrone kraft päpstlicher Gnade zu empfangen, sondern weil geschrieben sieht, daß Samuel die Könige Saul und David salbte. Durch diese Zeremonie wollten die Kaiser nur Dem huldigen, der nach seinem Willen die Reiche erhebt oder erschüttert, erhält oder stürzt. Aber so verstanden die Päpste es nicht. Unter Ludwig dem Frommen, Karls des Großen Sohn, erhob Gregor IV. seine geistliche Macht über die weltliche und machte dem Kaiser begreiflich, daß sein Vater Krone und Reich nur dem Heiligen Stuhle zu danken hätte. So deuteten die Päpste, die Ausleger der Mysterien, die Salbung der Herrscher! Man hielt sie für Statthalter Christi; sie erklärten sich für unfehlbar und wurden angebetet. Die Finsternis der Unwissenheit wurde von Jahrhundert zu Jahrhundert tiefer. Was bedurfte es noch mehr, um dem Betrug Ansehen und Verbreitung zu verschaffen?

Die stets rastlose Politik der Geistlichkeit machte immer neue Fortschritte. Ein Mönch von anmaßendem, strengem und kühnem Charakter, namens Hildebrand, bekannter als Gregor VII.106-3, legte den eigentlichen Grund zur Größe des Papsttums. Er kannte kein Maß mehr, schrieb sich das Recht zu, Kronen auszuteilen und zu nehmen, Königreiche in den Bann zu tun, Untertanen vom Treueid zu entbinden. Seine Ansprüche waren grenzenlos, wie man sich aus seiner berüchtigten Bulle ln coena Domini106-4 überzeugen kann.

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Von seinem Pontifikat an muß man die Epoche des Despotismus der Kirche rechnen. Seine Nachfolger legten den Geistlichen die Vorrechte zu, die im alten Rom die Volkstribunen besaßen. Ihre Person wurde für unverletzlich erklärt, und um sie gänzlich der Strafgewalt ihrer rechtmäßigen Herrscher zu entziehen, entschieden die Konzile, der Niedere könne in keinem Fall über den Höheren richten, was im Stil der Zeit soviel hieß wie: die Fürsten hätten in ihren Staaten keine Gewalt über den Klerus. Durch dies Mittel sicherte sich der römische Bischof einen Anhang, ein Heer, das stets bereit war, in allen Ländern auf seinen Befehl zu kämpfen. So ungereimt uns derartige Unternehmungen heute vorkommen, so waren sie es damals doch nicht. Die Schwäche des in Europa allgemein eingeführten Feudal, systems, die großen Vasallen, die als geborene Feinde ihrer Lehnsherren die Bannbullen der Päpste aus Eigennutz unterstützten, benachbarte Fürsien, die Neider oder Feinde des Exkommunizierten waren, die Priester, die ganz dem päpstlichen Stuhle anhingen und der Macht ihres weltlichen Herrschers entzogen waren — all das waren Mittel, um die Könige zu plagen. So viele gemeinsame Interessen schufen den Päpsten eifrige und begeisterte Vollstrecker ihrer Bullen!

Wir wollen hier die Streitigkeiten zwischen Kaisern und Päpsten über ihre Anspräche auf die Stadt Rom, über die Belehnung mit Stab und Ring oder über die Erbfolge in den Ländern der Markgräfin Mathilde nicht aufzählen. Wie jedermann weiß, haben allein diese geheimen Triebfedern die häufigen Exkommunikationen der Kaiser und Könige veranlaßt. Die Art von Hochmut, die aus schrankenloser Macht erwächst, brach nie anstößiger hervor, als in dem Betragen Gregors VII. gegen Kaiser Heinrich IV. Im Schloß zu Canossa, wo er mit der Markgräfin Mathilde saß, zwang der Papst den Kaiser zu den erniedrigendsten und schimpflichsten Demütigungen, bevor er ihn vom Kirchenbann lossprach (1077). Trotzdem darf man nicht glauben, die Wirkung der Bullen und Bannsirahlen sei überall die gleiche gewesen. Für die Kaiser war sie furchtbarer als für die Könige von Frankreich. Die gallische Krone galt für unabhängig, und die Franzosen erkannten die Gewalt der römischen Bischöfe nur in geistlichen Dingen an.

So groß aber auch die Macht der Päpste war, jede Exkommunikation eines Kaisers zog doch einen Bürgerkrieg in Italien nach sich. Oft wurde der Papstthron dadurch erschüttert. Einige Päpste wurden aus ihrer Hauptstadt vertrieben, flohen in andre Länder und suchten Schutz bei einem Herrscher, der ein Feind ihres Verfolgers war. Allerdings kehrten sie triumphierend nach Rom zurück, aber nicht mit Waffengewalt, sondern dank ihrer Geschicklichkeit: so sehr war ihre Politik der der weltlichen Fürsten überlegen!

Um sich jedoch der Ebbe und Flut des Glückes zu entziehen, erfanden sie Triebfedern, die, einmal in Bewegung gesetzt, ihre Herrschaft sichern und ihren Despotismus befestigen mußten. Der Leser merkt gewiß schon, daß wir auf die Kreuzzüge hinauswollen. Um die Schwärmer zusammenzubringen, wurden Ab<108>lässe erteilt. Das heißt, jedem, der sich dem Diensie der Kirche und des Heiligen Vaters widmete, wurde Straflosigkeit für alle seine Verbrechen zugesichert. Um sich in Palästina herumzuschlagen, wo man garnichts zu fordern hatte, um das Heilige Land zu erobern, das die Kosten des Zuges nicht wert war, verließen Fürsten, Könige und Kaiser mit zahllosen Heerscharen aus allen europäischen Ländern ihre Heimat und setzten sich in weiter Ferne unvermeidlichen Gefahren aus. Angesichts der unglücklichen Folgen so schlecht entworfener Pläne lachten sich die Päpste ins Fäustchen über die törichte Verblendung der Menschen und freuten sich ihres eignen Erfolges. Während der freiwilligen Verbannung so vieler Menschen fand Rom nirgends Widerstand gegen seinen Willen, und solange dieser Wahnsinn dauerte, schalteten die Päpste unumschränkt über Europa. Als man in Rom merkte, daß die Völker durch die Mißerfolge der Kreuzzüge den Mut verloren, war man klüglich darauf bedacht, sie wieder anzufeuern durch die Hoffnung auf besseres Gelingen, die ihnen irgend ein tonsurierter Betrüger machen mußte. Bei mehreren Gelegenheiten diente Bernhard von Clairvaux dem Heiligen Stuhle zum Werkzeuge108-1. Seine Beredsamkeit war ganz dazu angetan, das Gift dieser Epidemie zu verbreiten. Er schickte viele Schlachtopfer nach Palästina, hütete sich aber wohl, selbst hinzugehen. Was war der Erfolg so vieler Unternehmungen? Kriege, die Europa entvölkerten, Eroberungen, die, kaum gemacht, wieder verloren gingen. Ja, die Christen öffneten dadurch selbst die Bresche, durch die die Türken in Europa eindrangen und sich in Konstantinopel festsetzten.

Noch größer war das moralische Elend, das die Kreuzzüge hervorriefen. All die Ablässe, all die Vergebungen von Verbrechen, die man an den Meistbietenden vertaufte, bewirkten eine allgemeine Entsittlichung. Die Gesinnung der Menschen wurde immer verderbter. Die so heilige und lautere christliche Moral geriet ganz in Verfall, und auf ihren Trümmern erhoben sich äußerlicher Gottesdienst und abergläubische Gebräuche. Waren die Schätze der Kirche erschöpft, so versteigerte man das Paradies und bereicherte damit die päpstlichen Kassen. Wollten die Päpste einen Herrscher, mit dem sie unzufrieden waren, bekriegen, so predigten sie den Kreuzzug gegen ihn, bekamen Truppen und konnten sich schlagen. Wollte der Heilige Stuhl einen Fürsten stürzen, so ward er für einen Ketzer erklärt und in den Bann getan. Auf dies Losungswort hin rottete sich alles gegen ihn zusammen.

Durch solche Maßnahmen wurde das despotische Joch der Päpste immer drückender. Die Großen der Welt waren seiner längst überdrüssig und hätten es gern abgeschüttelt, wagten es aber nicht. Die Macht der meisten war zu wenig befestigt, und die große Masse ihrer Untertanen, die in der tiefsten Unwissenheit schmachtete, war durch die Ketten des Aberglaubens gleichsam gebunden und geknebelt. Zwar versuchten einige ihre Zeit überragende Geister, den betörten Völkern die Augen zu öffnen und<109> sie durch das schwache Licht des Zweifels zu erleuchten, aber die Tyrannei der Kirche vereitelte alle ihre Bemühungen. Sie hatten mit Richtern zu tun, die zugleich Partei waren. Ihnen drohten Verfolgung, Kerker und Schmach, ja selbst die Flammen, die bereits von den Scheiterhaufen der Inquisition aufloderten.

Zur Vervollständigung des Bildes dieser Zeiten des Schwindelgeistes und der Verdummung denke man sich noch die Pracht und Üppigkeit der Bischöfe hinzu, die dem allgemeinen Elend gleichsam Hohn sprach, das schamlose Leben und die schwarzen Verbrechen so vieler Päpste, die die Moral des Evangeliums dreist Lügen straften, den Ablaßschacher, diesen offenbaren Beweis, daß die Kirche, um sich zu bereichern, das Heiligste des Glaubens verriet. Kurz, die Päpste trieben Mißbrauch mit ihrer auf die Leichtgläubigkeit der Menschen gegründeten Macht, genau wie heutzutage manche Völker ihr ideelles Ansehen mißbrauchen. All dieser gehäufte Zündstoff bereitete die Reformation vor.

Der Vollständigkeit halber müssen wir einen Umstand erwähnen, der die Ausführung erleichterte. Seit dem Konzil zu Konstanz109-1, wo Kaiser Sigismund drei Päpste hintereinander absetzen ließ, fürchtete der Heilige Stuhl die allgemeinen Kirchenversammlungen ebensosehr, als er sie bis dahin gewünscht hatte. Die Väter zu Konstanz hatten erklärt: ein Konzil habe durch göttliches Recht die Macht, die Päpste zu reformieren und abzusetzen. Schon zur Zeit der Ottonen hatten die Kaiser aus Unwillen darüber, die Bannflüche gegen ihre Vorfahren mitzuerben, auch ihrerseits die Religion und die Versammlungen der Bischöfe geschickt benutzt, um den römischen Bischof abzusetzen und ihn mit seinen eignen Waffen zu bekriegen. Seit dem großen Schisma der abendländischen Kirche109-2 verloren die Päpste viel von ihrem idealen Ansehen. Unheilige Hände griffen das vergoldete Götzenbild an, vor dem die Welt im Staube lag, und fanden, daß es nur aus Ton bestand. Seitdem fürchtete sich der Heilige Stuhl vor den Königen, Kaisern und Konzilen, und die einst so schrecklichen Waffen des Bannfluches verrosteten in den Händen der Päpste. Kurz, alles kündete eine Umwälzung an, als Wycliffe in England und Johann Huß in Böhmen auftraten.

Doch das war erst die schwache Morgenröte des Tages, der die Finsternis verscheuchen sollte. Indes das Maß war voll. So roh und stumpf das Volk auch sein mochte, es war der ewigen Abgaben an die Geistlichen müde, nahm Anstoß an der Pracht und dem schändlichen Leben der Bischöfe und geriet in jene Art von Gärung, die den großen Revolutionen vorherzugehen pflegt. Endlich gab der Ablaßschacher den Anstoß. Halb Europa kündigte dem Heiligen Stuhl den Gehorsam auf und fiel von ihm ab. Diese große Revolution der Geister mußte früher oder später eintreten; denn einerseits kennt die Machtgier keine Grenzen und andrerseits besitzt der menschliche Geist doch nur ein gewisses Maß von Geduld. Die Päpste aber, die<110> schon seit so vielen Jahrhunderten im Besitz des Rechtes waren, die Völker zu beitrügen, konnten nicht vorhersehen, daß sie Gefahr liefen, wenn sie den Weg ihrer Vorgänger weiterschritten.

Ein sächsischer Mönch von verwegenem Mute, voll lebhafter Einbildungskraft, klug genug, um die Gärung der Geister zu benutzen, ward zum Haupt der Partei, die sich gegen Rom erklärte. Dieser neue Bellerophon warf die Chimäre zu Boden, und die Verzauberung schwand. Sieht man bloß auf die plumpen Grobheiten seines Stils, so erscheint Martin Luther zwar nur als ein polternder Mönch, als ein roher Schriftsteller eines noch wenig aufgeklärten Volkes. Wirft man ihm aber auch mit Recht sein ewiges Schelten und Schimpfen vor, so muß man doch bedenken, daß die, für die er schrieb, nur bei Flüchen warm wurden, aber Gründe nicht verstanden.

Betrachten wir jedoch das Werk der Reformatoren im großen, so müssen wir zugeben, daß der menschliche Geist ihrem Wirken einen guten Teil seiner Fortschritte dankt. Sie befreiten uns von vielen Irrtümern, die den Verstand unsrer Väter verdunkelten. Indem sie ihre Gegner zu größerer Vorsicht zwangen, erstickten sie das Aufkeimen neuen Aberglaubens und wurden, well man sie verfolgte, tolerant. Nur in der heiligen Freistätte der in protestantischen Staaten eingeführten Duldung konnte sich die menschliche Vernunft entwickeln, pflegten Weise die Philosophie, erweiterten sich die Grenzen unsres Wissens. Hätte Luther auch weiter nichts getan, als daß er die Fürsten und Völker aus der Knechtschaft befreite, in der sie der römische Hof gefesselt hielt, so verdiente er schon, daß man ihm als dem Befreier des Vaterlands Altäre errichtete. Hätte er den Schleier des Aberglaubens auch nur zur Hälfte zerrissen, wieviel Dank wäre ihm die Wahrheit nicht schuldig! Der strenge, kritische Blick der Reformatoren hielt die Väter auf dem Konzil zu Trient110-1 zurück, als sie schon die Jungfrau zur vierten Person der Dreieinigkeit machen wollten. Immerhin gaben sie ihr zur Entschädigung den Titel Mutter Gottes und Königin des Himmels.

Die Protestanten zeichneten sich durch strenge Tugend aus und zwangen dadurch den katholischen Klerus zu gesitteterem Wandel. Die Wunder hörten auf. Es wurden weniger Heilige kanonisiert. Der päpstliche Stuhl wurde nicht mehr durch den ruchlosen Wandel der Päpste besteckt. Die Fürsten waren vor Bannsirahlen sicher. Die Kirchen wurden seltener mit Interdikt belegt, die Völker nicht mehr ihrer Eide entbunden, und die Ablaßbriefe kamen außer Mode.

Noch einen andren Vorteil brachte die Reformation: die Theologen so vieler Sekten mußten nun mit der Feder kämpfen und waren daher genötigt, etwas zu lernen. Das Wissensbedürfnis machte sie gelehrt. So blühte die Beredsamkeit Griechenlands und des alten Roms wieder auf. Zwar benutzte man sie nur zu abgeschmackten theologischen Streitschriften, die kein Mensch lesen kann, aber es erschienen<111> doch in allen Parteien große Männer, und auf die Lehrstühle, auf denen bisher nur Trägheit und Unwissenheit gesessen hatte, traten nun Lehrer von hervorragenden Verdiensten.

Das war der Segen der Reformation. Vergleicht man ihn mit den Übeln, die sie hervorbrachte, so muß man gestehen, der Vorteil war teuer erkauft. In ganz Europa kamen die Geister in Gärung. Die Laien prüften, was sie bisher angebetet hatten. Bischöfe und Äbte bangten um den Verlust ihrer Einkünfte. Die Päpste zitterten um ihr Ansehen. Kurz, alles geriet in Flammen. Nichts ist so erbittert, so erbarmungslos, wie der Priesterhaß. Er mischte sich in die Politik der Fürsten und erregte jene Kriege, die so viele Reiche verheerten. Ströme von Blut überschwemmten Deutschland, Frankreich und die Niederlande. Erst nachdem das Glück lange geschwankt hatte, nachdem alle Abscheulichkeiten begangen waren, die die Bosheit der sich selbst überlassenen Menschen in Verbindung mit Schwärmerei verüben kann, erst da erlangten Deutschland und Holland mitten unter den rauchenden Trümmern ihres Vaterlands das unschätzbare Gut: die Gedankenfreiheit. Später folgte der ganze Norden ihrem Beispiel.

Wer sähe nicht, wenn er die Geschichte der Kirche durchläuft, daß alles nur Menschenwerk ist? Welch erbärmliche Rolle läßt man Gott spielen! Er schickt seinen einzigen Sohn in die Welt. Dieser Sohn ist Gott. Er opfert sich selbst, um sich mit seinen Geschöpfen zu versöhnen. Er wird Mensch, um das verderbte Menschengeschlecht zu bessern. Was entspringt aus diesem großen Opfer? Die Welt bleibt so verderbt, wie sie vor seiner Ankunft war. Der Gott, der da sprach: „Es werde Licht!“ — und es ward Licht —, sollte so unzureichende Mittel benutzen, um zu seinen anbetungswürdigen Zwecken zu gelangen? Ein einziger Willensakt von ihm genügt, um das geistige und leibliche Böse aus der Welt zu verbannen, den Völkern welchen Glauben er will einzuflößen und sie auf den Wegen, die seiner Allmacht offen stehen, glücklich zu machen. Nur beschränkte und enge Geister wagen Gott ein Betragen zuzuschreiben, das seiner anbetungswürdigen Vorsehung so unwürdig ist, und lassen ihn durch eines der größten Wunder ein Werk unternehmen, das ihm doch nicht gelingt.

Und eben die Menschen, die vom höchsten Wesen so unzureichende Begriffe haben, setzen auf jedem Konzil neue Glaubensartikel fest! Man findet sie sämtlich in dem chronologischen Auszug aus der großen Kirchengeschichte von Fleury, einem unverdächtigen Geschichtsschreiber. Das Kennzeichen von Gottes Werken ist ihre Beständigkeit, das der menschlichen Werke ihre Wandelbarkeit. Wo bleibt da die Möglichkeit, Lehren für göttlich zu halten, die nacheinander aufkommen, die vermehrt, vermindert und verändert werden, je nach dem Gutdünken und Vorteil der Priester? Wie kann man an die Unfehlbarkeit derer glauben, die sich für Statthalter Christi ausgeben, wo man sie nach ihren Sitten eher für Statthalter jener schlimmen Wesen halten möchte, die, wie es heißt, die Abgründe der Qualen und Finsternisse bevölkern? Wir sehen Päpste, die einander in den Bann tun, Päpste, die ihre Worte zurück<112>nehmen, Konzile, die die Lehrsätze vorhergehender KonzUe unter dem Vorwand einer Erklärung der Dogmen abändern. Der Schluß ist klar: entweder haben sich diese oder jene geirrt. Warum, fragt man ferner, bekehrte man die Völker mit Verfolgungen, mit Feuer und Schwert, wie es z. B. Karl der Große in Deutschland tat, oder wie die Spanier nach Vertreibung der Mauren und noch jetzt in Amerika? Muß nicht jeder Leser auf den Gedanken kommen: wenn die Religion wahr ist, so reicht ihre Evidenz zur Überzeugung hin. Ist sie aber falsch, so muß man freilich verfolgen, um die Menschen zu ihr zu bekehren! Wir wollen garnicht Wert darauf legen, daß die Wunder nur in den Jahrhunderten der Unwissenheit so häufig und in aufgeklärteren Zeiten so selten sind.

Mit einem Worte, die Kirchengeschichte offenbart sich uns als ein Werk der Staatskunst, des Ehrgeizes und des Eigennutzes der Priester. Statt etwas Göttliches darin zu finden, trifft man nur auf lästerlichen Mißbrauch mit dem höchsten Wesen. Ehrwürdige Betrüger benutzen Gott als Schleier zur Verhüllung ihrer verbrecherischen Leidenschaften. Wir unterlassen es klüglich, diesem Bilde noch etwas hinzuzufügen. Für jeden denkenden Leser ist genug gesagt. Automaten wollen wir nichts vorbuchstabieren.

<113>

Widmung des „Lebens des Apollonios von Tyana“
von Philostratos an
Papst Klemms XIV.
113-1



Heiliger Vater!

Wir nehmen uns die Freiheit, Eurer Heiligkeit das „Leben des Apollonios von Tyana“ mit den Anmerkungen des Barons Herbert, die wir aus der englischen Ausgabe von Charles Blount übersetzt haben, zu widmen. Die von Philostratos überlieferte Geschichte des Apollonios wurde von Hierokles113-2, einem großen Anhänger des heidnischen Kultus, dazu benutzt, die angeblichen Wunder dieses Apollonios den Wundern Jesu Christi entgegenzustellen. Hierokles wurde seinerseits von Eusebios bekämpft, der sich in seiner Demonstratio evangelica die größte Mühe gab, jene Wunder zu widerlegen. Herr von Tillemont113-3 glaubt, der Teufel habe aus Furcht, durch die Ankunft des Heilands vernichtet zu werden, fast gleichzeitig unsren Apollonios zur Welt kommen lassen, damit, wenn Christi angebliche Magie die Völker unterjochte, der Irrtum Altäre gegen die Wahrheit errichten könnte, oder falls die Betrügereien seines Helden ans Licht kämen, durch die falschen Wunder des Apollonios auch die Wunder Christi in Mißkredit gebracht würden. Wer nicht<114> jahrelang in den politischen Schreibstuben der Hölle als Sekretär gearbeitet hat, wird über dies Thema nicht mehr sagen können als Herr von Tillemont. Indes scheint die heutige Kirche eine kräftigere Widerlegung der Wunder des Apollonios zu fordern als die ersten Kirchenväter. Das von uns veröffentlichte Werk setzt diese Wunder ins hellste Licht. Baron Herbert bekräftigt sie durch seine Anmerkungen. Wenn der Irrtum so dreist auftritt, verdient er von einem starken, siegreichen Arme zu Boden geschlagen zu werden. Und von wem könnte die Schar der Auserwählten solche Hilfe erwarten, wenn nicht von dem sichtbaren Haupte der Kirche, dem Statthalter Christi auf Erden? Eurer Heiligkeit gebührt die Aufklärung der Welt in einem Jahrhundert, wo der Unglaube überhandnimmt, wo die Geister denken lernen, wo der Philosoph nur exakte Beweise zuläßt, kurz, wo alles sireng geprüft und dem Urteil unterworfen wird. Eurer Heiligkeit gebührt es, uns die untrüglichen Kennzeichen zu lehren, an denen man die Zaubereien der Betrüger von den Wundern des Teufels und die Wunder des Teufels von denen unterscheiden kann, die Gott in seiner Gnade durch seine Diener vollbringen ließ. Mit diesen Waffen, die wir aus den heiligen Rüstkammern erbitten, werden wir um so besser Trotz bieten können allen Angriffen des Teufels, der alles ins Werk setzt, um die Grundlagen der Kirche zu untergraben und zu erschüttern. Den wankenden Glauben befestigen, die Wunder des Apollonios widerlegen, nach Aufhebung des Jesuitenordens114-1 den Teufel niederschlagen, das sind, Heiliger Vater, Taten, die Euer Pontifikat über das Eurer sämtlichen Vorgänger erheben werden. Wir werden uns glücklich schätzen, wenn dies Werk, das wir Euch zu Füßen legen, Euch Gelegenheit gibt, Euren Ruhm zu vermehren und die streitende Kirche zu befestigen, deren stärkster Rückhalt Eure Heiligkeit ist.

Mit tiefster Ehrerbietung und Demut verbleibe ich,
Vater der Gläubigen, Eurer Heiligkeit demütigstes und untertänigstes Schäflein Philalethes.

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Bericht des Phihihu, Sendboten des Kaisers von China in Europa (1760)115-1

Aus dem Chinesischen.

1. Brief.

Erhabner Kaiser, Stern des Lichtes, Wunder unsrer Tage, Trost Deiner Sklaven, 0 Du, dessen Fußschemel zu küssen ich nicht wert bin! Deinem Gebot gemäß habe ich die große Reise unternommen, die Du mir auftrugest. Ich kam mit Pater Berteau in Konstantinopel an, ohne daß uns unterwegs irgend ein Leids geschehen wäre. Konstantinopel ist zwar eine sehr große Stadt, aber sie reicht doch nicht an Peking heran. Hier herrscht ein neuer Türkenkaiser115-2, der vor kurzem seinem Oheim auf dem Throne gefolgt ist. Mit Erstaunen erblickte ich bei diesem Volke große Augen und Bärte, die Wäldern gleichen. Alle Europäer sollen ebenso sein; ich zweifle aber, ob sie besser sehen als wir. Die Barte tragen sie, wie man mir sagte, um sich ein weises Ansehen zu geben. Bei einem Spaziergang in Pera sah ich ein Tier mit Hörnern, das nach seinem Barte zu urteilen weiser sein mußte als alle jene Leute. Ich fragte, ob es in großem Ansehen stünde. Da hätte man mich fast gesteinigt, und ich rettete mich mit meinem Jesuiten in das Haus eines Gesandten, der zwar keinen Bart hatte, mir aber ebenso menschlich erschien, wie meine Steiniger mir wild dünkten. Nach diesem Abenteuer hielt ich ein längeres Verweilen in einem Lande, wo man fremde Frager so übel aufnimmt, nicht für geraten.

Wir fanden ein Schiff, das nach Italien segelte. Pater Berteau und ich bestiegen es. Unterwegs sah ich nichts Bemerkenswertes als die Kanonen der Darda<116>nellen. Sie sind so groß, daß eine chinesische Familie in ihrem Bauche bequem wohnen könnte. Man versicherte mir, es sei ein großer Beweis von Höflichkeit, sie für einen Fremden lösen zu lassen, und der Gipfel der Ehre sei, sie mit Kugeln zu laden. Ich gestehe Dir, erhabner Kaiser, ich war hocherfreut, daß ich auf Deinen Befehl inkognito reise; denn das hat mich bei dieser Gelegenheit vor einer großen Gefahr behütet.

Wir fuhren durch ein ziemlich schmales Meer, das Europa von Afrika trennt, und nach vierzehntägiger Schiffahrt landeten wir glücklich in einem Hafen namens Ostia. Ich war verwundert über eine Menge von Dingen, die von allem, was man in Deinem unermeßlichen Reiche sieht, völlig verschieden sind, insonderheit die Sitten und Gebräuche der Europäer, die sich mit nichts vergleichen lassen. Pater Berteau redete mir zu, nach der Hauptstadt Europas zu reisen. Ich fand es fürwahr nicht lohnend, die kleinen Städte zu besuchen. Ging ich aber nach der größten, so fand ich dort das Original, von dem die andren nur Abbilder sind.

Rom ist für die Europäer das gleiche, was Tibet für die Mandschus und die mongolischen Tartaren ist. Dort residiert der große Lama, ein Priesterkönig. Man versicherte mir, seine geistliche Macht erstrecke sich weiter als die weltliche, und wenn er eine gewisse Formel sage, so erbebten die Könige auf ihren Thronen. Ich wollte es nicht glauben und fragte einen alten Bonzen, mit dem ich Bekanntschaft machte, ob die sonderbare Behauptung wahr sei.

„Sehr wahr“, sagte er. „Um Ihnen jedoch nichts zu verhehlen, muß ich Ihnen gestehen, daß die gute Zeit vorüber ist. Vor fünfhundert Jahren galten gewisse mystische Worte, die unser heiliger Oberpriesier aussprach, soviel wie Beschwörungen und ließen nach unsrem Belieben Kronen und Zepter fallen. Dies Vergnügen haben wir nicht mehr, aber wir besitzen andre Mittel, die uns doch noch immer Ansehen bei den Großen verschaffen und sie in ziemlich starke Bedrängnis bringen.“ — „Welch sonderbares Vergnügen“, fragte ich, „macht es Ihnen denn, derart Um frieden in Ländern zu stiften, über die Sie keine Gerichtsbarkeit haben?“ — „Keine Gerichtsbarkeit!“ erwiderte er. „Wie? Haben wir denn nicht die geistliche Gerichtsbarkeit über alle Seelen? Die Könige haben Seelen, folglich ...“ — „Ach!“ rief ich, „Ihre Meinung würde in Peking nicht gelten. Unsre erhabnen Herrscher haben auch Seelen. Sie sind aber fest überzeugt, daß sie ihnen selbst gehören und daß sie darüber nur dem Tien116-1 Rechenschaft schulden.“ — „Das ist“, entgegnete der Bonze, „just die Ketzerei derer, die sich von der Kirche getrennt haben.“ — „Was ist Ketzerei?“ fragte ich. — „Die Meinung aller, die nicht so denken wie wir.“ Ich tonnte mir nicht versagen, ihm entgegenzuhalten, ich fände es scherzhaft, daß er von jedermann verlangte, seine Meinung zu teilen. Denn als der Tien uns schuf, habe er jedem besondere Züge, einen besonderen Charakter und eine besondre Art, die Dinge zu sehen,<117> gegeben. Wenn man also nur in der Übung der sittlichen Tugenden einig sei, käme es auf das übrige wenig an.

Mein Bonze versicherte mir, er merke, daß ich noch sehr chinesisch sei. „Das will ich zeitlebens bleiben“, erwiderte ich ihm. „Wissen Sie, in unsrem Lande hätten die Bonzen es schlecht, wenn sie so denken wollten wie Sie. Man erlaubt ihnen, Hals, eisen zu tragen und sich so viele Nägel in den Hintern zu stoßen, als es ihnen Spaß macht. Im übrigen mögen sie so grämlich sein, wie sie wollen: sie haben nicht die Macht, einem Sklaven das Leben sauer zu machen, und täten sie es, man zahlte es ihnen gehörig heim.“ Mein Bonze erwiderte mit betrübter Miene, er sähe zu seinem großen Leidwesen, daß wir verdammt würden. Denn es gäbe kein Heil für solche, die die Bonzen nicht blindlings verehrten und nicht gedankenlos alles glaubten, was sie zu sagen beliebten.

Ich weiß nicht, ob das die Privatmeinung des Mannes war, mit dem ich sprach, oder der allgemein befolgte Glaube. Bei der kurzen Zeit, die ich hier verweile, habe ich es noch nicht ermitteln können. Ich bitte Dich demütigst, Dich ein wenig zu gedulden, und Du wirst mit den Berichten Deines Sklaven zufrieden sein.

2. Brief.

Heute war ich im großen Tempel der Christen. Ich werde Dir Dinge verkünden, erhabner Kaiser, die Du nicht für möglich hältst und die ich selbst kaum glauben kann, wiewohl ich sie gesehen habe. In diesem Tempel ist eine große Menge von Altären, und vor jedem Altar sieht ein Bonze. Jeder dieser Bonzen, vor dem das Volk am Boden liegt, macht einen Gott. Sie behaupten aber, so viele Götter sie auch durch Murmeln gewisser Zaubersprüche machten, es sei immer derselbe Gott. Ich wundre mich nicht, daß sie es sagen, aber unbegreiflich ist es, daß das Volk es glaubt. Auf diesem schönen Wege bleiben sie aber nicht stehen. Wenn sie den Gott gemacht haben, essen sie ihn auf. Einen so seltsamen Gottesdienst hätte der große Konfutse lästerlich und anstößig gefunden. Es gibt unter ihnen eine Sekte, die sogenannten Frommen, die verzehren fast täglich den Gott, den sie machen, und halten das für das einzige Mittel, um nach diesem Leben glücklich zu werden. In demselben Tempel sieht auch eine große Zahl von Standbildern, vor denen man Verbeugungen macht und zu denen man betet. Diese stummen Bilder haben eine Stimme im Himmel und legen beim Tien Fürsprache für die ein, die auf Erden ihre diensteifrigsten Höflinge waren. Das alles wird ernstlich geglaubt.

Auf dem Heimweg unterhielt ich mich mit einem verständigen Manne, der meine Verwunderung über alles bemerkte, was ich gesehen, und zu mir sagte: „Sehen Sie nicht ein, daß in jeder Religion etwas sein muß, was dem Volke Eindruck macht?<118> Unser Glaube ist auf das Volk zugeschnitten. Man kann nicht zu seinem Verstande sprechen, aber man packt es bei seinen Sinnen. Indem man ihm einen, wenn Sie wollen, übertriebenen Gottesdienst auferlegt, unterwirft man es den Regeln und der Übung in den guten Sitten. Prüfen Sie unsre Moral, und Sie werden es sehen.“ Daraufhin gab er mir ein Buch, das einer seiner Gelehrten verfaßt hatte. Darin fand ich ungefähr das gleiche wie in der Sittenlehre des Konfutse. Ich begann mich mit den Christen auszusöhnen, erkannte, daß man nicht leichthin nach dem Schein urteilen muß, und fiel bald in den andern Gegensatz. „Wenn diese Religion“, so sagte ich mir, „eine so treffliche Moral hat, so sind ihre Bonzen gewiß Muster aller Tugenden, und der große Lama muß ein göttergleicher Mensch sein.“ Von diesen Gedanken erfüllt, erging ich mich abends auf dem Spanischen Platze. Dort begrüßte mich ein Mann, wie man mir sagte, ein Portugiese. Er war sehr überrascht, daß ich ein Chinese war und Reisen machte, und richtete einige Fragen über mein Land an mich, worauf ich ihm nach besten Kräften Bescheid gab. Das veranlaßte mich, ihn auch über sein Land auszufragen. Wie er sagte, wohnte sein König am westlichen Ende von Europa. Sein Reich sei zwar nicht groß, doch hätte er große Besitzungen in Amerika und sei der reichste Fürst, da er seine Einnahmen nicht auszugeben vermöchte. Ich fragte ihn, ob er wie ich reiste, um sich zu belehren, oder aus welchem Grunde er ein so reiches Land verlassen hätte, um hierher zu kommen, wo allein die Tempel prunkvoll seien und nur die Bonzen, die das Gelübde der Armut abgelegt hätten, im Überfluß lebten. „Mein König schickt mich hierher“, sagte er. „Er hat ein Geschäft mit dem großen Lama.“ — „Wohl seines Seelenheils wegen ?“ fragte ich weiter. „Denn ein Bonze hat mir versichert, er hätte ein Pfandrecht auf alle Seelen der Fürsien.“ — „Es handelt sich um sein leibliches Wohl,“ erwiderte der Portugiese, „denn eine abscheuliche Art von Bonzen, die wir haben, trachtete ihm nach dem Leben.“ — „Warum hat er die Bonzen nicht pfählen lassen?“ fragte ich ergrimmt. — „Man pfählt hierzulande keine Geistlichen“, entgegnete jener. „Mein Gebieter vermochte nichts weiter, als sie zu verbannen. Der große Lama hat sie in Schutz genommen, hat ihnen hier eine Freistatt gegeben und belohnt sie für den Königsmord, den sie in Lissabon vollbringen wollten118-1.“ — „Fürwahr,“ rief ich, „Herr Portugiese, in Ihrem Europa ist alles unbegreiflich. Heute las ich ein Buch Ihrer Sittenlehre, das mich entzückt hat; Ihre Bonzen predigen sie, Ihr großer Lama ist der lebendige Quell, aus dem sie fließt. Wie kann er, das Vorbild aller Tugend, sich derart zum Beschützer eines abscheulichen Verbrechens machen?“ — „Reden Sie nicht so laut“, warnte der Portugiese. „Es gibt hier eine gewisse Inquisition. Die könnte Sie für die dreisten Worte, die Ihnen entschlüpften, bei langsamem Feuer braten lassen. Wollen Sie von dem großen Lama reden, dann nur an einem sichren Orte, wo uns niemand verraten kann.“ Da gedachte ich des Abenteuers mit dem Bock in Konstantinopel und folgte ihm.

<119>

Du siehst, erhabner Kaiser, welche Gefahren ich schon in Deinem Dienste bestanden habe. Ich wurde eines Bockes wegen fast gesteinigt und auf ein Haar gebraten, weil ich sagte, daß der große Lama die Verbrecher beschützt. Ach! welch ein wunderliches Land ist dies Europa! Wie sehne ich mich zurück nach den sanften Sitten, die unter Deinem Zepter blühen, nach den glücklichen Gefilden, in denen ich unter Deiner Herrschaft geboren ward!

3. Brief.

Sobald ich das Haus meines Portugiesen betreten und er die Tür wohlverschlossen hatte, sodaß er uns für gesichert hielt, Hub er folgendermaßen an: „Ich sehe wohl, Sie sind eben erst in dies Land gekommen, und alles muß Ihnen hier neu scheinen. Sie haben religiöse Bräuche gesehen, die Ihnen zweifellos sonderbar vorgekommen sind. Sie haben Moralbücher gelesen, die Sie mit den Bonzen ausgesöhnt haben. Erfahren Sie denn, daß diese Bräuche und Bücher in der Tat nur Köder für das Volk sind. Alles, was Sie hier sehen, vom Papste bis hinab zum letzten Mönche, der bis an die Hüften im Dreck watet, macht wenig Aufhebens davon. Der Tien ist nur ein Vorwand für ihre Herrschsucht und ihren Geiz. Die Religion dient ihnen zu beidem. Daher auch ihr frommer Eifer; daher lassen sie alle verbrennen, die die Fesseln ihrer Knechtschaft brechen wollen. Wir haben große Lamas gehabt, die Ehebruch und Blutschande trieben, die berufs- und handwerksmäßige Giftmischer waren. Es gibt kein Verbrechen, mit dem ihre Tiara nicht besteckt ist. Im allgemeinen sind die Diener der Kirche durch die Kühnheit ihrer Unternehmungen und ihre unversöhnliche, boshafte Rachsucht der bösartigste und gefährlichste Menschenschlag. Ich rede offen; denn im Grunde gehöre ich ihrem Glauben nicht an. Ich bin ein Jude.“ — „Was ist ein Jude?“ unterbrach ich. „Von diesen Leuten habe ich nie etwas gehört.“ — „Die Juden“, antwortete er, „waren das auserwählte Volt Gottes; sie haben in Judäa gewohnt, sind aber schließlich von den Römern vertrieben worden und leben nun über die ganze Welt verstreut, wie die Banjanen119-1 und Guebern119-2 in Asien. Auf unser Gesetzbuch gründen die Christen das ihre. Sie geben zwar zu, daß ihr Glaube aus dem unsren entspringt; aber diese undankbaren Kinder schlagen und mißhandeln ihre Mutter. Um in Lissabon nicht verbrannt zu werden, hat unsre Familie zum Schein den Gottesdienst der Christen angenommen, und um ruhiger zu leben, bin ich Familiare der Inquisition geworden.“ Ich unterbrach ihn nochmals, um zu erfahren, was ein Familiare sei. Er sagte mir, es wäre eine Stellung, in der man sich um alles kümmerte, was dies furchtbare Gericht anginge und was es verletzen könnte. Ich dankte ihm für die gegebenen Aufklärungen. Dann trennten wir uns und versprachen, einander wiederzusehen.

<120>

4. Brief.

Am nächsten Tage kam Pater Berteau zu mir. Ich fragte ihn gleich, ob er zu den Bonzen gehöre, die man aus Portugal vertrieben habe. Er bejahte es und setzte hinzu: „Ach, durch schreiendes Unrecht hat man die guten Väter aus ihrer heiligen Freistatt verjagt!“ Diese Worte trieben mir das Blut ins Gesicht. „Wie, mein Vater!“ rief ich. „Sollte der König von Portugal sich denn von diesen Schelmen von Bonzen ermorden lassen?“ — „Für sein Seelenheil,“ erwiderte der Pater, „war es besser, er wurde ermordet, als daß er die frommen Mönche vertrieb.“ — „Welch scheußlicher Grundsatz, mein Vater! Wie stimmt das“, setzte ich hinzu, „zu den Moralbüchern, die Sie mir zu lesen gaben?“ — „Ausgezeichnet“, entgegnete jener. „Nach der Meinung des Paters Bauni120-1, des Sanchez120-2 und einiger unsrer berühmtesten Kasuisten muß man die Könige töten, wenn sie Tyrannen sind.“ — „O Kon, futse, Konfutse!“ rief ich aus. „Was würdest du sagen, wenn du solche Ruchlosig, leiten hörtest!“ Wie glücklich ist Dein Reich, erhabner Kaiser, daß ein Glaube, der so schändliche Grundsätze duldet und übt, unter Deiner Herrschaft nicht besieht!

Seit jener Unterredung faßte ich einen Abscheu gegen Pater Berteau und wollte nicht mehr mit ihm verkehren. Am nächsten Tage war ich in einer Gesellschaft von Priestern; denn hierzulande ist jedermann Priester, in der Hoffnung, einst Lama zu werden. Auch der Portugiese war darunter. Ich war begierig, zu erfahren, wie der große Lama gewählt wird. Folgendes habe ich darüber ungefähr festgestellt. Nach ihrer Behauptung zerfällt der Tien in drei Teile — ich habe das nie verstanden, so sehr sie es mir auch klarzumachen suchten —, und ein Teil des Tien, den sie den Hei, ligen Geist nennen, leitet die Wahl des Lama. Er wird aus siebzig Bonzen gewählt, die samt und sonders krebsrot120-3 sind. Mein Portugiese sagte zu mir: „Glauben Sie nichts von alledem. Einige Könige, die in großem Ansehen stehen, und die Ränke dieser Krebse bestimmen den Lama. Obwohl er vor Freude, Lama geworden zu sein, aufjauchzen möchte, muß er weinen und über die große Bürde klagen, die man ihm auflädt. Man wählt einen möglichst Alten, damit ein andrer dieser Ehrgeizigen, die nach seinem Throne streben, ihm bald nachfolgen kann. Noch aus einem andren stärkeren Grunde wählt man einen möglichst Alten: die Greise geben weniger Anlaß zu Ärgernis. In einem Siebzigjährigen sind alle unkeuschen Begierden erloschen; ihm bleibt nur noch Herrschsucht und Geiz. Da man aber daran keinen Anstoß nimmt, so tut das der Kirche keinen Abbruch.“

„Aber wie“, fragte ich, „ist diese ganze Kirche mit ihrem Kult und ihren listigen Glaubenssätzen zustande gekommen?“

<121>

„Nicht auf einmal“, erwiderte der Portugiese. „Anfangs war die Religion einfach. Die Bonzen hatten geringe Macht, und die Tugenden strahlten. Doch mit der Zeit haben Lasier und Aberglauben immer mehr zugenommen. Sie haben Bonzenversammlungen, sogenannte Konzile, abgehalten, und jedes Konzil hat einen neuen Glaubensartikel hinzugefügt. Es gibt keinen Widersinn, der den Vätern auf den Konzilen nicht durch den Kopf gegangen wäre. Zu der Zeit, da die Macht des Lama ihren Gipfel erreicht hatte, wäre auf ein Haar eine Jungfrau, die sie die Mutter Gottes nennen, zur Göttin und vierten Person der Dreieinigkeit erhoben worden121-1. Aber da sieht ein Bonze in Deutschland gegen den Lama auf, öffnet den Völkern und Fürsten die Augen über ihre blöde Leichtgläubigkeit und gründet eine starke Partei von Widersachern dieser sogenannten Katholiken. Der Lama und seine Ratgeber, die Krebse, wie Sie sie nennen, begriffen, daß dies nicht der rechte Augenblick war, um den Aberglauben zu mehren. Sie machten aus der Jungfrau, soviel sie konnten, und ließen es bei der kräftigen Verteidigung der alten Glaubenssätze bewenden. Immerhin haben die Bonzen seitdem auf eine große Zahl von Wundern verzichten müssen, die sie vormals vollbrachten, durch die sie sich aber lächerlich machen würden, wenn sie damit wieder anfingen. Sie treiben zwar noch hin und wieder böse Geister aus, aber hauptsächlich, um nicht ganz aus der Übung zu kommen; denn die Wirkung ist nicht mehr die gleiche wie einst. Daher auch der wilde Haß zwischen den Bekennt, nissen, obwohl alle Christen sind. Nie verzeihen die Bonzen den Ketzern ihre Einbuße an fetten Einkünften und Bistümern. Vor allem betrachten sie jene als lästige Aufseher, die sie zwingen, gescheiter zu sein, als sie möchten. Und so haben sie denn auch seit jenem Schisma nicht den kleinsten neuen Aberglauben einzuführen gewagt. Sie sehen sie darob in Verzweiflung, und es fällt ihnen schwer, das Volk in seiner Leichtgläubigkeit zu erhalten.“

Mittlerweile kam ein Bonze und sagte meinem Portugiesen, daß der große Lama ihn riefe. Wir trennten uns. Er begab sich zu dem Oberpriesier, und ich ging in Gedanken noch einmal all die außerordentlichen Dinge durch, um sie Dir zu vermelden.

5. Brief.

Am nächsten Tage kam mein Portugiese frühmorgens wieder zu mir. Wie er mir sagte, hatte der Lama ihn hart angefahren. Der wetterte noch immer gegen seinen Herrn, weil er die tückischen Bonzen aus seinen Staaten vertrieben hatte. „Er möchte,“ sagte er, „daß sich die Könige demütig von jenen tonsurierten Schurken abmeucheln lassen, wie das liebe Federvieh. Ich sprach ganz unverblümt. Jeder andre wäre schamrot geworden ob des schmählichen Schutzes, den er jenen Ver<122>brechern gewährt. Aber diese Leute haben eine Stirn, die nie errötet. Sie halten sich für gotterfüllt und unfehlbar.“ — „Sie müssen wohl gotterfüllt sein,“ entgegnete ich, „sonst wäre solche Torheit und so schmähliches Betragen unentschuldbar. Ach, wie fromm sind unsre Gelehrten, und wie heilig sind ihre Sitten! Nie verlassen sie den Weg der reinen Tugend. Darum sind sie auch von nichts erfüllt als von dieser reinen Tugend, die im unsterblichen, glückseligen Schoße des Tien entsteht.“ — „Verlieren wir die Zeit nicht mit Worten“, sagte mein Portugiese. „Heute findet im großen Tempel eine Zeremonie statt, die Ihre Aufmerksamkeit verdient.“ — „Eine Zeremonie,“ rief ich, „und warum?“ — „Der große Lama“, erwiderte jener, „wird dabei mitwirken. Kommen Sie hin! Wir wollen in den Tempel gehen und zuschauen.“

Wir brachen sogleich auf und fanden eine ungeheure Voltsmasse vor jenem prachtvollen Gebäude versammelt. Nur mit Mühe bahnten wir uns einen Weg durch die Menge. Da mein Portugiese jedoch der Abgesandte eines großen Königs war, so machte man ihm Platz, und ich schlich hinterdrein. So kamen wir bis zu einer Stelle in der Kirche, von der man die Zeremonie aus der Nähe sehen konnte. Ich wich meinem Portugiesen nicht von der Seite, um jemand zu haben, der mir den Vorgang erklären tonnte. Zunächst machte ein großer Haufe von Bonzen wie gewöhnlich Götter. Dann erschien der große Lama, von seinen Krebsen und einer großen Zahl von Bonzen gefolgt, die große, gespaltene Mühen auf dem Kopfe trugen. Der Lama ist ein Greis von über sechzig Jahren, hat aber scheinbar keine Lust, den Heiligen Geist sobald um die Wahl seines Nachfolgers zu bemühen. Er setzte sich majestätisch unter einen prächtigen Thronhimmel, den man für ihn aufgebaut hatte. Dann überreichte ihm einer der Bonzen mit gespaltener Mütze einen Hut und einen Degen.

„Was bedeutet das?“ fragte ich meinen Portugiesen. — „Er soll Hut und Degen weihen“, antwortete jener. —„Und warum das?“ —„Sie sind für einen großen Feldherrn122-1 bestimmt, der einen der ketzerischen Fürsten bekriegt, die dem Lama nicht unterworfen sind.“ — „Aber“, wandte ich ein, „man sagte mir doch, der Lama sei der Vater aller Christen? Auch soll er ja ein Diener des Friedens sein. Wie kann er dann den Rasenden, die sich bekriegen, Waffen in die Hände drücken?“ — „Allerdings kann er das,“ erwiderte der Portugiese, „denn die wahren Feinde jenes ketzerischen Königs haben dem Lama eingeredet, sie wollten die Ketzerei ausrotten und alle verirrten Völker in den Schoß der Kirche zurückführen. Überdies verdankt er den Feinden des Ketzers seine Erhebung auf den Papstthron, und so muß er ihnen wohl seine Dankbarkeit beweisen. Deshalb weiht er den Degen. Überdies hat er eine Art von Kreuzzug gegen den Ketzer gepredigt und zwingt alle Bonzen, die mit dessen Feinde, dem sogenannten Kaiser, zu tun haben, diesem einen Tribut zu zahlen, den man sonst nur für den Türkenkrieg erhebt.“

<123>

Unterdessen sah ich, wie der Lama ganz leise ein paar Worte murmelte und etliche hieroglyphische Zeichen machte, von denen ich nichts verstehen konnte. Dann nahm er einen Weihwedel, tauchte ihn in ein Wasserbecken und besprengte damit Hut und Degen. „Was ist das?“ fragte ich. — „Weihwasser“, entgegnete der Portugiese. „Das ist Wasser, mit etwas Salz und heiligem öle gemischt. Sobald Hut und Degen damit besprengt sind, bekommen sie ihren ganzen Wert und werden dem Feldherrn, der sie erhält, Weisheit, Glück und Sieg verleihen.“ — „Ach!“ rief ich aus, „warum hatten wir nicht solche Hüte und Degen, als die Tartaren unser Land eroberten! Der Feldherr wird also alles unterjochen?“ — „So hofft er“, sagte der andre. — „Aber wozu wird dieser Krieg denn geführt?“ fragte ich weiter. Er entgegnete: „Damit eine Nachbarmacht von Portugal einen Fisch fangen kann, den man in Amerika Stockfisch nennt, wird ein Fürst des Nordens bekriegt123-1“ — „Das ist aber doch unbegreiflich“, wandte ich ein. — „Die Erklärung des Zusammenhangs würde zu weit führen“, entgegnete jener. „Aber wissen Sie nicht, daß man Leute, die Kopfweh haben, an den Füßen zur Ader läßt?“ — „Und was haben Kopf und Füße mit der Politik zu tun? Halten Sie mich nicht zum besten, weil ich ein Chinese bin.“

Während wir so hin und her stritten, hatte der große Lama sich zurückgezogen. Wir ergingen uns noch in dem Tempel, um seine Schönheiten zu betrachten. Er ist zweifellos das schönste Denkmal des menschlichen Kunstfleißes. Während der Portugiese mich alle Einzelheiten bewundern ließ, trat ein Bonze, den er kannte, auf ihn zu und fragte ihn, wer ich sei. Als er erfuhr, daß ich ein Chinese wäre, musterte er mich aufmerksam und sagte mehrfach: „Er sieht fürwahr recht chinesisch aus.“ Da er aber merkte, daß ich etwas Italienisch verstand — ich habe es von den jesuitischen Geometern Deiner Herrlichkeit gelernt —, so sprach er mich an und fragte mich, ob ich getauft sei. Ich erwiderte, ich hätte nicht die Ehre. Dann fragte er weiter, ob ich nicht vielleicht Lust dazu hätte. „Nach allem, was ich gesehen und gehört habe,“ erwiderte ich, „weniger denn je.“ — „Ach, da sind Sie zu beklagen, mein lieber Herr“, erwiderte er. „Schade drum, aber Sie werden verdammt werden. Gottes Gnade hat Sie an die Stätte geführt, wo sie sich auf Sie ergießen könnte. Sie widerstehen ihr; Ihr Irrtum ist gewollt. Sie werden verdammt, mein Herr, verdammt!“ Ich gestattete mir die Frage, ob er glaubte, daß Konfutse das gleiche Schicksal erleiden würde. „Kann man daran zweifeln?“ entgegnete der Bonze. — „Ach!“ rief ich, „lieber will ich mit ihm verdammt sein, als mit Ihnen gerettet werden.“ Und wir trennten uns.

Du siehst, erhabner Kaiser, wie anders alle Dinge in Europa und in Asien sind. Religion, Regierung, Sitten und Politik, alles überrascht mich. Vieles erscheint<124> mir unbegreiflich. Noch kann ich nicht entscheiden, ob meine Einsicht zu beschränkt ist, oder ob sich in die hiesigen Gebräuche wirklich soviel Wunderliches mischt, das aber den Leuten nicht mehr lächerlich vorkommt, weil sie daran gewöhnt sind. Der Hauptunterschied zwischen dem Denken der Europäer und dem unsren besteht darin, daß sie sich oft rückhaltlos ihrer Einbildungskraft überlassen, die sie für Vernunft halten, während die, welche das Glück haben, als Deine Sklaven geboren zu sein, den Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes und der Weisheit unverbrüchlich treu sind.

6. Brief.

Der Bonze, der mich taufen wollte und mich noch gestern verdammte, hat mich aufgesucht. Er hatte sich die Sache überlegt und, wie ich merkte, sich irgend ein neues Mittel ausgedacht, das ihn noch auf meine Bekehrung hoffen ließ. Er schlug mir vor, die Bekanntschaft eines jener Bonzen mit gespaltener Mütze zu machen, der dem großen Lama den Sprengwedel gereicht hatte. Ich ging in sein Haus und wurde mit jenen Förmlichkeiten aufgenommen, die die Italiener punti^Iio nennen und von denen wir Chinesen zum Glück nichts verstehen. Nach mehreren Fragen über mein Land, die mehr Verachtung und Unwissenheit als Höflichkeit und Kenntnisse durchblicken ließen, begann der Magier sich über die Größe seines Volkes zu ergehen und erzählte mir lang und breit, früher wären die Italiener die Eroberer der Welt ge, wesen, aber auch jetzt, obwohl sie Priester geworden seien, verzichteten sie nicht auf die Weltherrschaft. Ich konnte nicht umhin, ihm zu erwidern, es wäre gut, daß er mir sagte, die Italiener seien einst Eroberer gewesen; denn jetzt fiele es einem schwer, das zu vermuten. Darauf hielt er eine lange Rede, mit der er mir untrüglich beweisen wollte, daß die Großtaten der Römer nichts gewesen seien, weU ihnen, wie er sich ausdrückte, die Gnade fehlte. Sie selbst aber seien den Römern weit über, legen; denn sie besäßen die Gnade, die Liebe Gottes, und beherrschten Europa durch eine Art Blitzstrahl, wie sie das Wort nennen, und durch etwas, das sie als Bann bezeichnen und das die Könige niederschmettert, wenn sie sie damit bedrohen. Ich<125> erwiderte ihm, der Vorzug der modernen Römer vor den alten schiene mir zwar sehr schön; wenn aber alles, was er mir von jenem Eroberervolk erzählte, wahr wäre, könnte ich nicht umhin, zu gestehen, daß sie sehr heruntergekommen seien, und daß ich die Lorbeeren der alten Römer ihren modernen Tonsuren vorzöge. „Ha, Gott, loser!“ schrie er, „ich sehe wohl, Sie haben keinen Sinn für die himmlischen Dinge. Sie werden stets nur ein Chinese bleiben, ein Blinder, der bloß in Fleisch und Blut wandelt.“ — „Ein Chinese zu sein,“ entgegnete ich, „das rechne ich mir zur Ehre an. Aber blind — das ist was andres. Ich wette, Sie wären sehr erbost, wenn Ihr Volk so scharfe Äuglein hätte wie ich.“ — „Nur kein Zorn, lieber Phihihu“, er, widerte er. „Sie haben Augen, um die sinnlichen Dinge wahrzunehmen. Aber Ihre Seele, die sich nicht zu erheben vermag, hat keine Augen, um die geistigen Dinge zu sehen.“ — „Ach,“ entgegnete ich, „Sie Bonze, stolz auf den falschen Schein, den Sie in Ihren Schulen gelernt haben, lernen Sie den göttlichen Konfutse verstehen und Sie werden einsehen, daß seine Anhänger alle geistigen Dinge zu erfassen vermögen, die der Einsicht der schwachen Sterblichen erschlossen sind.“ — „Wie!“ rief er, „legen Ihre Brahmanen denn das Keuschheitsgelübde ab, wie wir?“ — „Wenn sie es auch nicht ablegen,“ erwiderte ich, „so leben sie doch ungefähr danach. In dieser prächtigen Stadt aber trifft man an jeder Ecke Bastarde von Kardinalen oder Bischöfen. Wozu nützen solche Keuschheitsgelübde? Aber selbst wenn Sie sie getreulich erfüllen — will der Tien denn Eunuchen zu Dienern haben und hat er uns mit unnützen Gliedern erschaffen?“ Daraufhin pries er mir die Werke eines gewissen Origenes, der die Vollkommenheit, wie er sagte, so weit getrieben hätte, daß er sich freiwillig des Gliedes beraubte, das ihn zur geringsten Unkeuschheit hätte ver, leiten können. „Wie gut täte man, Sie ebenso zu behandeln“, entgegnete ich. „Denn nichts ist frecher, als sich mit Vorzügen zu brüsten, die man so ganz und gar nicht besitzt.“ Das mißfiel ihm sehr. „Nein,“ sagte er, „wir haben Kastraten nur, um das Lob des Tien in unsren Kirchen zu singen, aber wir hüten uns wohl, uns selbst zu verstümmeln; denn ohne Versuchung gibt es kein Verdienst und ohne Kampf keinen Sieg.“ Ich konnte nicht umhin, ihm zu erwidern, daß hunderttausend Bastarde ihn und seinesgleichen nicht so hassenswert machten, wie so viele andre Verbrechen, die der Bonzenhaufe vollbrächte und die sein Lama so frech guthieße. Ob er mich nun weniger bestimmbar fand, als er gemeint hatte, jedenfalls merkte ich, daß seine Miene sich verfinsterte. Indes machte er noch einen letzten Versuch, indem er mich auf das hohe Alter seiner Kirche verwies. Ich entgegnete ihm mit den Worten meines portugiesischen Juden, die jüdische Religion wäre älter als die, deren Alter er rühmte, und ich könnte ihm zudem versichern, daß die Religion unsrer Gelehrten noch weit über die jüdische hinausreichte.

Die Unterhaltung wurde schleppend, und ich zog mich schließlich ganz sacht zurück. Mein Portugiese suchte mich auf und entdeckte mir, man hätte große Lust gehabt, mich zu taufen. Der Prälat, bei dem ich gewesen war, hätte gehofft, sich durch meine<126> Bekehrung einen Namen zu machen, und sei im Grunde seines Herzens tiefbetrübt, daß es ihm nicht gelungen wäre.

O erhabner Kaiser! Siehe, was mir in Deinen Diensten schon alles gedroht hat! Eines Bockes wegen sollte ich in Konsiantinopel gesteinigt, in Rom von der Inquisition verbrannt und, was das Schlimmste ist, hier getauft werden, da ich gerade abreisen will. Ich gedenke Rom in wenigen Tagen zu verlassen und mich nach einem Königreich Frankreich zu wenden, wo schöne Dinge zu sehen sein sollen. Von da will ich durch Spanien, England und Deutschland reisen und alsdann nach Konstantinopel zurückkehren, um Dir alles Merkwürdige zu vermelden, was ich auf einer so langen Fahrt beobachtet habe.

<127>

Schreiben Nicolinis an Franculoni, Prokurator von San Marco127-1

Aus dem Italienischen.

Konstantinopel, den 16. August 1769.

Seit unsrer Ankunft in Konsiantinopel waren wir mehreren recht peinlichen Szenen ausgesetzt. Die asiatischen Truppen, die auf dem Marsche nach der Donau durch die Hauptstadt rücken, meutern häufig, und bei dieser Art von Empörungen sind namentlich die Fremden allerlei Mißhandlungen ausgesetzt127-2. Die Regierung ist ohnmächtig, die zügellose Wildheit dieser barbarischen Horden zu unterdrücken, und oft geht es um Tod und Leben, wenn man ihnen zu seinem Unglück in den Weg kommt.

Dieser Tage schickte mich der Herr Botschafter in Geschäften zum Dragoman der Pforte. Nachdem wir das Geschäftliche erledigt hatten, kam das Gespräch unwillkürlich auf die Mißhandlungen, denen die Fremden in Konsiantinopel ausgesetzt sind. Auf meine Beschwerden antwortete der Dragoman: „Sie würden das weniger befremdlich finden, wenn Sie den Grund für die Erbitterung des Volkes kennten. Das Publikum ist nämlich überzeugt, daß wir mit den Moskowitern nur auf Anstiften eines großen europäischen Königs127-3 Krieg führen. Man flüstert sich ins Ohr, jener König habe beträchtliche Summen im Diwan ausgeteilt, um den Ausbruch dieses unseligen Krieges zu beschleunigen. Das Volk hält nun alle Fremden für Angehörige der Nation, der es an all seinem Unglück schuld gibt, und will sich an ihnen für das Waffenglück der Moskowiter rächen. Auch läuft ein dumpfes Gerücht um, selbst der<128> Papst mische sich in unsre Angelegenheiten, schüre das Feuer und habe an den Mufti der Hohen Pforte geschrieben, er solle uns zu unsrem Kriegszug ermuntern.“

„Unmöglich!“ rief ich aus. „Wäre es wohl im geringsten wahrscheinlich, daß der Heilige Stuhl sich mit dem Oberhaupt der mohammedanischen Sekte einlassen sollte? Wie Sie wissen, haben die Päpste den Türken jederzeit die Ehre angetan, sie von Herzensgrund zu hassen. Ein so eingewurzelter Haß erlischt nicht so rasch. Und dann wissen Sie doch, wie empfindlich der römische Hof in dem sogenannten puntiglio128-1 ist, und wie peinlich er auf das Zeremoniell hält, das er im Verkehr mit andren Mächten beobachtet. Wie könnte also ein Papst sich über den alten Brauch hinwegsetzen und die unermeßliche Kluft überspringen, die zwischen der abgründigen, zur Schau getragenen Verachtung der Päpste gegen die Muselmanen und einem freundschaftlichen Verkehr zwischen zwei so wenig übereinstimmenden Personen gähnt?“

„Die Herrscher“, erwiderte jener, „wissen den Mantel nach jedem Winde zu drehen. Sobald ihr Vorteil im Spiel ist, beugen sie die Formeln nach ihrem Willen; und nach den mancherlei Vorfällen der siebzehn Jahrhunderte, von denen wir genaue geschichtliche Kenntnis haben, darf ein gescheiter Mann nichts für unmöglich halten. Zur Abkürzung des Streites will ich Ihnen jedoch gestehen, daß ich das fragliche Schreiben des Papstes in Händen habe und es Ihnen sogar zeigen kann.“

Ich bat ihn um diese Gefälligkeit. Nun las er es mir vor und gestattete mir sogar, eine Abschrift zu nehmen. Bei dieser Lektüre fiel ich auf den Rücken und brauchte geraume Zeit, um mich von meiner Bestürzung zu erholen.

Anbei sende ich Ihnen den seltsamen Brief128-2, der Ihre ganze Neugier zu erregen verdient. Jetzt zweifle ich an nichts mehr! Wenn nur der Heilige Vater sich nicht eines Tages beschneiden läßt und den Gläubigen ein gleiches befiehlt! Nach den sieben Sakramenten, die wir schon haben, wäre dies das achte. Freilich war Christus beschnitten, aber es wäre doch arg, wenn man es zu unsrer Zeit würde! Doch Scherz beiseite! Ich überlasse den Brief des Papstes Ihrem eignen einsichtsvollen Nach, denken und bitte Sie nur, mein Vertrauen aufIhre Diskretion nicht zu mißbrauchen.

In aufrichtigster Freundschaft verbleibe ich Ihr untertänigster und gehorsamster Diener N i c o l i n i.

<129>

Breve des Papstes Klemens XIV. an den Mufti Osman Molla

Aus dem Lateinischen.

Klemens XIV., Papst, entbietet Unserem lieben Vetter in Abraham, Osman Molla, Mufti der Hohen Pforte, seinen Gruß



Unser lieber Vetter in Abraham!

Wir Euch nicht unsren lieben Sohn in Christo nennen können, wiewohl Ihr beschnitten und ungetauft seid, wiewohl Ihr Mohammed dem heiligen Petrus vorzieht, danken Wir Euch und dem ganzen erhabenen Kollegium der Imams doch nicht minder für den Beistand, den Ihr Uns durch Euer Fetwa wider die Gottlosen geleistet, die sich zu Feinden der römisch-katholischen apostolischen Religion auf, geworfen haben. Gottes Wege sind nicht die Wege der Menschen. Es hat Gott gefallen, durch den Arm der Muselmanen den Glauben der Apostel zu unterstützen. Darum segnen Wir mit Unsrem wirksamen Segen die Fahne des Propheten, die, vor Euren unüberwindlichen Ianitscharen wehend, Unsre geliebten Söhne, die Bischöfe von Polen, befreien wird von jenem Auswurf der Hölle, jenen verstockten Ketzern, jenen abscheulichen Dissidenten, die man vom Erdboden ausrotten sollte mitsamt ihren Beschützern, den schismatischen Russen129-1, die so unverschämt sind, den Heiligen Geist nicht so ausgehen zu lassen, wie es die Kirche zu bestimmen für gut fand129-2. Mit frommem und heiligem Haß hassen wir alle, die nicht so denken wie wir. Unzweifelhaft war Euer großer Prophet der gleichen Gesinnung; und hätte er unsre Feinde gekannt, er hätte sie von seinem schmalen Steg129-3 herab derb in den Abgrund gestürzt.

Ach, lieber Vetter! Wenn wir uns gut auf unsren Vorteil verstehen, so müssen wir, als Leute vom Handwerk, uns gegenwärtig enger denn je verbinden, um uns<130> durch gemeinschaftliche Bemühungen aufrechtzuerhalten und unser Ansehen gegenseitig zu befestigen. Unsren Händen ist das Schwert anvertraut. Gottes Sache ist unsre Sache, oder wenn Ihr wollt, ist unsre Sache die seinige, und es ist doch schön, einen allmächtigen Gott zu rächen! Ich, sein Statthalter, und Ihr, ich weiß nicht was, wir beide stellen ihn in den Ländern dar, wo Gewohnheit, Lehre und Ansehen uns die Herrschaft geben. So wollen Wir denn gut muselmanisch und Ihr gut katholisch zu sein trachten, um unsre Kräfte gegen Die zu vereinigen, die uns mißfallen oder die des lange getragenen Joches müde sind und es abwerfen wollen. Blinder Gehorsam artet in den Geist des Aufruhrs aus. Die gottlose Vernunft wagt sich dreist an die Prüfung dessen, was sie in Einfalt anbeten sollte, und um das Unglück voll zu machen, unterstehen sich die Menschen, selbst zu denken, statt wie in der guten alten Zeit ihre Gedanken nach Unsren heiligen Befehlen zu richten. Ihr, edler Mufti, habt Omars großes Schisma130-1 und die neuen Sekten zu bekämpfen, die gleich der Hydra ihre immer neu erstehenden Köpfe wider den Koran Eures großen Propheten erheben. Wir haben aufrührerische Söhne, die Uns verfolgen, die Uns taub gemacht haben, damit Wir sie nicht hören, und stumm, damit Wir ihnen nicht antworten müssen. Wenn wir uns zusammentun, so werdet Ihr Unsre Exkommunikationen mit Euren tapfern Ianitscharen unterstützen, Wir aber werden von Unsrem Heiligen Stuhl das Anathema gegen Eure Omaristen herabdonnern. Möge der barmherzige Gott alle, die nicht so denken wie wir, zum Heil ihrer Seelen ausrotten, die Schismatiker, die Ketzer, die Omarisien und nicht zu vergessen die Philosophen, eine Sekte, die noch verkehrter, ungläubiger und vernünftelnder ist als alle andern. Wir können nicht umhin, Euren großen Propheten zu preisen, daß er so weise war, bei Euch Mohammedanern für heilige und fromme Unwissenheit in allen Dingen zu sorgen. Einer Unsrer Vorgänger, Leo X., war weniger weise und bei weitem unbesonnener. Er beschützte die abscheulichen Wissenschaften, die die Menschen aufklären und ihnen den Geist des Schwindels und der Unabhängigkeit einsflößen, dessen verderbliche Fortschritte den Altar untergraben, indem sie Unsren Thron erschüttern. Ach! Warum sind die Christen im Punkte der Unwissenheit keine Muselmanen!

Ihr sehet, Unser Vetter in Abraham, wir kommen Euch näher; wir wünschen so unwissend zu sein wie Ihr. Warum sollte die Hohe Pforte nicht an die dreißig KonzUe annehmen? Sie würden im Verein mit dem Koran und der gottseligen Unwissenheit, in der Ihr verharrt, alle Muselmanen der unendlichen Herrlichkeit der HeUigen würdig machen, die mit Abraham, Isaak und Jakob in ungetrübter Seligkeit leben. Jeden Tag werfe ich mich nieder vor dem Gott Abrahams, der auch der Eure ist, und stehe ihn mit Tränen und Zerknirschung an, Euren Geist und Euer<131> Herz unsrem Glauben zuzuwenden und Euch aufzunehmen in seine HeUige Herde. Aber die Wege seiner Vorsehung sind unsren Augen verborgen. Eure Stunde ist noch nicht gekommen. Bis daß sie erscheint, ftehe ich zu Gott, seinem Sohn und der ganzen Schar der Heiligen, daß sie die unüberwindlichen Heere der Hohen Pforte stärken, segnen und beschirmen. Schon öffnen sich meine Augen. Ja, ich sehe, ich sehe Eure unbezwinglichen Ianitscharen über die Schismatiker, die Ketzer und die Legionen der Hyperboräer triumphieren. Reinigt denn das sarmatische Zion von den Moabitern und Amalekitern, die es entweihen! Setzet unsre heiligen Bischöfe wieder auf ihre verlassenen Stühle131-1 und rächet im Namen Mohammeds den heiligen Petrus, seine Schlüssel, seine Kirche!

O Mufti, bester Mufti, den das osmamsche Reich je gehabt hat! Wir danken Euch nochmals für Euer heiliges Fetwa, das Euren jetzigen Krieg sanktioniert und den großen Bann auf alle Eure Feinde schleudert, die auch die Feinde der Kirche sind. Verlaßt Euch auf Unsre Unfehlbarkeit, wenn wir Euch glücklichen Erfolg weissagen, und vertraut mit fester Hoffnung darauf, daß der Himmel die Wahrheit Unsrer Verheißungen durch furchtbare Niederlagen Eurer Feinde bestätigen wird. Wir schließen Euch, Unser lieber Vetter in Abraham, in Unser väterliches Herz und geben Euch den apostolischen Segen.

Rom, den 4. August, im ersten Jahre Unsres Pontifikats131-2.

<132>

Hirtenbrief Sr. Hochwurden des Bischofs von Aix, worin die gottlosen Werke des p. p. Marquis d'Argens verdammt werden und auf seine Verbannung aus dem Königreiche erkannt wird (1766)132-1

Johann Baptist Antonius de Brancas, durch Gottes Barmherzigkeit und die Gnade des Heiligen Stuhles Bischof von Aix, entbietet Heil und Segen allen Gläubigen unsrer Diözese.

Christus, liebe Brüder, hat gesagt: „Es werden sich unter Euch erheben falsche Christi und Propheten; denen sollt Ihr nicht glauben.“132-2 Der große Apostel der Heiden sagt an andrer Stelle: „In den letzten Zeiten wird Gott kräftige Irrtümer senden, die die Gemeinde verführen.“132-3 Dünkt es Euch nicht, liebe Brüder, daß wir in dem Jahrhundert leben, das die Heilige Schrift so deutlich bezeichnet? Geht diese unselige Weissagung in unsren Tagen nicht offenbar in Erfüllung? Ich brauche Euch nicht erst zu erklären, welchen Sinn erleuchtete Schriftsteller den Worten falsche Propheten, falsche Christi, kräftige Irrtümer zuschreiben. Es sind jene reißen, den Wölfe, die mit blutdürstigen Zähnen in den Schafstall des Herrn einbrechen wollen. Es sind jene verderbten Seelen, jene Geister der Finsternis, die ihren traurigen Trost darin finden, sich Genossen bei den unaussprechlichen Qualen zu werben, die sie selbst leiden. Sie zeigen sich unter verschiedenen Namen und Bezeichnungen: strenge Mathematiker, die mit ihrem Zirkel die Welt ausgemessen haben wollen und unsre heiligen Lehren ihren eitlen Formeln und Wahrscheinlichkeitsrechnungen unterwerfen möchten, dreiste Enzyklopädisten, die alle Tiefe des Geistes verloren haben,<133> weil sie seine Oberfläche zu weit ausdehnten, philosophische Schwärmer, die die Kirche frech beschimpfen, um den Beifall der Ungläubigen und Gottlosen zu ernten. Das, meine Freunde, sind die gefährlichen Feinde, die uns bedrohen!

In früheren Zeiten widerstanden fromme Monarchen den Werkzeugen, mit denen der Böse die Menschen verdirbt, und bestraften sie sireng. In den Städten waren heilige Blutgerüste errichtet, auf denen die Feinde Gottes den gerechten Lohn ihrer Auflehnung empfingen. Seit aber ein unseliger und verdammenswerter Geist der Toleranz oder besser der Lauheit im Rate der Fürsten herrscht, ersieht die Ketzerei aus ihrer Asche auf. Irrtümer werden verbreitet, Gottesleugner kommen zu Ansehen, und der wahre Gottesdienst geht zugrunde und verschwindet. Da der Unglaube durch nichts mehr gezügelt wird, so erhebt er, von Hochmut geschwollen, die freche Stirn und untergräbt schon ganz offen die Grundmauern unsrer Tempel und Altäre. Es scheint, als machten die verbündeten Mächte der Hölle ihre letzte Anstrengung, um den Thron des fieckenlosen Lammes zu stürzen und zu zerstören.

Und welcher Waffen bedient sich der Feind des Menschengeschlechts im Kampf gegen uns? Der Vernunft. Ja, der Vernunft, liebe Brüder. Sie setzen die menschliche Vernunft der göttlichen Offenbarung entgegen, die Weisheit der Philosophie der Torheit des Kreuzes, Lehrsätze des Verstandes den Offenbarungen, physikalische Entdeckungen den erhabenen Wundern, ihre abgefeimte Bosheit der evangelischen Einfalt und ihre Eigenliebe der priesterlichen Demut. Ein Schwindelgeist hat sie ergriffen, also daß G otteslästerungen in ihrem Munde zu Scherzen werden, daß die göttlichen Mysterien, auf jede Weise angegriffen, als widersinnig erwiesen und lächerlich gemacht werden.

Aber der Ewige hält in seiner Hand noch den Blitz, mit dem er die aufrührerischen Engel in den Abgrund der Qualen stürzte. Er ist bereit> die gleichen Pfeile mit rächender Hand gegen jene zu schleudern. Was sage ich, liebe Brüder? Er hat sie schon gegen uns geschleudert. Betrachtet die Fülle der Plagen, die er auf unsre Häupter herabsendet. Erinnert Euch der Verwüstungen jenes wilden Tieres, dessen gierige Kehle unaufhörlich Menschenblut schlürfte und dessen Raserei nur die Entvölkerung unsrer Provinz zu stillen vermöchte. Ja, das Ungeheuer hatte nicht genug daran, seine Wut an den Landbewohnern auszulassen; es trieb auch unsre Verteidiger in die Flucht, jene Helden, jene Dragoner, deren Ruhm bis ins Herz von Deutschland und in die fernen Länder gedrungen ist, in die wir unsre Waffen getragen haben. Ach, liebe Brüder, ist das Zeichen Gottes Euch noch zweifelhaft? Zeigt es Euch nicht, daß Ihr den Feind Eures HeUs in Eure Häuser und an Euren Herd aufgenommen habt?

Aber Gott läßt es nicht bei diesen handgreiflichen Warnungen bewenden. Er stört den Lauf der Natur, kehrt die Ordnung der Jahreszeiten um, schickt uns hyperboräische Winde, die unsre Felder ausdörren und unsre Flüsse gefrieren lassen. Die Rhone vereist. Die Kälte erstarrt und verstümmelt die Glieder der unglücklichen Wanderer, und die verdünnte Luft, in der man nicht mehr atmen kann, läßt sie ersticken. Angesichts dieser schrecklichen Schauspiele wird unser Innerstes von Mitleid<134> gegen unsre Brüder ergriffen, und gerechte Furcht läßt uns für uns selbst das gleiche unselige Schicksal befürchten. Aber das ist noch nicht alles! Die bisher blühenden Hügel, deren dankbaren Boden fleißige Hände bestellten, die Weinberge und Ölbäume, der Quell und die Ursache unsres Wohlstands, sind von der rauhen Witterung zerstört und fortan unfruchtbar, wie der Feigenbaum im Evangelium, der verflucht ward, keine Früchte zu tragen.

Das sind die starken Zeichen, die der Ewige sendet, um den Völkern seinen göttlichen Willen kundzutun. Ein wildes Tier, das die Menschen verschlingt, das ist der Feind Eures Heils, der Eure Seelen in ewiges Verderben zu stürzen sucht. Strenger Frost, der die Glieder erstarren läßt und Elende ins Grab wirft, das sind die Werke der Ungläubigen, durch die der Glaube der Frommen erkaltet, erstarrt und erlischt. Die verdorrten Ölbäume, das sind die Unglücklichen, die vom Irrtum verderbt, keine Früchte der Gerechtigkeit und Helligkeit mehr tragen werden.

Daß doch der Schleier, der Eure Augen bedeckt, abfiele und zerrisse! Hephata, daß der Blinde wieder sehe134-1! Wisset, liebe Brüder, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zürnt Euch, wie er einst seinem Volke gezürnt hat, da die Stadt seines Tempels entweiht ward und verruchte Greuel an der heiligen Stätte herrschten. Ja, solche Greuel sind auch mitten unter uns. Der Gifthauch eines Ungeheuers verpestet unsre reine Luft; er erregt den Zorn Gottes und lenkt ihn auf uns. Wie der gottlose Ahab alle Geißeln, die ihn trafen, auf sein Geschlecht brachte, so bringt dieser Höllenbrand alle Plagen auf uns. Ein Mensch ist gekommen, mit unendlicher Geschmeidigkeit des Geistes und tiefer Boshaftigkeit, die durch die Philosophie noch listiger ward. Durch hartnäckigen Unglauben und mit Hilfe eines verführerischen Geistes hat er sich zum Feinde der Sache Gottes aufgeworfen. Wie ein neuer Proteus verwandelt er sich und nimmt immerfort neue Gestalt an. Bald als Jude, bald als Chinese, bald wie ein Eingeweihter der Kabbala, speit er seine schrecklichen Gotteslästerungen aus. Dann läßt er unter der Maske eines Kommentators den Okellos und Timäus von Lokri anstößige Dinge sagen und schreiben, an die sie niemals gedacht haben134-2. Eben dieser Mensch ist jetzt von den nordischen Ländern ausgespieen, aus dem tiefsten Preußen, wo Unglaube und Afterphilosophie ihren Sitz aufgeschlagen haben. Er ist mitten unter uns und spannt gleich dem Feinde des Menschengeschlechts allerorten seine Netze, auf daß seine Beute in die Schlingen falle, die er ihr gestellt hat.

Gott sprach zu seinem Volke: „Brechet jeden Bund mit den Gottlosen, oder ich breche meinen Bund mit Euch und Euren Kindern. Rottet die Tempelschänder und<135> Abgöttischen aus“ (d. h. die Philosophen). Die gleichen Worte richte ich an Euch, liebe Brüder. Duldet den Feind des Heiles nicht unter Euch! Laßt ferne Länder sein zwischen Euch und dem, der Euren Glauben untergraben will! Mauern sollen Euch trennen von dem Gefährten Belials, von dem Bruder des Geistes der Finsternis, dem Sohne Luzifers, der in den Abgründen der Qualen brüllt, und von den Leiden, die er den Kindern der Kirche zufügen kann. Oder besser: waffnet Eure Arme wie jene tapfren Leviten, die heiligen Mörder, die ihre Brüder in der Wüste erschlugen! Reinigt die Schlösser d'Argens und Eguilles vom Anblick des Unreinen, der sie besudelt! Rottet aus der Zahl der Lebenden jenen Geist aus, der sich gegen die Kirche empört. Ihr sollt für die Kirche kämpfen! Streiter des lebendigen Gottes, Ihr sollt seine Sache schützen! Dann wird dies glückliche Land wieder schöne Tage sehen, die Ungeheuer werden verschwinden, die Jahreszeiten ihren rechten Gang gehen, und dies geliebte Volk, mit dem Schilde des Glaubens bewehrt, wird geschützt sein vor den vergifteten Pfeilen, die der Unglaube zu seinem Verderben abschießt. Das Opfer eines Strafwürdigen wird den Zorn des Himmels besänftigen. Nach diesem heiligen und heilbringenden Gericht werden wir mit dem Ewigen wieder versöhnt sein und ihm Loblieder singen in der Einfalt unsres Herzens und dem frommen Unverstand unsres Geistes. Dann können wir in vollkommener Blindheit seine unfaßlichen Geheimnisse im Geist und im Glauben anbeten. Die wilden Tiere werden vor unsrem Eifer zurückweichen; die Hyänen werden vom Weihwasser verscheucht werden. Unser lebendiger und brünstiger Glaube wird den Winter mildern, Berge versetzen und unsre Ölbäume wieder ausschlagen lassen. Schon räumen die kalten Nordwinde dem sanften Zephyr das Feld. Die Bäume grünen, und ihr stolzer Wipfel bedeckt sich mit Früchten. Die Verheißungen, die der Ewige seinen Kindern gibt, gehen schon in Erfüllung. Er wird Euch mit seinen Gaben überschütten. Eure Keller werden voller Öl und Eure Kelter voll Wein sein. Ihr werdet das Fleisch Eurer Feinde essen, und Eure zahlreichen Kinder werden Euren Tisch umgeben wie die zarten Weinreben, die in unsren fruchtbaren Gefilden sich zu Lauben zusammenschließen.

Zuletzt, liebe Brüder, beschwöre ich Euch bei der tiefsten Barmherzigkeit Gottes, mit Eifer und frommer Tatkraft zur Verfolgung des Gottlosen zu schreiten, dessen Ausrottung das Ende unsrer Plagen und den Segen des Himmels herbeiführen wird. Die Kirche ist ein unerschütterlicher Fels, an dem sich die Wogen des Irrtums ohnmächtig brechen. Klammert Euch, liebe Brüder, an diesen Fels, diese sichre Freistatt, und Euer siegreicher Glaube wird die verwegene Philosophie und die hoffärtige Vernunft zu seinen Füßen hingestreckt sehen.

Ihr seid unsre Herde und wir Euer Hirt. Als solcher haben wir die Pflicht, Euch zu warnen und Euch die Werke der Ungerechtigkeit anzuzeigen, die sich verbreiten, die schwarzen Dünste, die aus dem Pfuhl des Abgrunds aufsteigen und Verderben und ewigen Tod hauchen. Darum verbieten wir jedermann in unsrer Diözese bei<136> gesetzlicher Strafe das Lesen und Besitzen folgender Bücher: „Jüdische, chinesische, kabbalistische Briefe“, „Philosophie des gesunden Menschenverstandes“, „Kommentar zu Okellos und Timäus von Lokri“, „Leben des Kaisers Julian“, welche Bücher durch Männer von erprobter Frömmigkeit geprüft und allenthalben voll falscher und ketzerischer Behauptungen befunden worden sind, die fromme Ohren beleidigen und anstößig und gotteslästerlich sind. Den Verfasser tun wir in den Bann zur Rotte Korahs, Dathans und Abirams136-1 und wollen, daß dieser Hirtenbrief in den Kirchen der Städte und Vorstädte unsrer Diözese bei der Predigt in den Parochialmessen verlesen wird.

Gegeben zu Aix in Unsrem bischöflichen Paläste, am 15. März 1766.

Antonius de Brancas,
Bischof von Provence.

<137>

Apostolischer und theologischer Kommentar zu den heiligen Prophezeiungen des heiligen Verfassers von „Blaubart“ (1779)137-1

Vorrede des Bischofs von Puy137-2

Welt soll erfahren, daß unter den Papieren des hochseligen Dom Calmet137-3 kürzlich ein theologischer Kommentar zu „Blaubart“, einem ebenso nützlichen wie erbaulichen Werke, entdeckt worden ist. Man hatte seinerzeit gezögert, ihn mit den übrigen Werken des gelehrten Benediktiners zu veröffentlichen, da Dr. Tamponnet137-4 und andre Mitglieder der Sorbonne mit anstößiger Halsstarrigkeit darauf beharrten, daß „Blaubart“ kein kanonisches Wert sei. Aber der Erzbischof von Paris, dessen umfassende Gelehrsamkeit bekannt ist, Kardinal Rohan, der für einen der ersten Theologen des Königreichs gilt, der Bischof von Belan137-5, der sich durch seinen Eifer hervortut, die Bischöfe von Montpellier und von Tours, kurz alle Häupter unsres Klerus haben bewiesen, daß „Blaubart“ nicht zu den Apokryphen gehört. Daraus entstand ein<138> Streit von hervorragender Gelehrsamkeit. Die Verteidiger von „Blaubart“ stützten sich auf Erasmus, der das Werk in seinem unvergleichlichen „Lob der Narrheit“ erwähnt, auf den heiligen Athanasius, der Stücke daraus in seinem Streit mit den Arianern zitiert, auf den heiligen Basilius, der es streng rechtgläubig findet, auf den heiligen Gregor von Nazianz, der sich in einer an Kaiser Julian gerichteten Verteidigung des Christentums auf die in „Blaubart“ enthaltenen Prophezeiungen stützt, auf den heiligen Johannes Chrysostomos, der aus diesem frommen Buche die schönsten rhetorischen Figuren entnahm, mit denen er seine wundervollen Homilien schmückte. Der fromme Bischof Las Casas138-1 las zu seiner Erbauung täglich einen Abschnitt daraus. „Blaubart“ war das Brevier Papst Alexanders VI. Auch der Kardinal von Lothringen138-2 hielt das Buch für kanonisch. Zählt man die Stimmen, so ergibt sich also, daß die Zahl derer, die „Blaubart“ für ein prophetisches und von Gott inspiriertes Buch erklären, weit größer ist als die Zahl derer, die es anzweifeln.

Von seinem Ursprung ist so viel bekannt: „Blaubart“ erschien in Alexandria mit der Septuaginta-Übersetzung des Pentateuchs und der übrigen Bücher des Alten Bundes138-3. Während der Babylonischen Gefangenschaft hatten die Israelis ten das Alte Testament verloren, aber die Samariter hatten es bewahrt, mit ihm auch den „Blaubart“. Als das jüdische Volk aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückgekehrt war, sammelten Esra und Nehemia mit größtem Fleiß alles, was sie von den verlorenen kostbaren Schriften aufbringen konnten. Einige Bücher fanden sie wieder, andre stellten sie nach der mündlichen Überlieferung her. Bei ihrer ungeheuren Arbeit und dem Bestreben, ihr Werk rasch zu vollenden, versäumten sie, „Blaubart“ der von ihnen nach besten Kräften wiederhergestellten Sammlung der Heiligen Schriften einzuverleiben. Diese Nachlässigkeit Esras trägt die Hauptschuld an den Zweifeln, die einige Doktoren über die Echtheit des Werkes geäußert haben.

Indes braucht man nur nachzulesen, was der heilige Franz von Assisi darüber schreibt, um auch den letzten Zweifel über „Blaubart“ zu verscheuchen. Der heilige Franz sagt nach strenger Prüfung des Werkes: „Es trägt alle Kennzeichen göttlicher Eingebung. Es ist ein Gleichnis oder vielmehr eine Prophezeiung unsres ganzen Heilswerkes. Ich erkenne den Stil der Propheten wieder, die Anmut des 'Hohenlieds', das Wunderbare des Propheten Jesaias, die männliche Energie Hefekiels, dazu das ganze Pathos des Ieremias. Da sich ferner im hebräischen Original an syrischen Ausdrücken und Wendungen nichts findet, so hat der von Gott inspirierte Verfasser von 'Blaubart' unstreitig<139> lange vor der Babylonischen Gefangenschaft gelebt.“ Der heilige Franz hält ihn sogar für einen Zeitgenossen des Propheten Samuel, was wir aber nicht positiv zu behaupten wagen.

Der Name des Verfassers dieses heiligen Buches ist nicht auf uns gekommen, ein Zeichen seiner großen Bescheidenheit, worin die Schriftsteller dieses Jahrhunderts ihm wenig gleichen. Aber wir kennen doch ebensowenig die Verfasser der Bücher Ruth, Hiob und der Makkabäer. Vielleicht ist unser heUiger Prophet darin Moses vergleichbar, der, wie kein Sterblicher auf der Welt, uns die Geschichte seines Todes und seiner Beerdigung hinterlassen konnte.

Begnügen wir uns indes mit dem, was unser berühmter Kommentator Dom Calmet von „Blaubart“ sagt. Er sieht darin eine heilsame Lehre zur Erbauung frommer Seelen und offenbar in Erfüllung gegangene Prophezeiungen, die, wie er hinzufügt, vor allem für die Bestätigung der Wahrheit unsrer heiligen apostolischen römisch-katholischen Religion sehr ins Gewicht fallen. Wäre dieser kostbare Kommentar noch länger unbekannt geblieben, so wäre das ein unersetzlicher Verlust für die streitende Kirche gewesen.

Wir sehen uns aus mehr als einem Grunde zu seiner Veröffentlichung gezwungen. Ach! Wir sind nahe dem Ende der Zeiten. Der große Tag rückt heran, der allen menschlichen Eitelkeiten ein Ziel setzen wird. Alles, was uns geweissagt ist, geht in Erfüllung. Die Natur verliert ihre Fruchtbarkeit, das Menschengeschlecht entartet zusehends. Schon gewinnt die verderbte Vernunft die Oberhand über die christliche Einfalt. Der glühende Glaubenseifer hat sich in sträfliche Gleichgültigkeit gewandelt. Neue Irrlehren siegen über die alten Wahrheiten. Der Glaube gilt als Folge von Aberwitz, der Unglaube als Zeichen von Verstand. Unsre Feinde greifen uns nicht mehr im Verborgenen an. Statt wie einst die Grundfesten unsres heiligen Glaubens zu untergraben, stürmen sie jetzt offen dagegen an. Scharenweise rotten sich unsre Feinde unter den verschiedenen Bannern der Ketzerei zusammen und umringen uns von allen Seiten. An ihrer Spitze ficht Luzifer, um unsren Gottesdienst und unsre Altäre zu vernichten. Die Kirche ist in ihren heiligen Grundfesten erschüttert und droht einzustürzen. Bald wird sie in Trümmern liegen. Sie, unsre heilige Mutter, girrt wie eine Taube und schreit wie ein Hirsch, dem der unbarmherzige Jäger den Todesstoß versetzen will. In ihrer großen Trübsal ruft sie ihre Kinder zu Hilfe. Sie ist Rahel, die um ihre Kinder weint und untröstlich ist. Eilen wir, ihr beizustehen! Stützen wir ihren altehrwürdigen Bau mit dem heiligen Kommentar Dom Calmets über „Blaubart“! Halten wir diesen heuigen Benediktiner wie einen Schild vor und wehren wir mit ihm die vergifteten Pfeile ab, die die gottlose Philosophie gehen uns schleudert, auf daß die Pforten der Hölle nicht recht behalten über die Kirche, die auf dem Eckstein unsres Seelenheils gegründet ist.

<140>

Mögen beim Lesen dieses heiligen Kommentars sich die Herzen Derer erweichen, die in ihren Lastern und in ihrem Unglauben verhärtet sind! Und mögen alle, die den Geschmack an geistlichen Ergötzungen verloren haben, die in der Verderbnis der Welt untergegangen sind, durch Dom Calmet und „Blaubart“ im Glauben bestärkt werden und die Überzeugung erlangen, daß, wer sein Herz an die Güter dieser Welt hängt und nur nach Befriedigung seiner Lüste trachtet, Gefahr läuft, um dieser vergänglichen Güter willen sich die ewige Seligkeit für immerdar zu verscherzen!

<141>

Blaubart

Ein Märchen141-1

Es war einmal ein Mann, der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande, Gold- und Silbergeschirr, gestickte Möbel und ganz vergoldete Karossen; aber leider hatte der Mann einen blauen Bart. Der machte ihn so häßlich und furchtbar, daß alle Frauen und Mädchen ihn flohen. Eine Nachbarin, eine vornehme Dame, hatte zwei bildschöne Töchter. Er begehrte die eine zur Ehe und ließ ihr die Wahl, welche von beiden sie ihm geben wollte. Aber sie mochten ihn beide nicht, und jede wies ihn an die andere; denn sie gewannen es nicht über sich, einen blaubärtigen Mann zu freien. Auch schreckte es sie ab, daß er schon mehrere Frauen gehabt hatte, und niemand wußte, was aus ihnen geworden war. Um Bekanntschaft anzuknüpfen, lud Blaubart sie mit ihrer Mutter und drei oder vier ihrer besten Freundinnen nebst ein paar jungen Leuten der Nachbarschaft in eins seiner Landhäuser, allwo man acht Tage verweilte. Da gab es nichts als Lustwandeln, Jagd und Fischfang, Tanz, Feste und Gastmähler. Statt zu schlafen, verbrachte man die Nächte mit Kurzweil und Schabernack. Kurz, alles verlief so gut, daß die jüngste Tochter anfing zu finden, der Hausherr habe keinen blauen Bart mehr, und ihn für einen höchst ehrbaren Mann hielt. Nach der Rückkehr in die Stadt ward die Ehe alsbald geschlossen.

Einen Monat danach sagte Blaubart zu seiner Frau, er müsse wegen wichtiger Geschäfte eine Reise in die Provinz machen, die wenigstens sechs Wochen dauern werde. Er bäte sie, sich während seiner Ab, Wesenheit gut zu unterhalten, ihre Freundinnen einzuladen, mit ihnen aufs Land zu gehen, wenn sie wollte, und überall gut zu leben. „Hier“, sprach er, „sind die Schlüssel zu den beiden großen Gerätkammern, hier der Schlüssel zu meinem goldenen und silbernen Geschirr, das ich nicht alle Tage brauche, hier der zu meiner eisernen Truhe, in der ich mein Gold und Silber bewahre, der Schlüssel der Kästen, :n denen meine Edelsteine sind, und hier der Dietrich, der alle Gemächer öffnet. Dieser kleine Schlüssel hier ist für die Kammer am Ende des großen Flures im Erdgeschoß. Öffne alles, geh überall hin; nur dies Gemach verbiete ich dir zu betreten. Sollte es dir beikommen, es zu öffnen, so hast du von meinem Zorn alles zu gewärtigen.“ Sie versprach, ihm in allen Stücken zu willfahren, und nachdem er ihr den Abschiedskuß gegeben hatte, bestieg er seinen Wagen und fuhr auf Reisen.

Die Nachbarinnen und guten Freundinnen warteten nicht, bis sie eingeladen wurden, zu der Jungvermählten zu kommen. Sie brannten vor Neugier, all die Reichtümer ihres Hauses zu sehen, hatten sich aber während der Anwesenheit des Gatten nicht hingewagt, dieweil sie sich vor seinem blauen Bart fürchteten. Nun aber liefen sie sogleich durch alle Säle, Gemächer und Kleiderkammern, davon eine immer schöner und reicher war als die andere. Dann stiegen sie zu den Gerätkammern hinauf, und es war ihres Staunens lein Ende ob der Zahl und Schönheit der Wandteppiche, Betten, Ruhelager, Waschgeräte, Kandelaber, Tische und Spiegel, darin man sich vom Kopf bis zu Füßen erblickte, und deren Rahmen teils aus Glas, teils aus Silber oder vergoldet und so schön und prächtig waren, wie sie es noch nie erschaut hatten. Immerfort priesen sie das Glück ihrer Freundin über die Maßen und beneideten sie.

Die junge Gattin aber fand keinen Gefallen an all jenen Herrlichkeiten; denn sie verging vor Ungeduld, die Kammer im Erdgeschoß zu öffnen. Ihre Neugier war so heftig, daß sie ungeachtet der Unschicklichkeit, ihre Gäste allein zu lassen, eine kleine Geheimtreppe hinablief, so hastig, daß sie sich zweioder dreimal schier den Hals gebrochen hätte. An der Tür der Kammer blieb sie ein Weilchen stehen, gedachte des Verbots ihres Gatten und erwog, daß ihr ein Unglück geschehen könnte, wenn sie<142> seinem Willen nicht gehorchte. Aber die Versuchung war so stark, daß sie ihr erlag. Sie nahm also den kleinen Schlüssel und öffnete zitternd die Tür des Gemaches. Erst sah sie gar nichts; denn die Fenster waren verschlossen. Doch alsbald erkannte sie, daß der Estrich ganz mit geronnenem Blute bedeckt war. Darin spiegelten sich die Leichen mehrerer Frauen, die an den Wänden hingen. Das waren alle die Frauen, die Blaubart gefreit und nacheinander ermordet hatte. Sie wäre vor Schreck fast gestorben, und der Schlüssel, den sie aus dem Schloß gezogen hatte, entfiel ihrer Hand. Als sie ein wenig zu Sinnen gekommen war, hob sie den Schlüssel auf, schloß die Tür wieder ab und ging in ihr Zimmer, um sich etwas zu erholen. Doch das gelang ihr nicht, so erregt war sie. Da sie bemerkt hatte, daß der Schlüssel der Kammer mit Blut besteckt war, wischte sie ihn zwei-, dreimal ab, aber das Blut wollte nicht weichen. Umsonst wusch sie ihn und scheuerte ihn gar mit Sand; die Blutspuren gingen nicht ab. Der Schlüssel war nämlich verzaubert und ließ sich nicht völlig reinigen. Verschwand das Blut auf der einen Seite, so kam es auf der andren wieder zum Vorschein.

Noch am selben Abend kehrte Blaubart von seiner Reise heim. Wie er sagte, hatte er unterwegs Briefe erhalten, laut deren das Geschäft, dessentwegen er die Reise angetreten, zu seinen Gunsten erledigt sei. Seine Frau tat, was sie konnte, um ihm ihr Entzücken über seine rasche Heimkehr zu bezeugen. Am nächsten Tage verlangte er die Schlüssel zurück. Sie gab sie ihm, aber mit so zitternden Händen, daß er ohne Mühe erriet, was geschehen war. „Warum“, fragte er, „ist der Schlüssel zur Kammer nicht bei den anderen?“ — „Ich habe ihn wohl oben auf dem Tisch liegen lassen.“ — „Unterlaß nicht, ihn mir bald zu geben“, sprach Blaubart. Nach mehrfachem Aufschub mußte sie ihm den Schlüssel bringen. Blaubart betrachtete ihn und fragte seine Frau: „Warum ist Blut an diesem Schlüssel?“ — „Ich weiß es nicht“, antwortete die Ärmste, bleicher als der Tod. — „Du weißt es nicht?“ wiederholte Blaubart. „Ich aber weiß es. Du wolltest die Kammer betreten. Wohlan, Madame, Sie sollen sie betreten und Ihren Platz neben den Frauen einnehmen, die Sie dort sahen.“ Sie warf sich ihrem Gatten zu Füßen, weinte und flehte ihn um Verzeihung an, mit allen Zeichen ehrlicher Reue ob ihres Ungehorsams. Sie hätte einen Tiger gerührt, so schön war sie in ihrer Betrübnis, aber Blaubarts Herz war härter denn Stein. „Sie müssen sterben, Madame,“ sprach er, „und das sogleich.“ — „Da ich denn sterben muß,“ antwortete sie mit tränenerfülltem Blick, „so gebt mir wenigstens eine Frist, um zu beten.“ — „Ich gebe Ihnen eine halbe Viertelstunde,“ erwiderte Blaubart, „aber keinen Augenblick mehr.“

Als sie allein war, rief sie ihre Schwester und sprach: „Schwester Anna,“ — so hieß sie — „ich bitte Dich, steige auf den Turm und schau aus, ob meine Brüder nicht kommen. Sie haben mir versprechen, mich heute zu besuchen. Siehst Du sie, so winke ihnen, sich zu eilen!“ Schwester Anna stieg auf den Turm, und die arme Schmerzensreiche rief ihr von Zeit zu Zeit zu: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Aber ihre Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe nichts als die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ Da schrie Blaubart, ein großes Messer schwingend, seinem Weibe aus voller Kehle zu: „Komm herab oder ich steige hinauf!“ — „Noch ein kleines Weilchen, bitte“, antwortete sie, und sofort rief sie ganz leise: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Aber Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe nichts als die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ — „Komm rasch herab,“ schrie Blaubart, „oder ich steige hinauf!“ — „Ich komme schon“, antwortete die junge Frau. Dann schrie sie: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ Und Schwester Anna beschied sie: „Ich sehe eine große Staubwolke daherkommen.“ — „Sind's nicht meine Brüder?“ — „Ach nein, Schwester, es ist eine Schafherde.“ — „Willst Du nicht herablommen?“ schrie Blaubart. „Noch ein kleines Weilchen“, bat seine Frau. Dann rief sie: „Anna, Schwester Anna, siehst Du nichts nahen?“ — „Ich sehe“, beschied jene, „zwei Reiter daherkommen, aber sie sind noch weit fort.“ — „Gelobt sei Gott!“ rief sie kurz darauf. „Es sind meine Brüder. So gut ich vermag, winke ich ihnen, sich zu eilen.“ Blaubart begann so laut zu schreien, daß das ganze Haus erzitterte. Die Ärmste stieg hinab und warf sich, in Tränen gebadet und mit aufgelöstem Haar ihrem Gatten zu Füßen. „Was soll das?“ sprach Blaubart. „Du mußt sterben.“ Dann packte er sie mit einer Hand bei den Haaren und mit der andren zückte er das Messer, um ihr den Kopf abzuschneiden. Die Ärmste wandte ihm das Antlitz zu, blickte ihn mit brechenden Augen an und bat ihn, ihr noch ein kleines Weilchen zu vergönnen, um sich zu sammeln. „Nein, nein“, rief er, „empfiehl Deine Seele Gott!“ und erhob seinen Arm... In dem Augenblick ward so stark an die<143> Tür gepocht, daß Blaubart in seinem Streich innehielt. Die Tür ging auf, und zwei Reiter eilten herein, zogen ihre Degen und stürzten auf Blaubart los. Er erkannte die beiden Brüder seiner Frau. Der eine war Dragoner, der andre Musketier. Daher nahm er flugs Reißaus, um sich zu retten. Aber die beiden eilten ihm nach und holten ihn ein. Noch ehe er die Haustür erreicht hatte, stießen sie ihm ihre Degen durch den Leib und ließen ihn tot liegen. Die Ärmste war fast ebenso entseelt wie ihr Gatte. Sie hatte nicht so viel Kraft, um aufzustehen und ihre Brüder zu umarmen.

Es fand sich, daß Blaubart keine Erben hatte. Also kam seine Witwe in den Besitz all seiner Habe. Sie verwandte einen Teil davon, um ihre Schwester Anna mit einem jungen Edelmann zu verheiraten, den sie seit langem liebte, einen andren Teil, um ihren beiden Brüdern Kapitänssiellen zu laufen, den Rest aber, um selbst einen sehr ehrenwerten Mann zu freien, bei dem sie die schlimme Zeit vergaß, die sie mit Blaubart verbracht hatte.

Moral.
Mag sie noch so lockend scheinen,
Neugier endet oft mit Weinen;
Es gibt Beispiele zu Hauf.
Sei's den Frauen nicht verdrießlich:
Neugier ist stets unersprießlich,
Kaum befriedigt, hört sie auf,
Und man gibt zuviel in Kauf.

<144>

Dom Calmets theologischer Kommentar zu „Blaubart“

Dom den mystischen Sinn dieses göttlichen Werkes recht zu erfassen, muß man es zuvor gründlich studiert haben. Wiewohl der Name des heiligen Verfassers nicht auf uns gekommen ist, können wir aus dem Stil des hebräischen Originals entnehmen, daß er ein Zeitgenosse des Propheten Samuel war. Seine Ausdrücke sind die gleichen wie im Hohenlied Salomonis; einige Wendungen sind verwandt mit den Psalmen Davids, woraus wir schließen können, daß er lange vor der Babylonischen Gefangenschaft gelebt hat.

Das Werk ist in bilderreichem Stil geschrieben. Es ist ein Gleichnis, eine Verbindung der erhabensten christlichen Moral mit einer der offenbarsten Prophezeiungen der Ankunft des Messias und des glänzenden Sieges, den er über den ewigen Widersacher Gottes und der Menschen davontragen wird. Das von uns kommentierte Werk ist eine wahre Fundgrube. Je tiefer man darin schürft, um so mehr Schätze findet man. Auf „Blaubart“ trifft das Wort der Schrift zu: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Die Bücher des Alten Testaments tragen alle das gleiche Gepräge. Die Kirchenväter und die Doktoren, die in den heiligen Schriften am besten Bescheid wußten, haben sich stets bemüht, den geheimen Sinn der von Gott inspirierten Schriftsteller zu ergründen. Oft ist ihnen die Erklärung durch Vergleichung verschiedener Propheten miteinander gelungen. Wir gedenken dieser weisen Methode zu folgen, um die göttlichen Wahrheiten und die so schlagenden Prophezeiungen zu beleuchten, die das heilige Gleichnis von „Blaubart“ unsrem Nachsinnen darbietet.

Man sehe, mit welch rührender Einfalt das Buch beginnt! „Es war einmal ein Mann, der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande.“ Schon allein dieser Anfang zeugt für die göttliche Inspiration des Buches. Es heißt nicht: „Es war in dem und dem Jahre“, sondern: „Es war einmal.“ Der Verfasser sah im Geist die Streitigkeiten voraus, die die Ungläubigen eines Tages an verschiedene chronologische Fragen anknüpfen würden, als da sind: das Datum von Christi Ge, burt und der Flucht nach Ägypten, die Zeit seines Erdenwallens, schließlich der Tag seines Todes und seiner Auferstehung. Solchen verfänglichen Daten zieht er also die erhabene Schlichtheit vor: „Es war einmal ein Mann.“

„Der hatte schöne Häuser in der Stadt und auf dem Lande.“ Das ist der rechte erzählende Stil. Mit jenen verschiedenen Besitzungen kennzeichnet der heilige Verfasser die Verworfenheit des Mannes, von dem er spricht. Er hing an den weltlichen Gütern. Ohne Zweifel rühmte er sich seines Reichtums und rechnete die Güter jenes Lebens für nichts.

<145>

„Sein Bart war blau.“ Er geht Schritt für Schritt weiter. Der Mann ist reich; er ist eitel; sein Bart ist blau: das ist das Wahrzeichen des Teufels. Der Urheber all unsrer leiden kann keinen gewöhnlichen Bart haben; er muß blau sein. Denn der Teufel, der Eva in Gestalt einer Schlange im Garten Eden versuchte, hatte eine bläuliche Farbe. Diese Behauptung stütze ich noch auf ein physikalisches Argument. Öllampen werfen einen bläulichen Schein: die Teufel, die die Verdammten in große Kessel siedenden Öls tunken, bekommen davon allmählich einen blauen Bart, genau wie die Haare der Arbeiter in den Vitriolbergwerken auf die Dauer eine grünliche Farbe annehmen. Dies Kennzeichen, diese Farbe ist dem Bösen gegeben, da, mit die Menschen den Feind ihres Heils erkennen können. Wir haben Augen zum Sehen und sehen doch nicht; denn wir prüfen nichts. Das liegt an unsrer Trägheit, unsrer Lauheit, unsrer sündhaften Nachlässigkeit, dank der wir in alle Netze des Bösen fallen. Wir wachen nicht über das Heil unsrer unsterblichen Seele. Ob der Versucher einen blauen Bart hat oder nicht, niemand denkt darüber nach. Er schmeichelt unsren Begierden, wir lassen uns verführen. Wir trauen ihm und sind verloren.

Diese bedeutsame Wahrheit stellt unser Gleichnis wie folgt dar: „Eine vornehme Dame hatte zwei Töchter. Blaubart begehrte die eine zur Ehe.“ Wie stets, wendet sich der Teufel auch hier an die Weiber. Er weiß, ihr Geschlecht ist schwächer als das unsre. Ferner ist zu bemerken: wenn der böse Feind jemand rauben will, so verficht es ihm nichts, ob er die jüngere oder ältere Tochter entführt, wenn er nur seine Beute bekommt. „Lange konnten sie sich nicht entschließen, Blaubart zu freien; denn er hatte mehrere Frauen gehabt, und niemand wußte, was ans ihnen ge, worden war.“ Noch kämpfte die göttliche Gnade in den Herzen der jungen Mädchen und flößte ihnen heimlichen Abscheu gegen den Fürsten der Finsternis ein. Man darf nicht mit ihm vertraut werden, sonst ist man früher oder später verloren. Hütet Euch vor dem ersten Fehltritt; den zweiten tut man ohne Reue.

„Blaubart lud die Mädchen und etliche junge Leute in eins semer Landhäuser ein. Da gab es nichts als Tanz, Feste und Lustwandeln.“ Man kann die Listen des Bösen und die Wege, die er einschlägt, um uns zu verführen, nicht deutlicher darstellen als in diesem Gleichnis. Er erregt unsre Genußsucht. Erst sind es prunkvolle Gastmähler, lüsterne Tänze, lockere Reden. Dann entzündet er in uns das Feuer der Leiden, schaften: Wollust, Gier nach Besitz, Hoffahrt, Verachtung. So wendet er Gottes Diener allgemach dem Lasier zu. Wie berauscht vom Anblick dieser vergänglichen Welt, trachten wir nicht mehr nach der ewigen Seligkeit, und unsre verderblichen, zügellosen Leidenschaften stürzen uns in den Abgrund der Qualen. Durch solche Arglist macht der Teufel den Himmel leer und bevölkert die Hölle, die sein Reich ist.

Aber man beachte vor allem, welch rasche Fortschritte seine Versuchungen bei unschuldigen Herzen machen. Er umgarnt die jüngere Schwester, die unerfahrenere, und heiratet sie zum Verderben der Unseligen. Mit dieser jungen Gattin meint der<146> Verfasser das jüdische Volt, das uneingedenk der unermeßlichen Wohltaten Gottes und aller Zeichen und Wunder, die er seinem Volke gegeben hatte, den falschen Göttern, d. h. den Teufeln, opferte und in alle Greuel der Abgötterei fiel. So tieft sinnig und streng theologisch lehrt uns unser heiliger Verfasser jene erhabenen Wahrheiten. Das junge Mädchen verläßt das Elternhaus, um Blaubart zu heiraten. Die Juden werden abtrünnig vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und dienen Baal Peor und andren Götzen, die die Hölle auf die Welt ausgespieen hat. Erst ist man lau, dann wird man gleichgültig, dann vergißt man Gott, versinkt in Sünden und Lasier, immer tiefer, bis es kein Zurück mehr gibt. Der Mensch ist verloren, sobald die wirksame Gnade ihn verläßt. Ein Schwindelgeisi ergreift seine Sinne; er taumelt am Rande des Abgrunds und ahnt nicht, daß die Tiefe ihn verschlingen wird. Die Iungvermählte, durch verderblichen Irrtum verblendet, sieht nicht, daß ihr Gatte einen blauen Bart hat. So werden wir, von der Heftigkeit unsrer Leidenschaften fortgerissen, der furchtbaren Mißgestalt unsrer Lasier nicht gewahr. Ohne Kompaß und Steuer treibt der Sünder dahin, ein Spielball der wilden Stürme, die sein gebrechliches Schifflein schließlich zerschellen.

„Kaum verheiratet, unternimmt Blaubart eine sechswöchige Reise, um wichtige Geschäfte zu besorgen, und bittet seine Gattin, sich während seiner Abwesenheit gut zu unterhalten.“ So sucht der Teufel, nicht zufrieden mit einem Opfer und stets auf das Verderben der Menschen erpicht, unablässig nach neuer Beute.

„Beim Abschied gibt Blaubart seiner Gattin den Schlüssel zu allen seinen Schätzen, darunter den Geheimschlüssel zu einer Kammer, die er ihr zu öffnen verbietet.“ Welche wichtige Lehre liegt in diesen wenigen Worten! Der alte Versucher kennt sein Handwerk, das er durch alle Zeiten getrieben hat. Er verwirrt den Sinn eines jungen Weibes, indem er ihm Lust an Reichtümern einstößt. Er will uns an die vergänglichen irdischen Güter ketten, um uns von den unvergänglichen Gütern des Paradieses abwendig zu machen. Durch das gleiche Mittel gelang es ihm, den weisesten aller Könige zu verführen. Er gibt Salomon alles Gold von Ophir. Mit diesem Golde beginnt Salomo, dem Herrn in Jerusalem einen Tempel zu bauen: das ist wohlgetan! Aber der Teufel verliert den Mut nicht. Alsbald schaffte sich der weise König siebenhundert Kebsweiber an: das war der Mißbrauch! Hier sei beiläufig bemerkt, wie unser Geschlecht ausartet. Kein Sardanapal unsrer Tage könnte eine so große Zahl von Konkubinen befriedigen. Salomo blieb dabei nicht stehen. Er opferte zuletzt den falschen Göttern. So zieht ein Fall den andren nach sich. Doch es ist Zeit, zum heiligen Texte zurückzukehren.

Die Schlüssel zu den Schätzen, die Blaubart seiner Gattin gibt, bedeuten den Dietrich der Hölle, die verräterischen Schlüssel, die allen Lastern Tür und Tor öffnen. Der Teufel weiß, daß die meisten Menschen sich durch Reichtum fangen lassen. Er hat nur wenige gefunden, die dieser Lockung widerstanden. Erinnert Euch der Worte, die der Fürst der Finsternis zu dem göttlichen Messias sprach, als er ihn<147> auf einen hohen Berg zu führen wagte. Er zeigte ihm alle Reiche der Welt und sagte: „Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest!“ Unseliger Reichtum, verderbliche Größe, ihr verderbt den, der euch anhangt! Nein, die Reichen werden das Reich Gottes nicht erben. Auch Ihr, große Herrscher der Welt, Ihr, die Ihr Euch in frecher Hoffahrt auf Euren prunkvollen Thronen bläht, wahrlich! Ihr werdet dereinst ein Raub der ewigen Flammen sein, indes der arme Lazarus in Abrahams Schoße mitleidig auf Eure Leiden und Qualen herabsieht.

Man bemerke zugleich, daß der Teufel seiner Gattin zwar alle Schlüssel gibt, ihr aber die geheime Kammer zu öffnen verbietet. Schon allein dieser Zug verrät uns die göttliche Inspiration des Buches; denn in diesen wenigen Worten wird die Tücke des Bösen mit treffenden Farben geschildert. Geschickt benutzt er unsre Leidenschaften, um uns in sein Joch zu zwingen, aber wir sollen die Listen und Fallstricke nicht kennen, mit denen es ihm gelingt, uns zu Fall zu bringen. Indem er uns bindet, ja knebelt, will er doch, daß seine Ketten unsichtbar bleiben, damit wir nicht merken, daß wir seine unglücklichen Sklaven sind. Jene unheilvolle Kammer birgt die Geheimnisse der Ungerechtigkeit. Seine junge Gattin soll sie nicht betreten, aber zugleich versucht er sie, indem er ihre Neugier erregt. Die gleiche List, mit der er unsre Urmutter verführte! Zu ihr sprach er: „So du von dieser schönen Frucht issest, wirst du alle Dinge wissen. Man neidet sie dir, weil sie köstlich ist. Iß davon, da du sie besitzest.“ O verderbliche Neugier, Schicksalsapfel, Apfel des Verderbens, du hast die Menschheit zugrunde gerichtet! Blaubarts junge Gattin war ein Weib und ebenso neugierig wie Eva. Die Versuchung war stark. „Warum gab er mir den Schlüssel zu der Kammer? Warum verbietet er mir, hineinzugehen?“ So fragte sie bei sich selbst. „Gewiß ist dort das Seltsamste und Köstlichste verborgen, was mein Gatte besitzt.“ Wie konnte sie allen Feinden widerstehen, die sie umgaben! Sie ward ja zugleich vom Teufel der Fleischeslust, vom Teufel der Völlerei, vom Teufel des Reichtums angefochten und vom Stachel der Neugier getrieben. Sie sieht weder die Falle, die ihr gestellt ist, noch ihre unheilvollen Folgen. Ach! was vermochte über ihr Herz noch der schwache Rest der zureichenden Gnade, die ihr seit ihrer schrecklichen Heirat mit dem Fürsten der Finsternis schon dreiviertels abhanden gekommen war. Die Gnade hat keine Macht mehr über sie und verläßt sie. Fortan umnachtet der Geist der Verwirrung alle ihre Sinne und beherrscht sie despotisch.

Siehe, sie greift zu dem Schlüssel der verbotenen Kammer, eilt hin, öffnet die Tür und steigt hinab. Welch ein Anblick, gerechter Gott! bietet sich ihren Blicken dar. Die Leichen mehrerer ermordeter Frauen, deren Blut den Estrich der Kammer bedeckte! Diese Gegenstände des Schreckens entsetzen und betören sie. Finstere Trübt sal erfüllt ihre Seele mit Schmerz. Der Schleier des Trugs zerreißt. Auf den Taumel der trügerischen Freuden folgt die Reue, der Gewissensbiß, die Verzagtheit. In dem Augenblick, da sie sich verloren wähnt, schießt der Himmel einen Strahl der veränderlichen Gnade und drei Strahlen der mitwirkenden Gnade auf sie herab, die<148> sie durch ihre Reue verdient hatte. Nun sieht sie ihre Missetaten in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Ein furchtbarer Augenblick, die ihr den eifersüchtigen Gott zeigt, den Blitzstrahl in der Hand, bereit, ihn auf sie zu schleudern. Regungslos, fast entseelt, läßt sie den Schlüssel fallen. Doch was tun? Sie muß ihn aufheben; er ist ganz mit Blut besudelt. Das ist das unschuldige Blut, das vom Totschlag des gerechten Abel bis zur Steinigung Sacharjas148-1 geflossen ist. Es schreit gen Himmel, es fleht zum Herrn, der so lange gegen das Seufzen der wenigen Gerechten, die es in Israel noch gibt, taub war. Es steht, ihnen Den zu senden, der die Hoffnung der Völker ist und der den Erbfeind Gottes und der Menschheit zu Boden schlagen wird. Die junge Gattin war in furchtbarer Lage. Ihre Seele war verwirrt vom Anblick jener blutigen Leichname, von der Reue über ihre Missetaten, von der Macht der wirk, samen Gnade und von dem Abscheu, den sie gegen Blaubart faßte. In Tränen ge, badet, verläßt sie die Stätte des Schreckens. Sie will das Blut abwischen, das den verhängnisvollen Schlüssel besteckt. Umsonst versucht sie es mehrmals; es gelingt nicht. So unauslöschlich sind die Spuren unsrer Missetaten, so schwer ist es, reinzuwaschen, was durch Verbrechen besudelt ist!

Unterdessen erhält Blaubart auf seiner Reise die Nachricht, daß seine Geschäfte zu seinen Gunsten erledigt sind; denn des Teufels Geschäfte gehen rasch. Das Lasier ist leicht, aber die Tugend ist schwer. Er kehrt in seinen Palast zurück und fordert von seiner Gattin sofort den Schlüssel der schrecklichen Kammer. Ein Augenblick des Grausens für die Ärmste, die nun erkennt, welches Unheil ihre Neugier über sie gebracht hat. Aber auch ein Augenblick des Heils, wo die Gnade sie stark macht und sie ihrem Schöpfer zurückgibt. Mit gellender Stimme schreit Blaubart: „Wo ist der Schlüssel zur Kammer?“ Mit zitternder Hand reicht die junge Gattin ihn dar; denn schon fühlt sie heilsamen Abscheu vor jeder Verbindung mit dem Bösen. „Woher“, fragt Blaubart, „kommen die Blutspuren an diesem Schlüssel?“ — „Ich weiß es nicht“, antwortet sie, bleicher als der Tod. „Wohlan, Madame,“ entgegnet Blaubart — denn der Teufel ist höflich — „Sie werden die Kammer betreten, um Ihren Platz unter den Frauen einzunehmen, die Sie dort sahen.“ Ach, Ihr armen Sterblichen, lernet den Teufel kennen! Mißtraut ihm ohn' Unterlaß; seid stets auf Eurer Hut! Blumen streut er auf den Weg, auf dem er Euch zur Hölle führt! Zu Anbeginn schmeichelt er Euren Leidenschaften; dann auf einmal verwandelt er sich in den Henker Eurer Seelen und stürzt Euch in den Abgrund der Qualen.

Doch man beachte hierbei mit den heiligen Vätern, wie anders Gottes Wege sind als die Wege der Menschen! Die von der Vorsehung bestimmte Stunde, da Gott der jungen Bußfertigen zu helfen gedachte, war noch nicht gekommen. Um diesen Augen, blick des Heils herbeizuführen, legt der Heilige Geist dem jungen Weibe die rührendsten Worte in den Mund, Worte, die auch den wildesten Tiger und Leuen erweicht hätten.<149> Aber der Teufel, an den sie gerichtet waren, ist unbarmherziger als alle Tiger der Welt. Er kennt keine andre Freude, als die Gefährten seiner Schandtaten zu mehren und die Streiter Christi ihrem Banner abspenstig zu machen, um sie in seine aufrührerischen Rotten zu stellen und zum Raub der Hölle zu machen. „Sie müssen sterben, Madame!“ schreit Blaubart. „Sie müssen auf der Stelle sterben!“ Furchtbare Worte, die die ganze Grausamkeit des bösen Feindes ausdrücken; nützliche Worte, die der Heilige Geist dem frommen Verfasser diktiert hat, um uns all den Abscheu, all das Grausen einzuflößen, das wir vor dem Fürsten der Finsternis haben sollen. „Da ich denn doch sterben soll,“ entgegnet seine Gattin, in Tränen gebadet, „gewährt mir nur eine Viertelstunde Frist!“ — „Wohlan,“ sprach Blaubart, „aber nicht einen Augenblick mehr.“

Eine notwendige und nützliche Frist. Ein goldner Augenblick für den Ausgang des Gleichnisses! Wie schon gesagt, bedeutet die junge Gattin das Volk Israel und ihre Heirat mit Blaubart die Abgötterei, die das auserwählte Volk mit Baal Peor, Moloch und andren Götzen trieb. Das Hinabsteigen der jungen Gattin in den bluterfüllten Keller bedeutet klar die Babylonische Gefangenschaft, in der der Dienst des wahren Gottes aufgehört hatte, und die lange Knechtschaft, in der das Volk Gottes seufzte, als es nacheinander von den Ägyptern, Assyrern, Medern und Römern unterjocht ward. Blaubarts Rückkehr und seine Absicht, die Gattin zu töten, bedeutet die letzten Anstrengungen der Hölle zur Zerstörung des Glaubens, des Dienstes und der Altäre Zebaoths, die Häufung der Verbrechen auf der ganzen Welt, das Verstummen der Propheten, das Aufhören der Wunder und die unselige Verlassenheit des Menschengeschlechts, die den Höchsten bewog, seinen unschuldigen Sohn auf die Welt zu schicken, auf daß er durch seinen Tod die Sünder erlöste.

Doch fürchten wir nichts! Die Gnade wirkt; sie belebt die untröstliche junge Gattin, die in die bemerkenswerten Worte ausbricht: „Anna, meine Schwester, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?“ Gleich als hätte sie gerufen: „Der Herr wird mich nicht verlassen. So groß meine Sünde auch sei, ich vertraue auf sein Erbarmen. Meine Reue ist größer als meine Missetaten. Ich weiß, er wappnet einen Rächer, der mich vom Joch der Hölle befreien wird. Anna, meine Schwester, Schwester Anna, siehst du den göttlichen Retter noch nicht nahen? Ach, ich habe ihn beleidigt. Ja, ich habe seinen Zorn verdient. Aber so sehr auch meine Sünden gen Himmel schreien, seine Gnade ist größer. Wann wird Der kommen, den Iesaia, Hesekiel und Daniel den Völkern verhießen, der der Schlange den Kopf zertritt, die unsre Urväter verführt hat, Er, dem die Menschheit ihr Heil danken wird? Ich bin vom Stamme Iuda, ich bin eine Tochter des Höchsten. Der da kommen wird, mich zu befreien, ist sein Sohn, also mein Bruder. Ach, lieber Bruder, komm! Ich erwarte dich mit Sehnen. Anna, meine Schwester, kommt er noch nicht?“

Ihre Schwester Anna steigt flugs auf einen Turm des Schlosses; denn man muß sich aus dem Staub des Irdischen erheben, will man die himmlischen Dinge erschauen.<150> Darum tragen die Tiere den Kopf vornüber, und allein der Mensch trägt ihn aufrecht, um gen Himmel blicken zu können. Wir kennen den Einwand, der Hahn trüge seinen Kopf ebenso hoch wie wir. Das sind schlechte Geschichten, Erfindungen der Ungläubigen, um die offenbarten himmlischen Wahrheiten zu erschüttern, wenn sie es vermöchten. Doch ich wende mich wieder unsrem helligen Text zu. Kehren wir zur Schwester Anna zurück. Sie stellt nach dem mystischen Sinn des Gleichnisses alle Heiligen und Propheten dar, die über unsren Heilsweg und das Erlösungswerk gehandelt haben. Da sie nicht wie ihre Schwester gefehlt hatte, so war sie von der zureichenden Gnade und der wirksamen Gnade nicht verlassen, und darum wohnte ihr der Geist der Weissagung inne. Für und für weilte ihr Denken bei der Wurzel Iesse und dem glorreichen Schicksal des Sohnes Davids, der die Hoffnung der Völker sein wird, bei seiner Erniedrigung und seinen Siegen.

Anna schaut nach allen Seiten aus. Was sieht sie? „Die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ Das heißt in der heiligen Sprache: „Ich sehe die Sonne vor Lust schwellen. Sie freut sich über die glorreiche Ankunft des Messias. Ich sehe ihre Strahlen den Staub des Irrtums mit der Klarheit des Evangeliums durchdringen. Ich sehe das Gras grünen, oder besser gesagt, sich in die Farbe der Hoffnung kleiden und ungeduldig die Ankunft des Gesalbten erharren.“ Aber das jüdische Volt — die junge Gattin —versieht den mystischen Sinn dieses göttlichen Gleichnisses nicht. Der von den Propheten so oft verkündete Messias kommt nicht so schnell, wie sie es in ihrem jähen Verlangen wünscht.

Sehet, wie unterdessen die Anläufe des Teufels zunehmen. Seine Grausamkeit drängt ihn zur Vollendung seines ruchlosen Werkes. Mit Donnerstimme, den Posaunen von Jericho gleich, schreit Blaubart aus voller Kehle: „Kommen Sie rasch, Madame, oder ich steige hinauf und schlachte Sie ab!“ Was wird sie beginnen? Was vermag sie? Sie bittet um kurzen Aufschub; sie will warten, bis die Stunde des Herrn gekommen ist. Zugleich wiederholt sie mit schwacher Stimme die frommen Worte: „Anna, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?“ So seufzte das Häuflein der ftommen Seelen, die Gott sich in seinem auserwählten Volke erhalten hatte, in heiligem Eifer nach der Erlösung. Es fürchtete, der Same Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Elschaddai, Adonai und Elohim diente150-1, möchte vom Fürsten der Finsternis ausgerottet werden. Anna antwortet ihr nochmals: „Ich sehe die Sonne durch den Staub scheinen und das Gras grünen.“ Ja, Gott hält sein Wort, er verläßt uns nicht! Er stand dem Propheten Elias bei, da die kleinen Knaben ihn verspotteten und ihn Kahlkopf nannten; denn die Knaben wurden von Bären zerrissen150-2. Er teilte die Wasser des Roten Meeres, damit sein Volk hindurchziehen tonnte. Er wappnete Simsons Hand mit einem Eselskinnbacken, damit er die Philister erschlug. Er wird auch uns nicht verlassen.

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„Aber Blaubarts Ungeduld nahm noch zu, und er schrie lauter denn je: Komm herab, oder ich steige hinauf!“ Damit meint der heilige Verfasser den Greuel aller Greuel in der heiligen Stadt oder des Pompejus Einzug in Jerusalem151-1, die Aufrichtung der römischen Adler und Götzenbilder neben dem Tempel, die Erbauung der Burg Antonia, die der verruchte Herodes zu Ehren des Triumvirs Antonius errichten ließ, und den Fleiß, mit dem dieser König den Götzendienst in dem Lande einzuführen trachtete, das der Herr Zebaoth für alle Zeit seinem auserwählten Volke bestimmt hatte. Diese bedeutsamen Ereignisse gingen der Ankunft Christi um etwa dreißig Jahre voraus. Mit so erstaunlicher Genauigkeit hat der fromme Verfasser des heiligen Buches die Zukunft geschaut und vorhergesagt! Rechnet man bei der viertelstündigen Gnadenfrist, die Blaubart seinem Weibe gewährt, die Minute zu drei Jahren, so kommt genau die Zeit zwischen der Eroberung Jerusalems durch Pompejus und der heilbringenden Ankunft und Geburt des Messias heraus.

„Aber Blaubarts unglückliche Gattin stand zitternd und fast entseelt und glaubte sich dem Tode geweiht. Ihre Kräfte verließen sie; ihre Stimme versagte schier; doch inbrünstig wiederholte sie die frommen Worte: 'Anna, meine Schwester, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?'“ — „Ich sehe“, erwidert ihre Schwester, „eine Staubwolke von Osten her aufsteigen.“ Die verzweifelte junge Gattin fragt: „Sind es nicht meine Brüder?“ — „Ach nein,“ antwortet Anna, „es sind Schafe.“ Man beachte vor allem, daß in dieser Stelle jedes Wort große Wahrheiten verkündet. Der göttliche Verfasser stellt uns in Gestalt dieser Schafherde Johannes den Täufer, den heiligen Vorläufer Christi dar. Er selbst war sanft wie die Lämmer und verkündete der in ihren Sünden versunkenen Menschheit das Lamm ohne Makel. Hätte unser heiliger Verfasser mit eignen Augen all die Geschehnisse erblickt, die sich vor der heilbringenden Ankunft des Messias zutrugen, er hätte sie nicht ordnungsmäßiger berichten können als in seinem Gleichnis. Es ist mehr eine Geschichte als eine Prophezeiung.

Endlich gelangen wir zu dem Augenblick, da die kreißende Welt den Heiland gebärt. Blaubart, oder sagen wir vielmehr der ergrimmte Teufel, kommt und will seine Beute packen.

In diesem Augenblick verkündet Anna ihrer Schwester, sie sähe zwei Reiter, aber sie wären noch fern. Die beiden Reiter sind der Sohn und der Heilige Geist, der Person nach verschieden, aber beide unlöslich im Logos verbunden, mit dem sie die heilige, anbetungswürdige Dreieinigkeit bilden. Wann kommen sie? Zu einer Zeit, da die Welt Frieden hatte, da Augustus den Janustempel schließen ließ, aber auch zu einer Zeit, da alle Mächte der Hölle gegen ihren Schöpfer losgelassen waren, da die Priester, Leviten und Schriftgelehrten, in verschiedene Sekten ge<152>spalten, einer verdammenswerten Philosophie huldigten und als Pharisäer, Sadduzäer, Essäer und Therapeuten152-1 auftraten, Sekten, die den Glauben ihrer Voreltern so völlig untergruben und zerstörten, daß der Herr Zebaoth fast keine wahren Diener mehr hatte. Die Gefahr war groß und rasche Hilfe vonnöten, oder die junge Gattin wäre erwürgt und die Kirche vernichtet worden. Aber der Herr verläßt die Seinen nicht. In dem Augenblick, da Blaubart das Schwert nach dem Nacken seiner jungen Gattin zückt, siehe, da naht der Heiligste der Heiligen, wirft ihn zu Boden und erschlägt Luzifer zu seinen Füßen. Die Kirche ist gerettet, und die Hölle bebt vor Wut.

Man sieht, wie genau dies Gleichnis zutrifft und wie unfehlbar die Worte des heiligen Verfassers sind. Die Heiligen und Propheten, denen der Himmel die künftigen Ereignisse offenbarte, haben sie verkündet. Die schwache menschliche Vernunft konnte nur die äußere Schale dieser göttlichen Wahrheiten durchdringen. Alles mußte erst in Erfüllung gehen, um sie zu überzeugen. Diesen mystischen Sinn muß man w der Heiligen Schrift suchen, oder man wird nie das volle Verständnis für Jeremias, Jesaias, Hesekiel und Daniel haben, noch für „Blaubart“ und das Hohelied Salomonis152-2. Sobald die beiden Reiter erscheinen, ist die junge Gattin gerettet. Sobald der Messias auf die Welt kommt, ist der Teufel auf ewig in Ketten geschlagen, die christliche Religion, allzeit streitbar und siegreich, wird begründet, und unser Heilswerk vollendet sich.

Doch setzen wir unsren Kommentar fort. „Die Witwe des verstorbenen Blaubart kauft ihrem Bruder eine Kompagnie.“ Welche Kompagnie ist gemeint, wenn nicht die Heerschar der Gläubigen, die die Kirche in ihrem Schoße hegt, die wahren Streiter Christi, bereit, für die Ausbreitung des wahren Glaubens zu kämpfen und zu sterben, bereit, mit der Schärfe des Schwertes die Menge der Ketzer oder vielmehr der Verdammten auszurotten, die sich wider ihre heilige Mutter empören und ihren Busen zerreißen? Und in noch erhabnerem mystischen Sinne deutet diese Kompagnie auf das Schwert hin, das unsrem Heiligen Vater, dem Papste, verliehen ward, um die Sache Gottes zu verteidigen und ihre Feinde auszutilgen.

Fahren wir aber fort: „Blaubarts oder vielmehr Beelzebubs Witwe heiratet nachmals einen sehr ehrenwerten Mann.“ Sie heiratet den Papst. Bekanntlich ist die Kirche mit dem Papste vermählt, welcher der Stellvertreter Christi ist. Möge nun ein Luther, ein Calvin, ein Socinus152-3 oder irgend ein Ketzer ihres Schlages, wöge all dieser Unflat der Hölle kommen. Möge man noch das Geschmeiß der Dissidenten und das ruchlose Gelichter der PHUosophen hinzunehmen, die ebenso verworfen sind wie jene: welches Mittel bleibt ihnen noch zur Auflehnung gegen die Oberhoheit unsres Heiligen Vaters, des Papstes, oder zu weiteren Angriffen auf die<153> Dogmen des apostolischen, römisch-katholischen Glaubens? Umsonst wollen sie sich überheben. Wir lachen ihrer ohnmächtigen Anstrengungen und werden ihnen den Mund verschließen, indem wir ihnen die wunderbare Erfüllung der Prophezeiungen des Verfassers von „Blaubart“ haarklein darlegen. Zu ihrem Schaden wird ihnen bewiesen werden, daß Beelzebubs Witwe den Heiligen Vater gefreit hat, d. h. daß die Kirche nach Abschwörung der alten Abgötterei zur Gemahlin Jesu Christi geworden ist. Der Papst ist sein Statthalter hienieden, also ist die Kirche das Eheweib des Papstes. In ihrer ersten Ehe mit Blaubart war alles weltlich, in der zweiten ist alles geistlich. In der ersten gab sie sich zügellosen Leidenschaften, fleischlichen Lüsten hin, in der zweiten wird sie durch Reue, Buße und Gottes Gnade geläutert. Dort gab es schwelgerische Gastmähler, Anreizungen zu unlauteren Begierden, nebst allem, was die Üppigkeit hervorbringen kann, um die Eitelkeit zu erregen und sich selbst zu vergessen; hier sind es Bußübungen, Reue, christliche Demut und als Kost nichts denn das Fleisch und Blut des fleckenlosen Lammes. Statt des vergänglichen Reichtums und des Prunkes, den sie in Blaubatts Palaste fand, häuft sie hier einen Schatz guter Werke und frommer Handlungen, dessen Zinsen ihr im Para, dies dereinst reichlich heimgezahlt werden. Statt in den Armen des Teufels, der sie erwürgen wollte, ruht sie nun in den Armen des Statthalters dessen, dem sie ihr Heil in dieser Welt und in jener die ewige Seligkeit dankt.

Geschrieben im Kloster der Benediktiner der Kongregation von St. Maur,
am 17. September im Jahre des Heils 1692.

(gez.:) Dom Calmet.

<154>

Predigt über das Jüngste Gericht (1759)154-1



Teure Gemeinde!

Bin ich je mit Worten des Heils und des Friedens vor Euch getreten, habe ich je die Pflichten meines heiligen Amtes erfüllt und je Eure Aufmerksamkeit verdient, dann geschieht es heute, wo ich Euch die wichtigsten Dinge vorzutragen habe, von denen nicht die Freuden eines vergänglichen Daseins abhängen, nicht die Befriedigung eitlen Stolzes oder niederen Eigennutzes, Gebäude, die eine Laune des Glückes bald aufrichtet, bald niederreißt; sondern ich rede von einem dauernden, ewigen Gut, gegen das der Neid nichts vermag, an dem Ränke und Listen zuschanden werden, das alle Macht und Herrschaft der Erde, so weit sie auch reiche, nicht wandeln, vermindern und rauben kann.

O Gott! Verleihe gnädig meinen Worten Kraft, daß sie treffen, rühren, meiner Gemeinde zu Herzen dringen! Sei meine Zunge, die Dein Wort verkündet, gleich dem scharfen Schwerte, das die schlimmen Wurzeln der Sünde aus ihren Seelen schneidet! Gib mir, daß ich die einen durch die Bande Deines unendlichen Erbarmens fessele und die andren durch die Furcht vor den schrecklichen Strafen zu Boden schlage, mit denen Du, gerechter Gott, alle triffst, die Deine heiligen Gesetze übertreten.

Denkt daran, teure Andächtige, in jeder Stunde Eures Lebens, bevor Ihr das Geringste unternehmt, im Glück wie im Unglück, ob Ihr allein in stiller Sammlung seid oder in Gesellschaft und in weltlichen Zerstreuungen, vor allem aber in den gefährlichen und verhängnisvollen Augenblicken, da die Macht der Leidenschaften den Zügel der Vernunft zu zerreißen droht: — es ist ein Tag, da Gott kommen wird in all seiner Herrlichkeit, zu richten die Lebendigen und die Toten! Ich verkündige Euch einen heiligen, rächenden Gott, der da strafen wird die schlaffen Seelen, die ihn mißachtet oder verkannt haben, die verhärteten Herzen, die semer gespottet und ihn beleidigt haben, die betörten Sterblichen, die sich vor Strafe sicher gewähnt hinter dem Schutzwall undurchdringlichen Geheimnisses, mit dem sie die schwarzen Lasier ihrer Seele umgaben. Aber da ist kein Erbarmen! Er züchtigt den stechen Mut der Gottlosen, die seiner Macht Trotz bieten, deren Leben nichts ist als eine Kette<155> von Verbrechen, die seine Vorsehung im Taumel ihres Übermaßes an Schlechtigkeit und Verderbtheit leugnen. Ich verkündige Euch einen Gott des unendlichen Mitleids, der sich seiner Kreatur erbarmt, der die Schwachheit der Menschen kennt und ihnen ihre geringen Tugenden anrechnet, der mit unvergänglichen Gütern und ewiger Glückseligkeit unsre geringste Reue lohnt, unsre Seufzer, die zu ihm aufsteigen, unsre Unterwerfung unter die Ratschlüsse seiner Vorsehung, über die wir so oft weinen und wehklagen, solange wir in diesem Jammertal wohnen. Ich verkündige Euch einen Gott, der uns belohnt für die Barmherzigkeit, die wir unsren Mitbrüdern auf Erden erwiesen haben, für den Glauben an seine Verheißungen, die niemals trügen, für die Kraft, mit der wir den Fallstricken und Versuchungen des Bösen widerstehen. Ich verkündige Euch schließlich einen Gott, der mit dem für uns Sünder vergossenen Blute seines heiligen eingeborenen Sohnes all die Flecken und Mängel rein wäscht, die unsre Seelen vom Sündenfall der ersten Menschen ererbt haben, auf daß wir in die ewige Seligkeit eingehen zu den Heiligen, die da sitzen zur Rechten des Vaters in seiner himmlischen Herrlichkeit.

Noch nie habt Ihr etwas Wichtigeres von dieser Kanzel herab vernommen. Es kommt ein Tag, da die Taten der Menschen offenbar werden, ein Tag, da all ihr Tun und Lassen gerichtet wird, ein Tag, da irdische Macht und Größe nichts mehr gilt, da der Mensch all seines prunkenden Scheines entkleidet wird, da nicht das Ansehen seiner Freunde, nicht der Beistand seiner Macht, nicht die Achtung vor seinem großen Vermögen, nicht der trügerische Zauber seiner Beredsamkeit, — da ihn nichts vor der allmächtigen Hand seines Schöpfers und Richters rettet. Dann werden Lohn und Strafe nicht nach wunderlicher Laune und blinder Gunst, sondern einzig und allein nach den guten und schlechten Taten ausgeteilt werden. Dann wird die hienieden unglückliche oder verfolgte Tugend ihren Lohn finden und das triumphierende Lasier, das die Unschuld in seinem eitlen Wohlergehen geschmäht hat, die gerechte Strafe für seine Verbrechen erleiden.

Bewundert, o Christen, die unendliche Weisheit Eures Schöpfers! Unser Leben, die kurze, beschränkte Laufbahn, durch die uns die Zeit im Fluge dahinträgt, unser Leben, sage ich, ist nur eine Zeit der Prüfung, nur die Vorbereitung auf die Ewigkeit. Es ist kurz, damit unsre Standhaftigkeit in der Übung der Tugend nicht erschlaffe. Es ist kurz, damit wir den Bösen ihr Glück nicht neiden. Es ist kurz, damit unser Hoffen desto eher erfüllt werde, damit, wie der Apostel Paulus sagt155-1, unser Verlangen, von dem sterblichen Leibe erlöst zu werden und zu unsrem Gott und Heiland einzugehen, rascher befriedigt werde. Aber wie lang ist das Leben für die, so die Zeit der Gnade mißbrauchen und die Stimme nicht hören, die zum Volk Israel sprach: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich dich gerufen! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihrem Flügel versammelt; und<156> ihr habt nicht gewollt156-1!“ Wie lang ist der Weg für die, deren ganzes leben nur eine einzige Sünde ist!

Wo bliebe die Gerechtigkeit Gottes, meine Brüder, wenn die kalte Umarmung des Todes, die den Elementen die Atome unsres Körpers zurückgibt, den ganzen Menschen vernichtete, wenn das, was in uns lebt und denkt, wenn die tätige und lebendige Triebkraft unsres Handelns dem gleichen Schicksal verfiele wie der Stoff und, wenn ich so sagen darf, unter den gleichen Trümmern begraben würde? O Gott, wohin wäre Deine Gerechtigkeit, wenn Du, der Du die Welt geschaffen und ihr Gesetze gegeben hast, duldetest, daß die, die ihnen gehorchen, in Dürftigkeit, Verachtung und Verfolgung leben, oft in Ketten schmachten und als Bekenner Deines Namens und Deiner himmlischen Wahrheiten die grausamsten Martern erdulden muffen, wogegen es den Verleumdern und Henkern wohlergeht und sie oft auf jene höchste Stufe gestellt sind, die sie auf Erden den Göttern gleichmacht, sofern das bei der gewaltigen Kluft zwischen Gottheit und Menschheit geschehen kann? O Gott, wo wäre Deine Gerechtigkeit, wenn unzählige gute Werke, die unbekannt und verloren sind, wenn so viele Taten der Großmut, die ebenso liebend vollbracht wie bescheiden verborgen werden, nie ihren Lohn fänden, wenn so viele Verbrechen, die ebenso ruchlos voll, führt wie geschickt verhehlt werden, so viele geheime und heftige Leidenschaften, denen nur die Gelegenheit zum Ausbruch fehlte, unbestraft blieben?

Und doch, liebe Brüder, sehen wir das Tag für Tag. Das Leben der meisten Menschen ist gleichsam nur die Geschichte ihrer Missetaten. Das Glück der Verbrecher scheint das Lasier zu rechtfertigen, und wenn alles mit diesem Erdenleben zu Ende wäre, so führte der Weg der Tugend durch Dorngestrüpp nur zu Verzagtheit und Verachtung. Aber nein! Dank der Vorsehung und der Gerechtigkeit des Höchsten hat alles sein Ende, hat alles seine Schranken. Er sieht die Bösen gedeihen und lacht ihres eitlen Wohlergehens. Er hört sein Volk klagen, aber just durch sein Leiden zieht er es zu sich heran und bereitet ihm die ewige Seligkeit. Gott gibt uns hier seine Gesetze und dort unsre Freiheit. Er macht uns zum Schmied unsres Glücks, nicht allein auf dieser Welt, wo das Glück im Zeugnis unsres guten Gewissens besieht, sondern auch in jener Welt, wo uns das ewige Leben und die Gemeinschaft der Gläubigen winkt.

O Gott! Wie heilig sind Deine Gesetze und wie hehr ist ihre Erfüllung! Ich sehe einen Liebesbund zwischen dem Schöpfer und der Kreatur, ich sehe die Pflicht oder die Rückkehr zur Gerechtigkeit zwischen unsresgleichen, die zum gemeinsamen Leben bestimmt sind. Als die Pharisäer und Schriftgelehrten unsren himmlischen Erlöser fragten, worin das Gesetz und die Propheten bestünden, da antwortete er: „liebet Gott und liebet euren Nächsten.“ Darin, meine Brüder, liegen alle unsre Pflichten. Die ganze Welt, vor allem aber unser eignes Dasein mahnt uns zur Dankbarkeit gegen unsren göttlichen Wohltäter. Ja, ich wage zu sagen, die Notwendigkeit gesell<157>schaftlichen Lebens, unser eigner Vorteil lehrt uns, unsren Brüdern nichts anzutun, was wir nicht wollen, das sie uns tun.

Ist aber das Gesetz auch noch so offenbar, klar und kurz gefaßt, wieviel Mittel hat die Bosheit der Menschen doch erfunden, um seine Befolgung zu vereiteln oder Aus, nahmen zu finden! O glückliches Volk, 0 gesegnetes Volk, das in der einzigen und wahren Religion geboren ist, das von klein auf im wahren Gottesdienst, in der Übung der Pflichten erzogen ward, die der Höchste von Euch fordert und die Euch die Kirche lehrt! Welche Entschuldigung habt Ihr für die Übertretung der heiligen Gebote, die Euch so bekannt und vertraut sind? Mit welcher Stirn könnt Ihr vor Euren Schöpfer treten und wie dürft Ihr zu ihm sagen: „Uns allen ist Dein Wille bekannt, und wir alle lebten, als ob wir ihn nicht kennen?“ Wähnt nicht, die geringste Eurer Handlungen bliebe im verborgenen. Sehet den Geschäftsmann, der seinen Herrn listig hintergeht und ungestraft sein Vertrauen mißbraucht! Sehet den Wüst, ling, der die Freundschaft seines Freundes betrügerisch ausnutzt, um ungestraft Schande, Ärgernis und Unfrieden über sein Haus zu bringen! Sehet den Neidischen, der unter dem Schein von Treue und Anhänglichkeit seine Verleumdung in die schönsten Farben kleidet und unter dem Deckmantel der Tugend seinen Feind verfolgt! Ja, ich wundere mich nicht, wenn die Selbstsucht hundert Gestalten annimmt, um jene falschen Güter zu erwerben, jenes verfluchte Metall, das den Durst des Begehrlichen doch nie stillt und nur die oberflächliche, dumme Welt blendet. Ich wundere mich nicht, wenn Hof und Volt das Opfer eines Ehrgeizigen werden, dessen wilde Leidenschaft tausende von Menschenleben dem Ruhme eines einzigen Tages und dem Klang eines Namens opfert, der mit dem Rauch seiner Totenfackeln vergeht.

Doch es kommt ein Tag, da alles offenbar wird, da die geheimsten Gedanken Eurer Herzen, die Taten, die Ihr ohne Zeugen beginget, die Verbrechen, die Ihr im stillen ersannet, vor den Augen der ganzen Welt entschleiert sein werden, genau wie die Verbrechen, die am hellen lichten Tag stattfanden, da keine List und Verschlagenheit, keine Verhüllung mehr gilt, da der Mensch nackt dasteht mit all seinen natürlichen Gebrechen. Glaubt nicht, ich wollte Euch von einem unendlichen, allgegenwärtigen und allwissenden Gotte reden, der alles hört und sieht. Ich brauche mich nicht auf ihn zu berufen, meine Brüder! Ich halte mich an Euer eignes Geständnis; ich will nur in Eurem eignen Herzen forschen. Ihr Christen, wer unter Euch hätte noch nie die Stimme seines Gewissens vernommen, das sich wie ein Heiliger in seinem eignen Herzen erhebt und ihm seinen schlechten Wandel vorwirft? Wer unter Euch wäre so verderbt, daß er noch nie mit Entsetzen furchtbare Gewissensbisse über seine Misse, taten verspürt hätte? Die Stimme des Gewissens erschreckt die Schuldbeladenen, dringt in die Behausung der Großen, trotzt der Majestät des Thrones und verfolgt das Verbrechen in den Hütten der Armut so gut wie in den Palästen der Weltbeherrscher. Diese Stimme wird gegen Euch zeugen und Eure eigne Verworfenheit enthüllen an jenem großen Tage, da alles bekannt, alles offenbar wird. Wenn aber<158> Eure Sünden, Eure Flecken, Eure Lasier und Missetaten ans Licht kommen, so bedenkt, Ihr Sterblichen — jetzt, da es noch Zeit ist —, bedenkt, daß Ihr sie vor dem Richterstuhl eines erzürnten Gottes zu verantworten habt, dessen Rache unerbittlich sein wird!

O Gott! Wie groß ist Dein Erbarmen, aber wie furchtbar sind auch Deine Strafen! Aus den Anklagen unsres gequälten Gewissens erfährst Du nicht nur alle unsre Handlungen, sondern auch die verworfenen Beweggründe, aus denen wir Gutes taten. Mein Richter sieht mich an; er ist bereit, mein Urteil zu fällen; schon droht mir ewige Verdammnis. O Tag des Trostes für das Häuflein der Gerechten! O Tag der Verzweiflung für die Menge der Missetäter! Welch ein Anblick, meine Brüder! Alle Geschlechter der Erde, alle Völker, die sie seit Anbeginn der Welt bedeckten, steigen aus ihren Gräbern und treten vor den Thron des Allerhöchsten. Ihr Gott stehet sie an, ihr Gott richtet sie. Entweder werden sie in die ewige Seligkeit eingehen und Bürger des Himmels werden, oder sie werden den unreinen Geistern, den Tyrannen der Hölle überantwortet, die ihre schreckliche Freude an der ewigen Pein der Sterblichen finden, die sie verführt haben, und deren Qualen sie nun mit Wonne mehren. Da werden die Bösen, die es auf Erden gut hatten, ihr eitles Wohlergehen bereuen, das ihre Strafe verschärft. Da werden die Getreuen, die hienieden verachtet und gepeinigt wurden, sich ihres kurzen Leids freuen, das sie nun zur höchsten Seligkeit eingehen läßt. Die einen werden ihre späte Buße und ihr Beharren auf dem Wege des Verderbens beklagen, die andren ihr törichtes Hängen an der Welt und ihr völliges Vergessen des Jenseits. Andre wird es gereuen, daß sie den Warnungen ihrer Seelenhirten kein Ohr liehen, da es noch Zeit war und sie gemahnt wurden, ihre Herzen nicht zu verhärten. Wieder andre werden wehklagen, daß sie sich der Gewalt ihrer Leidenschaften überließen, die sie in den Abgrund gestürzt haben. Noch andre werden verzweifelt und untröstlich sein, daß sie einen Gott verkannten, den die ganze Natur ihnen verkündete, und daß sie die Unsterblichkeit leugneten, die ihnen nun zum Verhängnis werden soll!

Sehet, Ihr schlechten Christen, sehet, Ihr schuldbeladenen Seelen, sehet, wie der Höllenrachen sich auftut, Euch zu verschlingen! Denket daran, daß an diesem Orte der Pein und der Marter kein Erbarmen ist und daß eine unendliche Zeit, mit einem Wort, die Ewigkeit Euer Dasein endlos verlängert, um Eure Qualen unsterblich zu machen. Sehet, Ihr guten Christen, sehet, Ihr Getreuen, die Ihr des erlösenden Bluts Eures Heilands teilhaftig geworden seid, sehet, wie der Himmel sich herabsenkt, um Euch aufzunehmen! Sehet, wie der Höchste, den Ihr aufrichtig verehrtet, Euch in erneuter Liebe die Arme öffnet und Euch in den Schoß seiner Seligkeit aufnimmt. Sehet die Schar höherer Geister, die den Ruhm ihres Herrn und Euer Glück preist, daß Ihr eingegangen seid in die Gemeinschaft der Gerechten, deren ewige Glückseligkeit durch nichts mehr getrübt werden kann!

O Christen! Wären solche Gedanken Euch stets gegenwärtig, malte Cure Einbildungskraft Euch dies alles in den lebhaftesten Farben aus, — wie könntet Ihr<159> dann in diesen Tagen, da Ihr die Gnade noch zu erlangen vermöget, in diesen Zeiten der Prüfung so große Güter mißachten? Welcher menschliche Geist ist so leichtfertig und seicht, daß er den Unterschied zwischen vergänglichem und ewigem Glück nicht ermessen könnte? Wenn in nächtlicher Finsternis eine Feuersbrunst in unsren Städten ausbricht und der Sturm die geftäßigen Flammen rasch weitertreibt, wenn die rasende Glut rasch von einem Stadtviertel zum andren überspringt und Häuser und Gebäude einstürzen, wer unter Euch dankte dann nicht dem Unbekannten, der ihn weckte und zu ihm spräche: „Das Nachbarhaus brennt. Rette dich, solange es noch Zeit ist, oder die Flammen werden deine Wohnung ergreifen und du wirst vielleicht in ihnen umkommen, bevor du Zeit zum Entrinnen hast.“ Würdet Ihr nicht flugs Eure Wohnung verlassen und Euer Kostbarstes mitnehmen? Ach! Ihr schlaffen Christen, die Ihr Euren Geist an den toten Stoff hängt, die Ihr Euch an irdischen und vergänglichen Dingen genügen laßt: — wenn schon die Furcht, Eure Habe zu verlieren, wenn schon das Verlangen, ein Leben zu retten, das dem Tode verfallen ist und bleibt, Euch so viel Tatkraft verleiht, wenn Ihr dem, der Euch aus der dräuenden Gefahr riß, Dank wißt, — was sollt Ihr dann erst tun, wenn ich Euch von dieser Kanzel verkünde, nicht daß Euer Haus brennt noch daß Euer Leben gefährdet ist, wohl aber, daß Ihr ewig brennen werdet und daß Ihr Euch in ewiges Unglück stürzt, daß die Gefahr, die Euch droht, Euch in jedem Augenblick verschlingen kann? Rettet Euch, nicht aus diesem steinernen Hause, das Euch beherbergt, wohl aber aus den Sünden, die Euch in harter Knechtschaft halten! Rettet Euch aus dieser Welt des Verderbens, in die Euch lasterhafte Gewohnheiten und schlechtes Beispiel ziehen! Rettet Euch aus den Klauen des Bösen, der Euch knebeln und dem Verderben überantworten mill! Noch ist es Zeit. Aber vielleicht schon vor Ablauf des Jahres, wohl gar schon vor Schluß dieser Woche, ja was sage ich, vielleicht noch vor Ende dieses Tages wird der Tod, der über Eurem Haupte hängt, auf Euch niederfallen. Erhofft Euch keine Gnade von schwacher und später Buße! Wähnt nicht, die Zerknirschung, die Euch die Furcht abpreßt oder die Ihr dem Brauche bewilligt, genüge, um Eure Schlechtigkeit auszulöschen! Wißt Ihr denn, in welcher Gestalt der Tod Euch nahen wird? Wer sieht Euch dafür, ob Euer Geist in der Todesstunde nicht verwirrt oder völlig entschwunden sein wird, ob Ihr dann noch die Zeit habt, Euch mit dem Höchsten zu versöhnen, den Ihr zeitlebens so halsstarrig gekränkt habt? Welcher Gefahr setzest Du Dich aus, Du törichter Sterblicher! Wie kannst Du es wagen, für die vergänglichen Freuden oder die gewohnten Lasier eines vergänglichen Lebens das ewige Glück Deiner unsterblichen Seele preiszugeben? Wie kann Dich das Böse derart verblenden, daß Du Deinen wahren, dauernden VorteU nicht erkennst? Spricht man Dir von Dingen dieser Welt, die Dir naheliegen, dann scheint Deine Vernunft sich zu erhellen. Spricht man Dir aber von den himmlischen Dingen, die Dein Schicksal für ewig besiegeln, so scheint Dein Verstand Dich zu verlassen und in Stumpfheit und Taumel herabzusinken.

<160>

O Gott, wenn ich oft mit demütigem Flehen dem Schemel Deines Thrones nahte, wenn ich oft Dein himmlisches Erbarmen auf die Herde herabflehte,die Du mir anvertraut hast, wenn ich Dir auf Deinen heiligen Altären zu ihrem Helle so oft das Opfer des Lammes darbrachte, das sein Blut für unsre Sünden vergossen hat, so erhöre mich heute gnädig und gewähre mir die Erlösung aller dieser Andächtigen. Wenn Du einst Moses den Stab gabest, der lebendiges Wasser aus dem dürren Felsen schlug, so gib auch meinen Worten das wirksame Manna, daß sie diese steinernen Herzen, diese verstockten Sünder rühren und ihren Augen Tränen der Reue entlocken, daß die Lauen warm werden, die Schwachen Kraft erlangen, die Guten im Gehorsam gegen Deine Gebote bestärkt werden! Möge Deine Liebe alle Herzen erfüllen und sie zu guten Werken begeistern! Könnte ich doch zu meinem HeUand sprechen: „O Herr, wenn ich an dieser heiligen Stätte so oft das Opfer Deines Leibes und Deines göttlichen Blutes dar, brachte, siehe, diese habe ich um solchen köstlichen Preis erlöst!“ Möchte ich zu Dir sprechen können: „O mein Gott, siehe, hier bin ich mit allen, die Du mir anvertraut hast!“

Teure Gemeinde! Betet mit mir und erweichen wir mit vereinter Kraft unsren Gott, der seine Geschöpfe liebt, der den Tod des Sünders nicht will, sondern daß er Buße tue160-1, der nie unerbittlich ist, wenn wir ihn voller Zerknirschung und schmerzlicher Reue über unsre Missetaten aus tiefstem Herzen anstehen.

O Gott! HeUige unser Leben, auf daß uns allen das unaussprechliche Glück Deiner Seligen zuteU werde. Ruhm und Preis sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste von nun an bis in Ewigkeit! Amen!

<161>

Das himmlische Jerusalem
Ein Schwank für Voltaire
(1770)161-1

Und ich hatte Plato gelesen, und ich verstand nichts davon, und zur Kurzweil las ich einen Mathematiker, und ich sank in tiefen Schlaf, und ein Geist erschien mir und sprach zu mir: „Erhebe deine Seele!“ Und ich fragte ihn: „Habe ich eine?“ Und er antwortete: „Tu, als hättest du eine.“ Und ich erhob mich, und mich deuchte, Dinge zu sehen, die noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und kein Geist sich erdacht hat.

Als meine Verzückung wich, erblickte ich eine große Stadt. Die war, wie mich deuchte, mit Menschen bevölkert, die aus der Drachensaat des Kadmus entsprossen waren; denn sie verfolgten sich alle. Und ich fragte nach dem Namen der Stadt. Und sie antworteten mir, getauft ist sie Aon, aber eigentlich heißt sie die Verruchte161-2.

Und der Stoff, daraus sie gebaut war, glich mitnichten dem, daraus wir unsre Städte errichten. Und ich fragte den Geist: „Was ist das?“ Und der Irrwisch antwortete: „Die Grundmauern bestehen aus Hirngespinsten, der Kitt aus Wundern, diese Quadersteine stammen aus dem Steinbruch des Fegefeuers und jene glänzenderen aus den Ablässen.“ Ich, der ich nichts von diesem Kauderwelsch verstand, betrachtete den Bau der Stadt. Sie war befestigt, wie es im Altertum Brauch war, etwa so, wie man Babel darstellt. Ringsum liefen starke und hohe Mauern mit vorspringenden Türmen, die hießen: Turm der Dummheit, Turm der Vorurteile, Turm des Aberglaubens, Turm des Fanatismus und schließlich Turm des Teufels. Der sollte der größte sein.

Und ich fragte: „Wozu dient das alles?“ Und der Geist antwortete: „Das sind Sinnbilder.“ — „Und was sind Sinnbilder?“ fragte ich weiter. Der Kobold erwiderte: „Dinge, von denen du nichts verstehen kannst. Du bist in dem Lande, da die Einbildungskraft alles vermag, und es gibt einträgliche Einbildungen.“

<162>

Da zerteilte sich eine Wolke vor meinen Blicken, und ich sah alles, was je war, ist und sein wird. Die Stadt schien mir voller Aufruhr. Ströme von Blut flossen, und jeder Aufstand endigte mit Vertreibung etlicher Familien. Der Geist nannte mir die Namen der Verbannten. Die einen hießen Nestorianer, die andren Arianer, wieder andre Manichäer. Bei diesen einschläfernden Namen fielen mir die Augen zu. „Aber warum vertreibt man sie denn?“ fragte ich. — „Sie sehen nicht wie die übrigen, sondern anders.“ — „Sehen sie besser?“ fragte ich. — „Nein,“ erwiderte der Geist, „sie sind schielend, einäugig oder blind. Aber auf andre Weise als die Einwohner der Verruchten.“

Da erblickte ich Kriegsleute mit verbrämten Mützen; sie waren gerüstet und gewappnet mit Argumenten und zogen Ballisten und Katapulte hinter sich her. Die hießen in barbara, dario, celarent und in ferio162-1. Und ich fragte: „Was ist das?“ Und der Geist antwortete: „Große Kämpfe stehen bevor. O Verruchte, wieviel Feinde hast du! Du verdienst sie! Die auf dich eindringen, sind die Vorposten der Vernunft. Sie haben kein Heer hinter sich, sie werden nur gegen dich plänkeln, und du wirst sie verdammen! Siehst du jenen Helden? Das ist Gottschalk162-2. Du wirst sehen, wie sie ihn behandeln. Der dort nennt sich Valla162-3. Dies ist Berengar162-4, der dort ist Waldus162-5; er reißt eine kleine Bresche in die Mauer. Der dort, der stolzer Gekleidete, das ist der berühmte De Vinea162-6. Ihn wird man fälschlich beschuldigen, Pfeile geschossen zu haben. Der dort heißt Gerson162-7 und wird seine Tapferkeit beweisen. Dies ist der berühmte Sarpi, auch Fra Paolo genannt162-8, der Feind der Herrschaft und des Herrschers der Verruchten. Siehst du, wie er sie angreift?“ Nachdem das Geplänkel vorüber war, sah ich Scheiterhaufen errichten, und ich wandte den Blick ab; denn die Verruchte hatte eine starke Prätorianergarde von Henkersknechten; und wer die Gewalt in Händen hat, der besitzt von jeher und bis an das Ende der Zeiten eins der bündigsten Argumente, um recht zu behalten.

Da kam ein andrer Held daher. „Oh, den glaube ich zu kennen“, sprach ich. „Ich sah ihn in Rotterdam. Ist's nicht Erasmus?“ — „Ganz recht“, antwortete der Geist. „Doch er plänkelt nur in der frommen Vorstadt der Pediculosi162-9. Man schont ihn;<163> denn er könnte sich mit Stärkeren verbünden, und er weiß im Innern der Feste zu gut Bescheid.“

Dann aber deuchte mich, als rückte ein ganzes Heer gegen die Verruchte an. Ich war erstaunt ob seiner Stärke und fragte nach dem Namen des Volkes. Der Geist antwortete: „Es sind mehrere Völker. Die einen nennen sich Waldenser, die andren Wycliffiten, wieder andre Taboriten163-1. Das da sind die Utraquisten163-2, und die letzten sind die Socinianer163-3 und Anabaptisten163-4 und alle Isten der Welt.“ — „Wie?“ rief ich, „diese Leute wollen Krieg führen? Haben sie denn die Enzyklopädie und die Enzyklopädisten nicht gelesen?“163-5 — „Ihre Werke“, erwiderte der Geist, „waren damals noch nicht geschrieben. Aber die Enzyklopädisten kommen auch noch dran. Gedulde dich nur, und du wirst sie kämpfen sehen.“ Indes nahm die Belagerung ihren Anfang. Das Blut stoß in großen Strömen, und die Vorstädte wurden erobert. Es war ein entsetzliches Gemetzel. Eine finstre, wilde Wut beseelte die Kämpfer. Sie schlugen sich im Dunkeln herum, doch die Stadt ward nicht erobert.

Die Belagerung ward aufgehoben, und abermals erschien ein Schwarm von Plänklern. Sie waren unverwundbar und von unbezwinglicher Kraft. „Der eine“, sagte der Geist, „heißt Galilei, der Sonnenritter. Er will, daß die Erde sich dreht, aber die Verruchte will sich nicht drehen. Der andre da ist der Ritter Gassendi163-6. Er möchte, daß die Verruchte ihren Unrat ausräumt, aber die Verruchte liebt ihren Unrat. Der wackre Kämpe, der nach ihm kommt, das ist Bayle, der Ritter Pyrrhons163-7, ein großer Ingenieur. Er würde die Stadt wohl erobern, wenn er Truppen hätte. Toland163-8 und Woolsion163-9 sind seine Knappen.“ — „Und warum“, fragte ich, „hat er keine Truppen?“ — „Weil er nicht das rechte Geld hat, um sie zu besolden“, antwortete der Geist. — „Und welches Geld ist das?“ — „Es sind Guineen, die mit dem Stempel des gesunden Menschenverstandes geprägt sind. Das Publikum kennt diese Münze nicht. Sie hat weder in Paris, noch in Madrid, noch in Genua, noch in Rom, Wien usw. Kurs und Geltung.“ — „Trotzdem“, versetzte ich, „gehen diese Leute geschickt mit ihrem Sturmbock um. Würden sie unterstützt, so wäre es um die Verruchte geschehen.“ Gleichwohl leistete die Mauer Widerstand. Die Einwohner und der Despot spotteten dieses Krieges. Das tonsurierte Volk schrie, die Prätorianer wetzten ihre Messer, und die Kämpfer verschwanden.

Dann folgte eine neue Szene. Ein lichtstrahlender Ritter in funkelnder Rüstung erschien am Horizont. Die Leute liefen auf seinen Ruf herbei. Die aus der Stadt entwichen und kamen zu ihm, und bald hatte er ein Heer beisammen. „Was ist das?“ fragte ich. „Welcher Wundermann tritt mir vor Augen?“ — „Ein himmlischer Geist<164> gleich mir,“ antwortete der Kobold, „und ein größerer Kriegsmann als Alexander, Cäsar, Dschingiskhan und Mohammed. Er wird sie alle durch seine Eroberungen übertreffen; denn man erobert leichter Persien, das Reich des Großmoguls und das Römische Reich als die Verruchte. Zur Besoldung seiner Truppen hat er das Geld seiner Vorgänger umgeprägt. Er hat die Legierung des guten Witzes und das Salz des Epigramms hinzugesetzt, und er bringt viele Truppen auf; denn jedermann will lachen, und nur wenige verstehen sich aufs Denken.“ Und das Heer rückte vor die Stadt, und ich sah eine große Belagerungsmaschine, von den Enzyklopädisten gezogen. Die rückte gegen die Mauer, und ich fragte, wie sie hieße, und der dienstfertige Geist erklärte es mir. „Sie heißt Helepolis164-1,“ sagte er. — „Ach, die kenne ich“, rief ich. „Sie diente in der Diadochenzeit zur Belagerung von Seleukia.“ — „So ist es“, nickte der Geist. Und ich sah, wie sie sich bewegte. Sie stieß mit wunderbarer Kraft gegen die Mauer, also daß ein Teil davon einstürzte. Und der Krieg war unblutig, und alle Welt lachte, und ich lachte mit.

Da plötzlich — o welch ein Schauspiel! Die Haare stehen mir noch zu Berge, wenn ich daran denke! — fliegen zwei Ungeheuer aus der Verruchten auf, schwingen sich empor, schweben über der Stadt und verbreiten Finsternis. Das eine war männlichen, das andre weiblichen Geschlechts. Sie hatten riesige Fledermausflügel, scheußliche Leiber und rote, funkelnde Augen. Wut und Raserei standen auf ihrer Stirn. Das eine schwang brennende Fackeln, das andre hatte die Hände und den Gürtel voller Dolche. Und sie schrieen mit furchtbarer Stimme: „Es ist aus! Wir entfleuchen! Dies ist dein letzter Tag, unselige, bejammernswerte Stadt! Du siegst, Held des Lichtes! Fanatismus und Unduldsamkeit kehren in die höllische Finsternis heim. Lebe wohl, Verruchte, lebe wohl für immer!“ Schatten umhüllte sie, und sie verschwanden gleich einer sich zerteilenden Wolke.

Eine Welle blieb ich verblüfft und verzückt stehen, so verwundert war ich. Der Geist beruhigte mich und brachte mich wieder zu mir, und ich sah: zur Verteidigung der Stadt blieben nur noch alte, abgelebte Weiblein und der ärgste Pöbel zurück. Die Türme der Dummheit und des Teufels standen zwar noch, aber die gelockerten Steine fielen allenthalben herab, und ein Stoß der siegreichen Helepolis hätte alle Bollwerke in Trümmer gelegt. Und ich war voll Bewunderung und fragte den Geist: „Wer ist der Held, der solche Wunder vollbringt?“ — „Der Held, der deine Bewunderung so sehr verdient,“ gab er zur Antwort, „heißt François Marie Arouet de Voltaire. Hätte er noch mehr Namen, er würde sie alle unsterblich machen.“

Das bewegte mich tief, und mein Geist war verwirrt und betroffen. Und ich erwachte und schrieb meinen Traum nieder und sandte ihn nach der Schweiz.

<165>

Traum
(1777)165-1

Ich hatte einige Tage hintereinander in Gesellschaft liebenswürdiger Leute verbracht. Darunter befanden sich auch einige von reger Einbildungskraft. Ihr Feuer hatte sich meinem Geiste mitgeteilt, und meine Seele geriet in Verzückung. Die Unterhaltung riß uns fort, und wir plauderten die Nächte durch. Als ich gestern heimkehrte, war mein Geist noch voll von allem, was tagsüber diskutiert worden war. Mein Blut war erhitzt, eine Fülle von Gegenständen drängte heran. In diesem Zustande, wo alle meine Geister mir zu Kopfe stiegen, legte ich mich zur Ruhe und hatte folgenden Traum.

Mich deuchte, ich sei in einer ungeheuren Ebene, die gewaltige Volksmassen bedeckten. Es war, als hätten sich alle Völker des Erdkreises dort ein Stelldichein gegeben. Bei näherem Zusehen gewahrte ich jedoch, daß die Menge sich um verschiebdene Bühnen scharte, auf denen Quacksalber mit ihren Hanswürsten ihre Mittel anpriesen. Jeder von ihnen wollte möglichst viele an sich locken. Die Neugier reizte mich, an die nächste Bühne zu treten. Ein langbärtiger Mensch mit Bocksgesicht stand dort und rief das Volk mit schallender Stimme herbei. „Kommt zu mir“, so sprach er. „Ich besitze die Geheimnisse der urältesten Heilkunst und die unbekanntesten Zauber. Ich lasse die Berge wie Ziegen springen und die Ziegen wie Berge. Ich kann Sonne und Mond in ihrem Laufe aufhalten165-2. Die Fluten teilen sich auf mein Gebot und geben freie Bahn165-3. Ich verwandle Wasser in Blut165-4. Mit meinem Zauberstab mache ich Schlangen165-5. Vor allem aber bin ich Meister in dem wunderbaren Geheimnis, Läuse zu machen165-6. Wer unter Euch an meinen schönen Kenntnissen teil haben will, der braucht es nur zu sagen. Ich schneide ihm ein Stückchen Haut ab, und er wird sein wie ich.“

Alsbald bringen die Weiber ihm ihre Kinder, und jede drängt sich, die erste zu sein, deren Knabe beschnitten würde. Diese Zeremonie rief bei mir mehr Ekel als<166> Erbauung hervor, trotzdem war jedermann zufrieden. Sein Hanswurst mit Namen Ezechiel war nackt und bloß wie ein Affe und hatte einen Buckel wie ein Packsattel. Alles Volk lachte, da er eine Brotschnitte aß, deren Gestank die ganze Versammlung verpestete166-1. Wie der Hanswurst behauptete, stärkte diese Nahrung die Augen und gab ihnen die Kraft, in die Zukunft zu blicken. Doch es wollte niemand an seinem Frühstück teilnehmen.

Sein Nachbar war ein Quacksalber von andrem Schlage. Er schrie aus Leibeskräften: „Flieht jenen Kurpfuscher, der Euch betrügt. Verlaßt ihn und kommt zu mir. Ich allein bin unfehlbar. Meine Heilmittel haben genügende Kraft und Wirkung. Die Substanzen verschwinden beim Schall meiner Stimme, wiewohl die Akzidenzien bleiben166-2. Nach meiner Rechnung ist drei gleich eins, das ist offenbar. Wenn mein Nachbar Euch zwickt und schneidet, ich besprenge Euch nur mit Wasser und zapfe Eure Börsen an. Nichts ist ungesunder, nichts verderblicher als eine volle Börse. Bei mir könnt Ihr Heilmittel gegen die gefährlichsten Krankheiten kaufen, zum Beispiel gegen das Leiden des Fegefeuers. Ich habe Säcklein voller Knochen gegen den panischen Schrecken und Ablaßelixiere gegen die Heftigsien und schrecklichsten Übel.“

Sein Spaßmacher war ein Tölpel, der sich zur KurzweU des Volkes starke Stockschläge auf die Brust geben ließ. Er hieß Augustin, umtanzte humpelnd ein Grab und trieb allerlei Mummenschanz, der dem Volke wohlgefiel, mir aber höchst gemein dünkte. Gleichwohl bemerkte ich mit Erstaunen, wie vor jener Bühne die Börsen der Zuschauer sich leerten und die des Quacksalbers sich zum Platzen füllte. Diese Leute lebten nur in der Einbildung, in künftigen Zeiten, und brüsieten sich im voraus mit der Gesundheit, deren sie sich nach Jahrhunderten erfreuen würden.

Meine Neugier zog mich sogleich zu einer andren Bude, deren Quacksalber, ein Bursch mit finstrer, mürrischer Miene, unbarmherzig über seinen Nachbar Herzog. „Glaubt nicht, was der verfluchte Gaukler Euch weismacht!“ schrie er. „Hütet Euch, diesem Schurken zu nahen. Er verdirbt und zerstört die alte Heiltunsi. Ich besitze sie noch; nicht sub una, sondern sub utraque166-3. Wir haben eine prächtige Arznei, die aus sub, in und cum besteht, eine andre aus sechs Gran Fatalismus und zwei Gran Freiheit, die wir von dem großen Alchimisten Calvin haben166-4. Gleichwohl besitzt der<167> Zwieback167-1 wirksame Kraft; wir geben ihn für das, was er ist167-2. O treffliches Allheilmittel! O, welche Wunderkuren hat er schon vollbracht! Wir lassen Wesen existieren, ohne daß sie sich an einem Orte befinden. Damit aber all diese Mittel den gewünschten Erfolg haben, müssen die Kranken ihre Seele erheben und ihr ganzes Vertrauen in unsre Arzneien setzen.“

Da unterbrach ihn sein Hanswurst, der ihm über die Schulter blickte. „Glaubt nicht alles, was er sagt, Ihr Herren“, sprach er. „Traut Ihr auch nur der Hälfte seiner Reden, so könnt Ihr Euch immer noch den Magen verderben und Euch an Abgeschmacktheiten übernehmen.“ Bei diesen Worten drehte sich der Quacksalber wütend um und schlug ihn gewaltig. „Seht Ihr,“ sprach der Possenreißer, „er hat unrecht; denn er wird böse. Lieber Meister,“ fuhr er fort, „ehrt Socinchen167-3 (so hieß er selbst), oder er wird sich eines Tages Eurer Bühne bemächtigen und Euch davonjagen.“ Großes Gelächter erscholl ob dieser Hanswurstiade.

Ich verließ jene Schar und ging zu einem Burschen, der auf seiner Bühne Fratzen schnitt, bei denen sich eine Schwangere entsetzen konnte. Er zitterte. Auch zitterten alle, die um ihn standen167-4. Darob erstaunte ich und fragte einen aus dem Volke, warum sie alle zitterten und warum sie nach Herzenslust so seltsame Faxen trieben. „Das geschieht,“ sagte jener, „um den Körper geschmeidiger zu machen. Ihr wißt zweifellos, daß im neuen sächsischen Exerzierreglement ein ähnlicher Brauch eingeführt ist167-5. Sie schlagen Rad mit den Armen und wiegen sich abwechselnd auf einem Beine. Das erhält den Körper beweglich und die Glieder behende; nichts ist so gesund.“ Alsbald begann der Quacksalber zu schnauben. Dann gab er uns teils näselnd, teils mit Kehllauten unverständliches Zeug zum besten. Die Zuhörer vergingen vor Wonne, klatschten in die Hände und riefen Bravo. Ich aber hatte genug davon und verließ den Begeisterten.

Dann trat ich an eine andre Bühne, aber ich gewann bei dem Wechsel nichts. Der Mann salbaderte über das fleckenlose Lamm, das sich ebenso selten fände wie der Apisstier167-6. Wer je von diesem Lamm koste, so sprach er, der werde geheilt vom Reichtum, der die wahre Quelle aller Krankheiten sei. Und barmherzig nahm er seinen Begeisterten alles ab und eignete es sich selbst an. „Denn“, so sprach er, „ich ziehe Eure Gesundheit der eignen vor, ich opfre mich als Sündenbock für das Heil meiner verehrten Zuhörer.“ Ich, der diesen Taschenspielerkunststücken mit ruhigem Blick zusah, merkte wohl, wie der Schelm mit seinem fleckenlosen Lamm den Reichtum all der Dummköpfe gewann, die den Betrug in ihrer Unwissenheit garnicht merkten.

<168>

Am andren Ende des Platzes tauchte ein Mann mit einem großen Turban auf. Er war ein Quacksalber wie die andren und heilte seine Kranken durch das Mittel des „schmalen Steges“168-1, durch häufige Bäder und durch Fasten, die er ihnen verschrieb. Den barmherzigen Seelen, die Hunde und Katzen fütterten, versprach er schöne Houris168-2. Der Fatalismus spielte bei all seinen Heilmitteln eine Rolle, und seine Zuhörer waren in einem Zustande der Erschlaffung, als hätten sie eine zu große Dosis Opium genommen. Sein Hanswurst nannte sich Derwisch. Seine ganze Darbietung bestand darin, daß er sich unaufhörlich auf demselben Fleck im Kreise drehte, bis er schließlich ganz von Sinnen und leblos umfiel168-3, und jedermann klatschte ihm Beifall. Dies Schauspiel stieß mich durch seine Wildheit ab. Ich verließ die Bühne und näherte mich einer andren.

Dort stand ein Wesen, das nichts Menschlichem glich. Es hatte kleine Schlitzaugen, einen Katzenbart am Kinn und eine wie mit Absicht plattgedrückte Nase. Ich dachte bei mir, man solle gegen kein Gesicht Vorurteile hegen, und in diesem Kopfe könne gesunder Menschenverstand wohnen, so gut wie in einem andren. Aber mein Mann enttäuschte mich sehr bald. Er verteilte Nägel an das Volk, um sie sich in den Hintern zu stoßen168-4. Er behauptete, das zöge die Krankheit in diesen KörperteU und entlastete die andren. Ja, er versicherte mit beispielloser Unverfrorenheit: wer nach seinem Tode nicht ein Truthahn noch ein Postpferd werden wolle, der müsse Kopf, Arme und Füße in eine Art von Marterholz stecken, das alle Glieder des Patienten zusammenschnürte. Das Volk gehorchte ihm stumpf. Ich sah an die fünfzig vernagelte Hintere und eine Unmenge von Zuhörern, die spannten ihre Leiber in das Joch, das der Quacksalber ihnen auflegte. Ein unflätiger Spaßmacher, der bei ihm stand, ließ sich von den Weibern ein Glied küssen, das sonst zu andren Dingen gebraucht wird, und der blöde Pöbel klatschte bei all diesen abstoßenden Gemeinheiten stumpfsinnig Beifall.

Ich fände kein Ende, wollte ich die Zahl der Schelme und Verbrecher beschreiben, die sich ihr Brot durch Mißbrauch der Leichtgläubigkeit des Volkes verdienten. Genug, daß sie alle darin einig waren, sich untereinander zu hassen und zu beschimpfen und Abgeschmacktheiten zum besten zu geben, die hinter den plumpsten Ammenmärchen nicht zurückblieben.

Unter diesem großen Schwarm der Betrogenen fand ich ein paar denkende Köpfe, die nur dabei waren, um festzustellen, wie weit die Torheit der Menschen gehen kann. Ich sprach sie an und fragte sie, was sie von alledem hielten. „Ach!“ sagte einer von ihnen, „es erbarmt uns der armen Menschheit! Der gemeine Verstand ist bei ihr nicht so allgemein, wie man annehmen sollte. Die große Menge der Dummen bringt Betrüger hervor. Wir begnügen uns damit, weder zu diesen noch zu jenen zu gehören und nie etwas zu glauben, was unser Verstand verwirft.“

<169>

Diese Worte reizten mich, Fragen an die begeisterten Zuhörer der Quacksalber zu stellen, um ihre Denkweise zu erfahren. Ich nahm mir gleich einen beiseite und fragte ihn, ob er Leute kenne, die durch ihre Arzneien gehellt worden seien. „Nein“, entgegnete er. „Ihre Wirkung tritt erst nach achtzig oder hundert Jahren, ja nach mehreren Jahrhunderten ein.“ Seine Dummheit trieb mir das Blut ins Gesicht. „Geh!“ sprach ich. „Du verdienst, betrogen zu werden; denn Du willst es selber! Wenn Ihr von Eurer Vernunft Gebrauch machtet, gäbe es keine Quacksalber mehr auf der Welt.“

Ich wollte fortfahren, doch mein Blut war in solche Wallung geraten, daß ich jählings erwachte. Ich wußte nicht, ob alle jene Traumbilder Wahn oder Wahrheit waren. Doch wie ich mir die Augen rieb, erwachte ich völlig und begriff, daß ich schlecht geträumt hatte. Aber ich wandte mich weder an Josef noch an Daniel169-1, um eine Erklärung für meinen Traum zu finden. Ich verscheuchte aus meinem Geiste alle diese für die Menschheit so demütigenden Bilder, die mich tief verletzten. Zufällig fand ich in einem Winkel das Buch der Weisheit, das dem Salomo zugeschrieben wird, und vergaß alles andre über den Worten: „Freue Dich, und benutze die Zeit zum Genießen; denn Du weißt nicht, ob Du es morgen noch kannst.“169-2

<170><171>

III. Satiren

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Lobrede auf den Schustermeister Jakob Mathias Reinhart173-1
Gehalten im 13. Monat des Jahres 2899 in der Stadt der Einbildung von Peter Mörser, Diakonus der Domkirche
Gedruckt mit Genehmigung des Herrn Erzbischofs von Mutterwitz

Approbation der Herren Bouciat und Belarmes, Lizentiaten der Theologie und Bücherzensoren des Herrn Erzbischofs von Mutterwitz.

Auf Befehl Seiner Hochwürden des Herrn Erzbischofs haben wir die „Lobrede auf I. M. Reinhart“ vom Diakonus Mörser geprüft und darin nichts gefunden, was den Volksmeinungen und den überkommenen Vorurteilen entspricht. Wir erkennen darin somit keine Wahrheit, die die wohlverdiente Drucklegung verböte.

Gegeben zu Philadelphia, I. Oktober 1759

Bouciat. Belarmes.



Verehrte Leidtragende!

n diesem Tag der Trauer und der Tranen, inmitten dieses Leichenpompes, der uns umgibt, vor diesem Grabe und dieser erloschenen Asche will ich nicht von menschlicher Größe reden, noch vom Dahinschwinden aller Eitelkeiten, noch von der Vergänglichkeit der Welt. Im Schicksal eines Einzigen will ich Euch das Los aller Menschen zeigen, will Euch lehren, gut zu leben, damit Ihr gut sterben lernt. Vor<174> den Augen dessen, der durch ein Wort die Welt aus dem Nichts hob, der durch einen Akt seines Willens das Wasser von der Erde und das Licht von der Finsternis schied und Menschen und Tiere schuf, — vor den Augen dieses höchsten, allmächtigen Wesens, meine Brüder, sind alle Menschen gleich. Güter, Würden, Ehren, alles, was sie in diesem Erdenleben unterscheidet, bilden keinen Unterschied vor Dem, der uns alle gleich geschaffen hat. Aus seiner Schöpferhand ging der Bauer wie der König hervor. Alle Stände, von der Schnürsohle des Mönchs bis zur Papstkrone,vom Zepter bis zum Schäferstab, macht der Tod gleich. Sie sind vor Gott allzumal Sünder und bedürfen seines Erbarmens. Nicht Ämter und Würden, sondern die Tugend unsres Wandels bestimmt unser Schicksal nach dem Tode. Erwartet von mir also nichts, was dem Stolz oder Ehrgeiz durch Schilderung weltlicher Eitelkeiten schmeichelt. Im Gegenteil! Ich will Euch beweisen, daß man durch Mäßigkeit auch in Armut reich, durch wackern Mut unverzagt in der Arbeit, daß man dem Vaterland durch seine Verdienste auch ohne Amt nützlich und ohne Glücksgüter groß durch seine Tugend sein kann. Möge man die Götzen beweihräuchern, die nur von Lobreden leben; mögen feile Zungen sich durch Niedertracht den Weg zum Erfolg bahnen; möge man die Namen der Großen dieser Welt feiern, die Vergessenheit verdienten, und sie ehren, nur weil sie mächtig sind! Ich für mein Teil beschränke mich darauf, den Herzenseigenschaften, den Bürgertugenden, der Pflichttreue und dem christlichen Wandel gebührendes Lob zu spenden. Weit von dieser Kanzel weise ich die arglistige Geschicklichkeit der Betrüger, die die Wahrheit durch allerlei Schönfärberei verhüllen, weil sie sie nicht zu offenbaren wagen. Weit von mir weise ich jene Kunstgriffe, mit denen man die Mißgestalt verdeckt, die man offen zu zeigen fürchtet! Ich habe nicht von einem Manne zu reden, der nur zum Genuß auf der Welt zu sein glaubte, der seine Pflichten aus Trägheit versäumte, seine Freunde aus Fühllosigkeit und sein Vaterland aus Selbstsucht vernachlässigte, sondern von einem Bürger, dessen stets gleichmäßige Seele ohne Wanken auf dem Wege der Tugend fortschritt. Eine lautere, aller Kunst und Schmeichelei bare Huldigung bringe ich dem Andenken des Herrn Jakob Mathias Reinhart, Schustermeisiers dieser Stadt, dar.

Verscheucht, meine Brüder, die nichtigen und so ungerechten Vorurteile, die Ausgeburten der Weichlichkeit und des Stolzes, die vorgefaßten Meinungen von Adel, Rang und Größe, derenthalben man alles verachtet, was in den Augen der Welt nicht glänzend ist, und Geringschätzung für die hegt, deren Herkunft nicht durch berühmte Namen und eine Reihe großer Männer ausgezeichnet ist. Bedenkt, daß die Tugend nicht sowohl in den Palästen der Reichen als in den Hütten der Armen zu Hause ist. Möge Eure Vernunft über die Trugbilder der Gewohnheit siegen. Möge Euer kluger und gelehriger Geist mehr nach Tatsachen, als nach Namen urteilen!

Ich brauche nicht in trocknen, verstaubten Chroniken zu stöbern, um Euch zu sagen, wer Mathias Reinharts Familie und Voreltern waren. Genug, wenn Ihr wißt, daß er von rechtschaffnen Eltern stammte. Sorgfältig pflegten sie die glückliche Anlage,<175> die sie bei ihm fanden, gaben ihm eine schlichte, aber tugendhafte Erziehung und flößten ihm neben der Pflichttreue auch die Liebe zum Vaterland ein. Er vergalt ihnen ihre Mühe und Zärtlichkeit durch Gehorsam, Fleiß und vor allem durch einen unwillkürlichen Hang zu allem, was ehrbar und löblich ist. Von ihnen lernte er das Handwerk, in dem er später ein Meister ward. Wer immer seinesgleichen durch seine Talente überragt, ist ein großer Mann. Ein großer Mann aber braucht keine Vorfahren, und in diesem Sinne kann man ihn wie Melchisedek ansehen, der weder Vater noch Mutter besaß175-1. Warum sollten wir gegen unsre Landsleute ungerechter sein als gegen die Alten, die nicht mehr leben? Sokrates und Plato sind berühmt, und doch kennt niemand ihre Herkunft. Homer, der Vater der Dichtkunst, den die Bewunderung der Nachwelt fast zum Gotte erhob, bettelte um Almosen in den Städten, die sich nach seinem Tode darum stritten, welche von ihnen seine Vaterstadt war. Fürwahr, ist es nicht schöner, sich selbst einen Namen zu machen, als ihn bloß zu ererben? Haben jene adelssiolzen Geschlechter nicht auch einen Anfang gehabt? Sie sind sämtlich aus dem Volke emporgestiegen. Irgend ein Mann von hervorragendem Verdienst trat aus dem ihn umgebenden Dunkel hervor und bahnte sich den Weg zu Ehren und Würden. Die erworbenen Titel gingen auf die Nachkommen über, nicht aber das Verdienst dessen, der sie erwarb. Prüft man, was der Eigenliebe am meisten schmeichelt, so ist es gewiß, daß Der, dessen Glanz auf seine Nachkommen zurückstrahlt, größer ist als Die, die diesen Glanz von ihm erborgen. Der, um den wir trauern, meine Brüder, verdankt seinen Namen allein sich selbst. Er machte ihn berühmt durch seine Talente, schätzbar durch seine Tugenden. Verwerfen wir die falschen Begriffe von Adel und Bürgertum und betrachten wir das Leben eines armen, aber fleißigen und nützlichen Handwerkers, seine Tätigkeit zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit und seine Sitten zum Zweck unsrer Erbauung. Folgen wir ihm in seine Werkstatt, zu seiner emsigen Arbeit, seinen Mühen und Plagen, die er zum Wohle der Gesellschaft ertrug. Folgen wir ihm ferner in den Schoß seiner Familie, zu seiner treuen Pflichterfüllung als Vater, Bürger und Christ: das soll der Gegenstand dieser Rede sein.

Erster Teil

Mathias Reinhart war nie müßig. Er hatte so viel Arbeit, daß er sie kaum zu bewältigen vermochte. Sobald der Ruf eines geschickten Handwerkers sich verbreitet, will jeder, daß er für ihn arbeite. Er kommt in Mode. Besonders die vornehme Welt, die ihr sklavisch Untertan ist, glaubt gegen den guten Geschmack zu verstoßen,<176> wenn der Liebling des Publikums nicht für sie arbeitet. Dann gilt es, die Zahl der Lehrlinge zu verdreifachen und zu vervierfachen, die Werkstatt zu vergrößern, ein Auge auf die Gesellen zu haben, damit die Arbeit den Erwartungen entspricht. Nur mit unendlicher Mühe läßt sich der erste, so schwer zu bewahrende Ruf ausrechterhalten. In seiner Emsigkeit kam dieser gute Bürger der Morgenröte zuvor, um das Publikum zu bedienen, und er beschloß seine Arbeit erst lange nach den Stunden, die die Menschen sonst der Ruhe, der Muße und oft der Schwelgerei widmen. Ihr unnützen Bürger der Welt, die Ihr in Müßiggang und Zerstreuung lebt, Euer strafwürdiges Dasein in Spielhäusern verbringt, um Eure FamUien zugrunde zu richten, Euren Nächsien Ärgernis zu geben, Eure Gesundheit in Völlerei und Ausschweifungen zu zerrütten, Ihr lebt! Ihr lebt, sage ich, und ich beweine den, dessen Wachsamkeit und unermüdlicher Fleiß nicht bloß einem schlichten Bürger, sondern allen seinen Landsleuten, ja selbst Fremden so nützlich ward!

Doch die Menschenliebe verbietet mir, in meinen Klagen und traurigen Betrachtungen noch weiterzugehen. Gebührt es doch nicht uns, die Opfer des Todes zu wählen, sondern Ihm, dem allmächtigen Herrn über Leben und Schicksal der Menschen. Der Schöpfer entscheidet über die Geschöpfe, und uns gebührt es, mit dem heiligen Paulus auszurufen: „O welch eine Tiefe des Reichtums beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“176-1 Beten wir, meine Brüder, Gottes Wege in Demut an, ohne nach den Gründen seiner unerforschlichen Ratschlüsse zu fragen, und dulden wir in Ergebung, wenn seine Hand uns empfindlich trifft. Von ihm haben wir alles. Schickt er uns Trübsal, dann geschieht es, um uns von der Welt abzukehren, damit wir unsre Zuversicht nicht auf seine Werke, sondern auf ihn setzen, damit wir unser Herz nicht an die Dinge der Schöpfung, sondern an den Schöpfer hängen, damit wir Weisheit und Mäßigung lemen, indem wir nacheinander die sterben sehen, die mit uns zwischen denselben Mauern, unter demselben Dach wohnen, deren Talente wir bewunderten und deren große Eigenschaften wir ehrten.

Aber wenn Gott auch nicht will, daß wir unser Herz allzusehr an die Schöpfung hängen, so verbietet er uns doch nicht, die zu lieben, denen er gnädig den Stempel der Größe und besonderen Tugend aufgedrückt hat. Jawohl, meine Brüder, auch ein Schuster kann zum großen Manne bestimmt sein. Jedes nützliche Handwerk ist eben darum nicht verächtlich. Die Art, wie es betrieben wird, kann seinen Wert noch erhöhen. Es ist verdienstvoller, einen Acker gut zu bestellen, gutes Tuch oder bequemes Schuhzeug zu machen, als die Justiz schlecht zu handhaben, die Finanzen liederlich zu verwalten, im Kriege keine Detachements führen zu können oder sich den Sieg durch einen beherzteren oder geschickteren Feind entreißen zu lassen. Es liegt nichts Erniedrigendes im Stande eines Mannes, der unsre unentbehrlichen Bedürfnisse befriedigt. Ja fürwahr, was ist<177> notwendiger als die Fußbekleidung? Sie sichert uns vor der Rauheit des ungleichen, spitzigen Pflasters, vor den Unbilden der Witterung, vor Schmutz und Schlamm. Schlecht gemachtes Schuhzeug verdrießt durch seine plumpe Gestalt, drückt den Fuß und erzeugt Schwielen, die bei jedem Schritte, den man tut, Schmerzen verursachen. Es hält das Eindringen des Wassers nicht ab, das durch häufige Erkältung gichtische Säfte entstehen läßt und jene grausame Krankheit hervorruft, die durch lange Qualen zum Grabe führt. Mathias Reinhart war ein Meister darin, alle diese Mängel zu vermeiden. Seine Arbeiten erreichten den höchsten Grad der Vollkommenheit. Er hat alle seine Zunftgenossen und Nebenbuhler durch sein Talent übertroffen. Wer sich aber so siegreich über seine Mitbewerber erhebt, der ist gewiß ein großer Mann. Wer seine Werkstatt und sein Haus klug, ordentlich und fleißig regiert, der würde ebensogut eine Stadt, eine Provinz, ja um nichts zu verschweigen, ein Königreich regieren. Ja, meine Lieben, der gute Bürger, den wir beweinen, besaß Eigenschaften, die einen Thron nicht verunziert hätten, wogegen viele, die ohne Talent und Arbeitslust auf dem Throne sitzen, nur schlechte Schuster geworden wären, hätte das blinde Geschick, das die Geburten bestimmt, sie nicht aus Barmherzigkeit zu dem gemacht, was sie sind, damit diese unfähigen Menschen nicht in Hunger und Elend umkommen.

Ihr, deren stolzes Ohr sich verletzt fühlt durch das Lob eines tüchtigen Handwerkers und durch die kühnen Wahrheiten, die ich Euch ins Gesicht sage, errötet, — nicht über meine Rede, nicht über das, was man vor Euch zum Lobe eines emsigen und talentvollen Mannes sagt, der ein notwendiges Handwerk ausübte, sondern über Eure Weichlichkeit und über die Schwelgerei, in der Ihr im Schoße von Pracht und Glanz aufgeht, ohne Kenntnis Eurer eignen Bedürfnisse und der Arbeit, die andre zu Eurer Bequemlichkeit leisten. Ich wünschte, Ihr würdet für eine Weile der Bekleidungsstücke beraubt, die Mathias Reinharts Talent hervorbrachte! Mit welcher Ungeduld, mit welchen Klagen, mit welcher Eilfertigkeit würdet Ihr seine Hilfe herbeirufen! Wie hoch würdet Ihr das loben, was Euer Stolz jetzt mißachtet! Gesteht, so vornehm Ihr auch seid: was wären die Großen der Welt ohne Schuhzeug! Ja, so sind sie, die in Reichtum und Überfluß Aufgewachsenen! Sie verlangen nach dem, was sie nicht haben, aber wenn sie es haben, befriedigt es sie nicht, und sie haben kein Gefühl für das, was sie besitzen.

Jetzt, wo der Anstand und die Art von Zwang, die diese heilige Stätte Euch auferlegt, Euch zu geduldigem Zuhören zwingen, will ich Euch wider Euren Willen zeigen, wieviel Gewerbfleiß nötig ist, nicht zur Befriedigung aller Eurer Bedürfnisse, aber doch dessen, von dem ich reden will. Um Euch darüber zu belehren, brauchen wir nur den Fleiß und die Sorgfalt zu betrachten, die Mathias Reinhart in seiner Werkstatt bewies.

Niemals legte er Hand ans Wert, bevor er sorgfältig die Stoffe ausgewählt hatte, die er verarbeiten wollte: Leder zu den Absätzen, Leder für die Sohlen und Ober, leder. Alle drei Sorten sind verschieden, und die Arbeit wird oft schlecht befunden,<178> wenn die Wahl dieser Stoffe nicht mit Urteil und Kenntnis erfolgt. Er hatte seine Lohgerber, die für ihn arbeiteten und auf die er sich verlassen konnte. Damit das Publikum mit seiner Arbeit zufrieden war, ließ er diese Grundstoffe aus Vorsicht in seiner Werkstätte lagern, um sich selbst zu vergewissern, ob sie dauerhaft und tadellos wären.

Vergleicht nun Euer Tun mit dem seinen und erfahrt den Unterschied! Mathias Reinhart wählte sich die Mittel aus, die zum vorgesteckten Ziel führen müssen; Ihr aber untersucht nicht, auf welche Weise Ihr zum Ziel gelangen könnt. Ihr laßt Euch von Eurer Unbesonnenheit und vom Zufall leiten. Er prüfte alles selbst, Ihr aber verlaßt Euch auf den ersten besten, der zu Euch kommt und Einfluß auf Euch erlangt. Er übte weise Vorsicht, Ihr aber wißt nicht einmal, was das ist. Er wollte Vollkommenheit in seiner Kunst erreichen; Ihr aber laßt es bei Selbstgefälligkeit und Leichtfertigkeit bewenden. Es genügte ihm nicht, über seine Arbeiter zu schalten; er lehrte sie auch seine Arbeitsweise, hielt sie zur Genauigkeit an, verwarf alles Mangelhafte und arbeitete selbst, um zugleich Lehrer und Vorbild zu sein. Er strebte nicht danach, Meister zu werden, sondern seine großen Talente erhoben ihn dazu. Ihr dagegen bewerbt Euch um Ämter, ohne die nötige Fähigkeit zu besitzen. Habt Ihr sie dann erlangt, so besorgen Eure Untergebenen die Arbeit, und Ihr begnügt Euch damit, das Gehalt einzustreichen und vor der Welt zu repräsentieren. Tut Ihr aber etwas, so sind es nur Ränke, die Ihr zum Schaden des Publikums spinnt; und so gereichen die Würden und Titel, die Ihr bekleidet, Euch nicht zur Ehre, sondern zur Beschämung und Schande.

Ihr Halbgötter der Erde, Ihr Mächtigen, die die Vorsehung einsetzte, um weite Länder mit Menschlichkeit und Weisheit zu regieren, errötet, daß ein armer Schuster Euch beschämt und Euch Eure Pflichten lehrt, daß das Beispiel seines arbeitsreichen Lebens Euch zeigt, was die Völker, die Ihr glücklich machen sollt, von Euch fordern. Der Himmel hat Euch nicht erhöht, damit Ihr beim Lied Eurer Schmeichler auf dem Throne einschlummert, sondern für das Wohl der Abertausende arbeitet, die Euch Untertan und doch Euresgleichen sind. Ihr wurdet nicht so hoch gestellt, um Wochen, Monde und Jahre in den Wäldern zu verbringen und dort ohne Unterlaß die wilden Tiere zu jagen, die Euch fliehen, und Euch der verächtlichen Geschicklichkeit zu berühmen, mit der Ihr sie erlegt. An sich wäre das eine unschuldige Zerstreuung, wenn Eure Mordlust nicht ein Handwerk daraus machte178-1. Während die Straßen in Euren Ländern verfallen, die Städte von jenem abstoßenden Volk heimgesucht werden, das unser Mitleid und die öffentliche Fürsorge erheischt, während der Handel in Euren Staaten daniederliegt, der Gewerbfleiß nicht aufgemuntert wird und selbst die Regierung voller Mängel ist, gewöhnt Ihr Eure Arme an Mord, Eure Augen an Blut, Euer Herz an Fühllosigkeit. Wozu seid Ihr Fürsten? Um wilde Tiere zu<179> jagen oder um eine menschliche Gesellschaft zu regieren? Bekamt Ihr den Verstand, um durch ein Leben voller Zerstreuungen zu verblöden? Erhieltet Ihr Herrschaft und Macht, um alle Tage Eures Lebens zu verlieren?

Ach, verehrte Leidtragende, wieviel Anlaß zu Schmerz und Trübsal bringt die verderbliche Pflichtvergessenheit, die auch die besten Einrichtungen ihrem ursprünglichen Zweck entfremdet! Wie hochachtbar ist dagegen Mathias Reinhart! Wie wenig Menschen sieht man den Weg einschlagen, den die Ehre ihnen vorzeichnet, den ihr Stand ihnen weist, den die öffentliche Wohlfahrt erheischt, den aber ihre Verderbtheit nicht einschlägt! Diesen verhängnisvollen Mißbräuchen ist es zuzuschreiben, daß ein einfacher Mann unter den Großen und Herrschern sieht. Denn, meine Lieben, wen nennen wir groß? Nicht die Geburt macht den Menschen groß, das habe ich Euch bewiesen. Nicht die Herrschaft, die nur verdienstvoll wird, wenn man sie gut zu nützen weiß; nicht der Reichtum, der die Menschen bald geizig, bald verschwenderisch macht. Groß ist, wer uns in derselben Laufbahn überholt, wer Schweres vollbringt, das Glück sich zu Willen zwingt, sich einen Namen macht und durch seine Tüchtigkeit selbst seine Neider zum Beifall nötigt.

Wer konnte sich solcher Vorzüge je mit größerem Rechte rühmen, wer erwarb sich in seinem Leben mehr selbstloses und folglich jeder Schmeichelei bares Lob, als dieser emsige Handwerker, um den wir trauern? Er hat sich über seine Zunftgenossen erhoben, wie die stolzen Palmbäume über andre Bäume hinauswachsen, sie überschatten, ersticken und zu ihren Füßen verdorren sehen. Gleich bekam er Kundschaft; jedermann war mit seiner Arbeit zufrieden; er überteuerte keinen, war beharrlich, geschickt und fiink. Einer rühmte dem andren seine Dienste. Er verstand es, dem Schuhzeug eine vor ihm unbekannte Anmut zu geben; er machte es bestrickend. Sein Schuhwerk vereinte alle Vollkommenheiten: Schönheit, Bequemlichkeit, Dauerhaftigkeit, Undurchlässigkeit. Sein Ruf wuchs rasch. Frau Fama, die von Schuhen so gut wie von Gesandtschaften, Verträgen oder Siegen spricht, verkündete alsbald, daß ein Wundermann lebte, der in seinem Fach alle überträfe und vollkommenes Schuhzeug machte. Man sprach fast nur noch von unsrem Schuster. Seine Berühmtheit verbreitete sich über seine Vaterstadt. Ja, was alles übertrifft: seine Zunftgenossen spendeten ihm Lob, räumten ihm einstimmig den Vorrang ein und schämten sich des Geständnisses nicht, daß sie hinter ihm zurückblieben. Spräche ich hier vor Unbekannten, man würde mir schwerlich glauben, daß Nebenbuhler und Mitbewerber Dem Beifall spenden, der mit ihnen nach dem gleichen Kranze strebt! Das ist so erstaunlich, so unerhört, daß es ans Wunderbare grenzt. Aber Ihr, meine Lieben, Ihr, dies zahl, reiche Volk, das mich anhört, ja selbst wenn die Menschen ihr Zeugnis versagten, diese Wölbungen, diese stummen Mauern rufe ich zu Zeugen an. Sie werden bekunden, wie hoch der Ruhm unsres trefflichen Mathias Reinhart gestiegen ist!

Welch gewaltiger Abstand liegt zwischen einer dunklen, unbekannten Herkunft und einem bekannten und berühmten Namen! Die Schwierigkeit wird noch größer, wenn<180> man in seiner Jugend durch den Zwang ungünstiger, aber gebieterischer Umstände in eine undankbare, unfruchtbare Laufbahn gedrängt ward. Wer sich durch so viele Dunkelheit durchringt, dankt dies allein seinem tätigen, emsigen, unermüdlichen Geiste und seinem alles überwindenden Fleiße. Man muß etwas einzusetzen haben, um sich bekannt zu machen, und Talente weit über den Durchschnitt besitzen. Ist man aber bekannt und erzwingt sich den Beifall, mit dem die Menschheit so geizt, ja lenkt man das einmütige Lob aller auf sich, so ist das geradezu wunderbar und setzt die Übereinstimmung aller Menschen voraus. Denn stellt Euch nur vor, meine Lieben, eine wie große Menge man unterjochen muß und woraus sich die Bevölkerung, nicht einer ganzen Provinz, sondern bloß einer volkreichen Stadt zusammensetzt. Da findet Ihr so viele verschiedene Charaktere und Denkweisen wie Gesichter. Die einen gehen allzu leichtfertig durchs Leben, wie im Traume, ohne Kenntnisse und Überlegung. Die andren haben beschränkte Fähigkeiten und folgen in ihrem Denken nur den Anregungen, die sie von stärkeren Geistern empfangen. Teils sind es leicht bestimmbare Gemüter, die ihre Meinungen mit ihrer Umgebung wechseln, teils Halsstarrige, die sich durch nichts überreden und überzeugen lassen. Hier seht Ihr hochfahrende Leute, die alles mit Verachtung ansehen und meinen, die Welt sei ihrer nicht würdig. Dort seht Ihr bissige Spötter, deren Mund, an Tadel gewöhnt, nur ein Werkzeug des Hohnes ist. Wieder andre sind so erfüllt von einem Gegenstand, daß sie sich durch nichts davon abbringen lassen, Leute, die in Völlerei verblöden, Hoffährtige, die sich selbst bewundern, Genußsüchtige, die nur an ihr Vergnügen denken, Unwissende, die nichts kennen und über alles urteilen, Neidische, die ihre Mitmenschen verleumden und ihren Ruf zerfetzen. Alle diese gilt es zu fesseln und zu einer Meinung zu bringen. Diese ganze Menge, so mannigfach in Gedanken, Neigungen und Ansichten, muß man von seinen Talenten und seiner Tüchtigkeit überzeugen. Wie schwer ist es, so viele Stimmen zu gewinnen! Wieviel Zeit, Mühe, Arbeit und Erfolg ist nötig, um das Gebäude seines Ruhmes zu errichten und so viele widerspenstige Mäuler zum Lobe zu zwingen! Ihre geizigen Hände sparen jedes Körnchen Weihrauch, und andre wollen es auf ihrem eignen Altar verbrannt sehen. Um wieviel mehr Achtung verdient ein armer Handwerker ohne Protektion und Ansehen, der einen so weiten Weg zurückzulegen hatte, um bekannt zu werden und den Beifall der Menge an sich zu reißen. Zudem ist es bedeutend leichter, sich aus der Ferne einen Namen zu machen und denen zu imponieren, die uns weder sehen noch kennen. Aber ein Prophet im eignen Vaterland sein und den Beifall seiner Mitbürger zu ernten, das ist der größte Triumph, nach dem der menschliche Ruhm streben kann. Sein Name ist über das ganze Land hin gedrungen. Er ist so berühmt geworden, daß Leute, die ihn nie gesehen hatten, ihm ihr Maß schickten und ihn beschworen, für sie zu arbeiten. Er war so beliebt, daß Leute, die sich auf ihr Äußeres etwas zugute halten und durch die Eleganz ihrer Kleidung auffallen wollen, nur noch Schuhe von ihm tragen mochten.

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Trotzdem er so gesucht war, blieb er bescheiden und verweigerte seine Dienste keinem, der ihn darum bat. Obwohl oft mit Arbeit überbürdet, befliß er sich, jedermann zufriedenzustellen, dachte weniger an seinen Vorteil als an die innere Befriedigung, nützlich zu sein und sein Handwerk zu vervollkommnen. Stets war er in seiner Werkstatt sanft, leutselig, ertrug Belästigungen, zeigte nie die geringste Ungeduld noch die leiseste Unruhe, wenn neue Zudringliche hintereinander kamen, um ihn in der Arbeit zu stören und zu drängen. Darin unterschied er sich sehr von gewissen vornehmen Herren, die alle anfahren, die ihnen nahen, gleich zu allem nein sagen, statt die Leute ausreden zu lassen, und von ihrer Sprache nur das Nein deutlich aussprechen, weil sie es beständig im Munde führen.

Meister Reinharts Werkstatt war eine Schule der guten Sitte. Bewundernswerte Ordnung herrschte darin. Nie wagten seine Lehrlinge zu fluchen oder anstößige Reden zu führen. Oft sagte er zu ihnen: „Wenn Ihr fleißig arbeitet, kommt Ihr auf keine andren Gedanken.“ Und so lehrte er sie denn getreulich alles, was er mit soviel Mühe, Zeit und Arbeit zur Vollkommenheit gebracht hatte. Ihm lag daran, auch nach seinem Tode noch nützlich zu sein und in denen, die er herangebildet hatte, weiterzuleben. Aus seiner Werkstatt sind eine Menge geschickter Arbeiter hervorgegangen, die jetzt im ganzen Lande ansässig sind. Statt eifersüchtig auf sie zu sein, ermunterte er sie noch und freute sich, daß es ihm so gut gelungen war.

Eine so schlichte Tugend ist in einem so verderbten Jahrhundert sehr selten. Andre Künstler sind auf ihre Entdeckungen oder Geheimnisse eifersüchtig. Ein Arzt, der ein neues Heilmittel gefunden zu haben glaubt, entzieht es der Kenntnis der Welt. Er ist neidisch darauf und will, daß es mit ihm begraben werde. Viele große Feldherren fürchten sich, Generale heranzubilden, die ihnen eines Tages ihren Ruhm streitig machen könnten. Auch Minister pflegen ihre Geschäftsgeheimnisse vor ihren Untergebenen zu verbergen und sie in ihrem Busen zu bewahren. Fürchten sie doch, sich Nebenbuhler zu machen, wenn sie einen anderen ins Vertrauen ziehen. Und so hinterlassen sie denn auch alles in Unordnung und Verwirrung, und bisweilen geht das Geheimnis für immer verloren. Aber Mathias Reinhart hatte Bürgersinn. Er dachte an das Wohl seines Vaterlandes. Wer anders handelt, denkt nur an sich selbst. Warum habe ich nicht Ciceros Beredsamkeit, meine Lieben, um den Ruhm dieses unvergleichlichen Mannes zu verkünden, der jene so gepriesene Römertugend besaß! Die Vorsehung hat ihn nicht so hoch gestellt, daß er seine große Seele in vollem Glänze zeigen konnte. Aber wenn jedes Mitglied der Gesellschaft nach seinen Grundsätzen handelte, so ergäbe sich daraus, wie Ihr mir zugeben müßt, die allgemeine Wohlfahrt.

Was hätte nicht jener römische Konsul, der Vater der Beredsamkeit und des Vaterlandes, hierüber gesagt, er, der die trockensten Gegenstände ftuchbar machte, der den Schuldigen den Freispruch erwirkte181-1, gewöhnliche Menschen in große Männer<182> verwandelte und denen Tugenden zuschrieb, die gar keine hatten! Bei Mathias Reinhart hätte er wahre Tugenden gefunden. Als jener Konsul wünschte, daß der Oberbefehl im Kriege gegen Mithridates dem Pompejus übertragen würde, blendete er das Volk mit dem Zauber seiner unwiderstehlichen Beredsamkeit182-1. Der wirkliche Pompejus und der, von dem er redete, waren nicht ein und derselbe Mensch. Und was war denn Pompejus im Vergleich zu unsrem berühmten Handwerksmann? Jener führte Truppen gegen den rebellischen und blutdürstigen Sulla; dieser war dem Meister, bei dem er sein Handwerk lernte, und seiner Obrigkeit Untertan, ohne sich in Kabalen zu mischen. Jener war ebenso ehrsüchtig wie eitel, riß den Ruhm an sich, den sich Lucullus im Kriege gegen Mithridates, Metellus im Kriege mit Spanien und Crassus im Gladiatorenkrieg erworben hatte. Dieser war ebenso bescheiden wie geschickt, trat an seine Zunftgenossen Arbeit ab und teilte seine Talente seinen Lehrlingen mit. Jener ließ sich von Cäsar betrügen und überraschen; dieser betrog nicht und wurde von niemandem überrascht. Pompejus legte Könige in Ketten, verheerte Provinzen und äscherte Städte ein. Mathias Reinhart diente Königen, beging nie Gewalttat und löschte Brände. Der stolze Römer konnte keinen neben sich dulden; der demütige Deutsche befliß sich, Nebenbuhler zu erhöhen. Der Held des Senates ward von Cäsar besiegt, der berühmte Handwerker von niemand geschlagen. Pompejus entzweite sich mit seinen Freunden; Reinhart pflegte stets die Freundschaft mit den seinen. Jener starb eines gewaltsamen Todes, dieser endigte sein Leben friedlich durch natürliches Hinscheiden. Hätte Pompejus über Cäsar triumphiert, so hätte er gleich jenem Rom unterjocht. Mathias Reinhart triumphierte über alle seine Zunftgenossen und dachte, das behaupte ich dreist, nie an Herrschaft.

Zweiter Teil

Aber, meine Lieben, wie viele Beispiele hat man nicht erst, daß die Kriegsmacht, auch wenn sie das Vaterland verteidigt hat, in Friedenszeiten zu seiner Geißel ward! Hingegen war der treffliche Bürger, von dem ich rede, in seinem Privatleben noch exemplarischer als in dem Teil seines Daseins, den er der Öffentlichkeit widmete. Wie schön ist es, aber wie selten kommt es vor, daß sich große Talente mit echtem Verdienst und glänzende Eigenschaften mit sanften und liebenswerten Sitten paaren! Die meisten Menschen sind ein Gemisch von Gutem und Bösem. Namentlich liefern die großen Genies meist ein Bild mit schönen, lichten Zügen, aber auch mit dunklen Schatten, ein Durcheinander von Großem und Kleinem, von erstaunlichen Wider<183>sprächen und so seltsamen Gegensätzen, daß Pascal überzeugt war, sie hätten zwei Seelen. Wenden wir uns zu den Künstlern, so finden wir unter den trefflichsten wenige, die nicht von Launen genarrt wurden, die oft ans Maßlose und Tolle streiften. Ihre Kunst verschlingt ihre ganze Spannkraft, und so bleibt ihnen keine mehr übrig, um ihre Sitten zu bessern und über ihre Fehler zu wachen. Von solchen Leuten unterschied sich Mathias Reinhart gewaltig. Sein Fleiß war zuerst auf sich selbst gerichtet. Erst war er ein guter Bürger und ein Ehrenmann, dann erst pflegte er sein Talent.

Wer in der vornehmen Welt lebt, wähnt, nur bei Hof und im Getriebe der großen Städte sei die Jugend gefährlichen Versuchungen ausgesetzt; da werde sie durch die Gelegenheit verlockt, durch das Beispiel ermuntert. Aber wenn die dort Lebenden heftig angefochten werden, so haben sie auch starke Waffen zur Abwehr. Der Zügel der Erziehung hält sie zurück, das Elternauge schüchtert sie ein, ihre Freunde raten ihnen ab. Nicht so der Sohn eines armen Handwerkers, dessen Erziehung nicht so sorgfältig geleitet werden kann wie bei jenen, die die Hoffnung reicher FamUien bilden. Ja, ich sage dreist: er ist mehr gefährdet, als die Leute der großen Welt. Denn ist auch das Lasier das gleiche, so hüllt es sich doch bei den Vornehmen in keusche Schleier und zeigt sich immer nur insgeheim. Es sucht unverletzliche Freistätten, um sich hervorzuwagen, und entzieht sich stets der Öffentlichkeit. Beim Volke jedoch schäumt die zügellose Begier oft über. Die Völlerei wird bis zum Übermaß des Ärgernisses getrieben; die Leidenschaften toben in ihrer ganzen Heftigkeit. Etwas Wildes und Rohes herrscht bei allen Freuden, und sie arten in Schlemmerei aus. Da muß man einen festen Charakter haben, um dem bösen Beispiel zu widerstehen, das wie ein wütender Bergstrom Tag für Tag so viele unglückliche Opfer fortreißt.

Mathias Reinhart hat diese gefährliche Klippe vermieden. Selbst in seiner ersten Jugend sah man ihn nie in jenen schlechten Häusern verkehren, wo die Freude der Wut gleicht, wo die unersättliche Habgier Piraten anlockt, die alle weniger Durchtriebenen zugrunde richten, wo so häufig Streit ausbricht und so barbarisch gelärmt wird. Seine Sittsamkeit bewahrte ihn vor diesen und vielen andren Gefahren. Sein Fleiß, sein Aufgehen in seiner Arbeit verbot ihm jeden Verkehr in jenen gefährlichen Kreisen, die seine Sitten hätten verderben können. Diese besondere Gnade, die der Höchste nach seinem stets heUigen Ratschluß austeilt, war Reinhart beschert. Er hatte sein Herz seinem süßen Heiland geweiht; das war der Quell seiner Tugenden, wie der Psalmist sagt: „Gib mir, mein Sohn, Dein Herz und laß Deinen Augen meine Wege Wohlgefallen.“183-1

Ja, das Herz, das ist das Entscheidende. Aus dem Herzen kommt der Friede im Hause, die eheliche Treue und Elternliebe, das gute Einvernehmen mit den Nachbarn, der Gehorsam gegen die Gesetze, die Anhänglichkeit an das Vaterland. Und wenn das Herz in heiliger Glut brennt, sind es Inbrunst, Glaubenseifer und Gottes<184>furcht. Ja, dies Muster eines Bürgers erfüllte alle Pflichten. Im Jahre 1742 ehelichte er Anna Maria Gerie, eine Witwe, obwohl unverheiratet. Dich rufe ich zum Zeugen an, keusche und schamhafte Gattin, in welcher Sanftmut, welchem Frieden, welchem Glück Du die Tage Deiner Ehe verbracht hast! Nie störte ein Gewitter die Heiterkeit Eures Himmels, nie loderte die Fackel der Zwietracht in die keusche Glut Eurer Liebe hinein. Eure Herzen waren einig. Ihr wart ein Muster der Eintracht und des Segens, den der Höchste seinen Getreuen verleiht. Der Gatte griff der Gattin in allem vor, und die Gattin kam den Wünschen ihres Gemahls entgegen. O allzu seltenes Glück, segensreicher Bund, der an die ersten beglückten Zeiten der Welt gemahnt, da noch die Unschuld auf Erden wohnte, jenes goldne Zeitalter, das die Dichter so preisen und das zur Beschämung der Welt leider nur in der glänzenden Einbildungskraft der Söhne Apollos besteht! Warum lassen sich solch schöne Beispiele nicht öfter finden? Woher kommt es, daß die Ehe bei denen, die der weltlichen Verderbtheit huldigen, nur ein langes Ärgernis ist? Das macht, meine Lieben, weil das Herz — ich wiederhole es — weil das Herz keinen Anteil daran hat.

In dem leichtfertigen, zerstreuungssüchtigen Leben der Vornehmen ist die Ehe nur ein Bund der Interessen. Man heiratet nicht für sich, sondern für den VorteU seiner Familie. Die Ehegatten leben, wie Paulus sagt, gleich als ob sie nicht verheiratet wären184-1. Der Geist der Leichtfertigkeit und des Unbestandes, ja oft eine Laune, genügt zum Zerreißen der Bande, die ewig sein sollten. Man trachtet nach dem Ruf eines Mannes, der bei Frauen Erfolg hat, trübt das häusliche Glück seines Nachbars, stiftet Hader in einer andren Familie, während man in sein eignes Haus Unftieden trägt. Die Frau, der man Treue schuldet, will die Krankung, die man ihr antut, nicht umsonst ertragen; sie findet unheilvolle Genugtuung in der Rache. Fortan ist der Friede aus dem Hause verbannt. Argwohn, Eifersucht, Jähzorn, Wut, unversöhnlicher Haß erfüllen die Herzen, in denen allein Liebe und Einigkeit wohnen sollten. Dahin ist alle Zärtlichkeit und Sanftmut. Keine Rückkehr, keine Verzeihung ist zu erhoffen, und das Haus solcher Eheleute, das ein irdisches Paradies sein sollte, wird zur Hölle auf Erden. So, meine Lieben, so vergiftet das Lasier, das sich unter den schmeichelndsten Formen einstellt, das Leben der Menschen, die seinen Lockungen nachgeben.

Nun vergleicht das Glück, das Mathias Reinhart genoß, mit der Zwietracht, die ich Euch eben geschildert habe! Hier seht Ihr Glück, dort Verzweiflung, hier eine ruhige Seele, dort ein bedrängtes Gewissen. Der eine findet bei der Heimkehr eine Freundin, der er sein Herz ausschütten kann, der andre eine Furie mit Schlangenhaaren, bereit, ihn ins Verderben zu stürzen. O unselige Verirrung, die uns in diesem wie in jenem Leben zugrunde richtet! Sie raubt uns ein Glück, das uns zustand, indem sie in uns die Glut zügelloser Begierden entfacht, die uns den Untergang bringen.

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Ein guter Gatte, verehrte Leidtragende, ist zumeist auch ein guter Vater. Ein zärtliches Herz ist nicht unnatürlich. Es liebt in seinen Kindern sein eignes Werk und achtet in ihnen das Abbild des Höchsten. Dieser tugendhafte Bürger gab sich ernste Mühe, seinen Kindern eine gute Erziehung zu geben. Er betrachtete sie als Glieder des Vaterlandes, für das er sie erzog. Er pflegte zu sagen: „Ich gedenke ihnen leine Reichtümer zu hinterlassen, aber sie sollen von mir ehrbare Sitten erben.“ Jedesmal, wenn sie aus der Volksschule kamen, überhörte er sie selbst. Er hielt darauf, daß sie ihm die Fragen und Antworten des Katechismus hersagten, um ihnen von klein auf die Vorurteile ihres Glaubens einzuprägen und sie in unsrer heiligen Religion zu bestärken. Er gewöhnte sie an Wahrhaftigkeit und strafte sie jedesmal, wenn sie sich unterstanden, ihre Fehltritte zu beschönigen und zu bemänteln. Er litt nicht, daß sie sich zankten, und noch weniger, daß ihnen jene anstößigen Reden oder Worte entschlüpften, die das niedere Volt so unschicklich gebraucht und die oft die ganze Beredsamkeit der ungesitteten Landleute ausmacht. Vor allem aber hielt er sie zur Arbeit an, damit sie dereinst ihrem Vaterlande nützlich würden, und befließ sich um ihres eignen Vorteils willen, ihr Herz zu bilden. Er pflegte zu sagen: „Ich häufe ihnen einen Schatz von Tugenden an.“ Nicht Plato noch Sokrates hätten es besser ausdrücken können. Besieht das höchste Gut, wie es unzweifelhaft ist, in der Tugend, so hat er seiner Familie die größten Schätze im ganzen Lande hinterlassen, und zugleich hat er die erste Bürgerpflicht erfüllt, die da ist, Ehrenmänner und eifrige Staatsbürger zu erziehen.

Diese Pflicht, meine Brüder, habt Ihr alle, aber wenige kommen ihr nach. Infolge eines schlimmen und verhängnisvollen Vorurteils kümmern sich die Eltern nur um die Güter, die sie ihren Nachkommen hinterlassen, trachten aber nicht mit allem Fleiße danach, ihre Sitten und ihren Charakter zu bilden. „Meinem ältesten Sohne“, so sagen sie, „hinterlasse ich soundso viel Landgüter, dem jüngeren soundso viel Geld und meiner Tochter eine große Mitgift.“ Was geschieht? Wenige Jahre nach dem Tode des Vaters ist Hab und Gut vergeudet, und das verderbte Geschlecht, ohne Talente und persönliche Verdienste, kommt an den Bettelstab und hat nicht einmal den Trost, daß sein Mißgeschick beklagt wird. Damit ist eine Familie für den Staat verloren, und das Vaterland hat ein paar Bürger mehr, von denen es nicht das geringste erwarten kann.

Das Herz ist die Quelle aller Güter, die erste Triebfeder der Sittlichkeit und der Bürgertugenden. Mathias Reinhart war so lauter und unverstellt! Er war sanft, dienstbar gegen jedermann, verträglich gegen seine Nachbarn, menschlich und liebevoll gegen seine Untergebenen. Wie häufig sind bei Leuten seines Standes Reibereien mit den Nachbarn, Streit mit denen, die dem gleichen Beruf obliegen, oder Prozesse um Geld und andre Dinge. Er aber hatte solchen Abscheu vor allem, was seine Seelenruhe stören konnte, insbesondere gegen Rechtshändel, daß er, soweit er es irgend vermochte, allem auswich, was zu Streitigkeiten oder Prozessen führen konnte.<186> Lieber noch gab er denen nach, die Ansprüche an ihn erhoben, als sich vor Gericht zerren zu lassen. Er pflegte zu sagen, es sei viel gewonnen, wenn man zur rechten Zeit nachzugeben wüßte. Ein so hochherziges Benehmen, eine so edle Uneigennützigkeit zogen ihm die Achtung der ganzen Stadt zu. Sicherlich hätte man ihn zugrunde gerichtet, wenn man immerfort Ansprüche an ihn gestellt hätte. Aber seine Nachbarn schonten ihn aus Zartgefühl, und mit Recht fürchtete man, ihn um sein kleines Vermögen zu bringen, wenn man unrechtes Gut von ihm forderte, das er seiner Ruhe geopfert hätte.

Trotzdem schützte ihn dies exemplarische Leben nicht vor dem Neid und allem, was ihm folgt: üble Nachrede, ja oft schwarze Verleumdungen. Ich darf nichts verheimlichen; denn ich habe nur Löbliches zu berichten. Dieser wahrhaft gute Mensch verbrachte, wie wir gesagt haben, sein Leben in der Werkstatt und lag unablässig seiner schweren und ermüdenden Arbeit ob. So bedurfte er denn der Wiederherstellung seiner Kräfte. Er hatte ein Magenleiden, über das er oft klagte. Das zwang ihn, zu seiner Stärkung täglich etliche Flaschen Wein zu trinken, nach dem Rate des Paulus an Timotheum: „Brauche ein wenig Weins um Deines Magens willen.“186-1 Oft versagten ihm seine ermüdeten Knie des Abends, und da er vor Schwäche bisweilen umfiel, so ließ er sich führen, um dergleichen zu vermeiden. Das genügte seinen Feinden — wer hat deren keine? — um seinen Wandel zu verdachtigen und ihn maßloser Völlerei zu bezichtigen. Jene Arglistigen sagten mit verächtlicher Miene und höhnischem Lachen: „Siehe den heiligen Mann! Siehe das Wunder unsrer Stadt! Wenn er seinen Verstand in Wein ersäuft hat und hinfällt, weil er nicht mehr stehen kann, dann macht er offenbar die Arbeiten, die ihm solche Berühmtheit verschaffen! Sollen die Schuster betrunken sein, um etwas zu leisten? Nun, wenn es so sieht, werden wir ihn bald übertreffen, und man wird alsdann sehen, ob unsre Schuhwaren nicht so beliebt werden wie die seinen.“

Was tat nun unser frommer Handwerksmann, wenn er diese Lügner ihre schändlichen Verleumdungen ausspeien hörte? Er empfahl sie dem Heiland, meine Freunde, und sagte, er danke denen, die ihn demütigten. Er segnete seine Feinde, erflehte Gottes Barmherzigkeit für die, so ihn tadelten und verfolgten. Er fand seinen Trost darin, daß es ihm nicht besser erginge als dem Gerechten, den die gottlosen Juden lästerten, daß auch er das Kreuz des göttlichen Heilands tragen müßte, der seine Seele durch eine schändliche Strafe vom ewigen Verderben erlöst hat. So machte er sich seine Leiden zunutze und errichtete sich auf Kosten seiner Feinde, die ihn zu erniedrigen wähnten, eine himmlische Trophäe, die die menschliche Bosheit nicht zu zerstören vermag. Nie vergalt er Böses mit Bösem. Unbekannt war ihm die schnöde Genugtuung, die verderbte Seelen in der Rache finden, die unheilvolle Freude, Verleumdung und Schmähung mit noch grausamerem Hohn heimzuzahlen, der den<187> Ruf des Nächsten zerfetzt oder meuchelt. Seine Einfalt war so groß, daß er Ratschläge mit Dankbarkeit, Lehren mit Demut, Vorwürfe mit Ruhe entgegennahm und Beleidigungen verzieh.

Welch ein Beispiel der Mäßigung für Euch, Ihr Mächtigen der Erde! Welche Lehre gibt Euch hier ein armer, aber frommer Handwerker! Ein Mann, den Euer Hochmut vielleicht verachtet und dessen Name, so wähnt Ihr, Euer Gedächtnis bestecken würde, wenn Ihr ihn behieltet, dieser Mann lehrt Euch, daß man mit seinen Nächsten in gutem Einvernehmen leben kann. Sein Rechtsgefühl, grundverschieden von dem Euren, zeigt Euch, daß es Mittel gibt, Hader zu vermeiden, Streitigkeiten aus dem Wege zu gehen und Frieden und Ruhe zu wahren, daß es eine seelische Hochherzigkeit gibt, die weit mehr taugt als hitzige Rachsucht und unsre Menschenliebe so weit steigert, daß wir Schimpf und Kränkung vergeben. Bei Euch dagegen werden die geringsten Streitigkeiten gleich giftig, und kleine Zänkereien führen zu blutigen Kriegen. Eure Eitelkeit, grausamer als die Barbarei der Tyrannen, opfert abertausende von Bürgern dem falschen Ruhme, und für ein vom Ehrgeiz und Haß gedeuteltes Wort werden ganze Provinzen verheert und zugrunde gerichtet. Eure Wut gibt die Erde der Raubgier wilder Bestien preis, die Ihr gegen sie loslaßt. Alle Plagen, alles Elend folgen ihnen zur Verzweiflung der Welt, und soviel Jammer und Not entsteht nur aus Euren unheilvollen Feindseligkeiten. Wie weise war Mathias Reinhart! In goldenen Lettern sollte man über die Königspaläsie die schönen und denkwürdigen Worte setzen: „Man gewinnt viel, wenn man zur rechten Zeit nachzugeben weiß.“

Doch wohin reißt mich der Übereifer fort? Hemmen wir unsre Begeisterung für das öffentliche Wohl. Werfen wir den Schleier der Ehrfurcht über die Taten der Großen, die die Vorsehung auf die Throne der Welt gesetzt hat. Verehren wir schweigend die Wege, auf denen sie den Umsturz oder die Erhebung der Reiche herbeiführt. Ohne ihre unerforschlichen Ratschlüsse ergründen zu wollen, verlassen wir die Paläste der Großen, in denen Ehrgeiz und Hoffahrt herrschen, und kehren wir zur Hütte des Armen zurück, in der Fleiß und Tugend wohnen. Ja, meine Brüder, wir sind sicher, sie dort wiederzufinden.

Dieser Gerechte, der so weise in Eintracht und gutem Einvernehmen mit denen zu leben wußte, die das Schicksal zu seinen Gefährten machte, liebte auch die Gesetze und kam ihnen durch sein ebenso billiges wie rechtschaffenes Betragen zuvor. Er fürchtete die Obrigkeit nicht, wie so viele lasterhafte Menschen, sondern er war ihr gehorsam und Untertan. Dank seiner anerkannten Redlichkeit, die ihm aller Herzen gewann, vertraute man ihm insgemein Wertstücke zur Aufbewahrung an. Das Schicksal, das so großen Einfluß auf alle Ereignisse hat, wollte, daß Leute, die er garnicht kannte, ihm Geldsummen und Wertsachen aller Art übergaben. Wie nachher herauskam, waren diese Unseligen Diebe, die ihren Raub seiner Obhut anvertraut hatten. Als sie ergriffen wurden, erfuhr die Obrigkeit das Versteck ihrer Schätze und beschlagnahmte sie. Aber der gottselige Mann war durch seine Fröm<188>migkeit zu wohlbekannt, um auch nur in Verdacht der Hehlerei zu kommen. Die Justiz erkannte wohl, daß böse Menschen seine Redlichkeit mißbraucht hatten, und eröffnete kein Verfahren gegen ihn. Aber der tugendhafte Handwerksmann erbot sich, die ganze gestohlene Summe, von der die Missetäter ihm nur einen Teil gebracht hatten, aus eignen Mitteln zu ersetzen. Seit diesem schlimmen Zufall ward er vorsichtiger und verschwendete seine Diensie nicht mehr an Unbekannte.

Er war von Bürgertugend erfüllt und sah die Vaterstadt als seine Mutter an. Für sie erzog er seine Kinder; zu ihrem Gedeihen trug er bei, soweit sein Stand es erlaubte. Unterstand sich irgend ein törichter, anmaßlicher Fremdling, von gewissen Sitten und Bräuchen des Landes verächtlich zu reden, so wäre Reinhart, wie sanft und menschlich er sonst war, imstande gewesen, sich mit dem vorlauten Schwätzer zu schlagen. Bei allen Feuersbrünsien eilte dieser gute Bürger herbei. Obwohl ihn nichts dazu zwang, war er einer der ersten am Platze, ergriff beherzt eine Leiter und stieg da hinauf, wo das Feuer am grimmigsten wütete. Dort sah man ihn mitten in den sturmgepeitschten Glutwogen unermüdlich bestrebt, das Feuer zu löschen, alles Brennbare, was er erreichen konnte, herunterzureißen, das brennende Gebäude zu retten, oder doch, wenn die Feuersbrunst schon zu weit um sich gegriffen hatte, die anstoßenden Gebäude zu schützen und jedermann hilfreich zu sein, — alles aus Tugend und dem edlen Eifer, seiner Vaterstadt zu nützen.

Alle diese Tugenden erhielten ihre Weihe durch unverstellte Frömmigkeit. Er hatte Gott sein Herz geweiht, und aus dieser Quelle flossen die achtungswerten Handlungen, von denen ich Euch berichtet habe. Nie war ein Glaube inbrünstiger als der seine. Von allen unsren heiligen Büchern las er am fleißigsten und liebsten die Propheten des Alten Testaments und die Offenbarung St. Iohannis, weil er, wie er sagte, nichts davon verstand. Er wünschte, daß die ganze Religion nur ein Mysterium sei, um seinen Glauben desto besser üben zu können. Er wußte seine Vernunft so im Zaume zu halten, daß er nie über das Gelesene nachdachte und daß ihm nichts unglaublich schien. Mit Eifer sahen wir ihn an dieser heiligen Stätte jedem Gottesdienst beiwohnen. Er zeigte die Demut eines Christen, die Aufmerksamkeit eines Schülers, die Zerknirschung eines Wiedergeborenen. Er brachte in unsre Kirche einen gelehrigen Geist und eine demütige Seele mit, bereit, die Lehren des Evangeliums aufzunehmen. Nie duldete er, daß man während der Predigt mit ihm sprach, ja er versagte sich sogar den Genuß des Schnupftabaks, um nicht, wenn er sich schnauben müßte, den Faden unsrer Unterweisungen zu verlieren. Ach! Wie schalt er die Weltkinder, die nur in die Kirche zu gehen scheinen, um auf den Tribünen mit der Pracht ihrer Kleider zu prunken, um zu sehen und gesehen zu werden, die stets zerstreut und mit ihren Gedanken wo anders sind, als an der heiligen Stätte, die sie nur aus einem Rest von Wohlanstand besuchen! Ihn sah man sich niemals rühren. Unbeweglich heftete er die Blicke auf den Prediger und schien schon im voraus mit Entzücken alle Seligkeiten des himmlischen Zion zu schmecken und die<189> Ströme der Wonne zu schlürfen, die unaufhörlich für die Gläubigen stießen und die er jetzt mitten unter den Auserwählten genießt. Er nahte dem heiligen Altar, um das Brot des Lebens zu empfahen, stets mit Furcht und heiligem Schauder. Er sagte: „Herr, ich bin nicht wert, daß Du bei mir wohnest, der ich nur Staub und Asche bin.“ Und verließ er den Tisch des Herrn, so fühlte er sich gestärkt, als hätte ein neuer Strahl der Gnade ihn erleuchtet. Diese Frömmigkeit, dieser blinde Glaube war es, der ihn seine unerschütterliche Seelenruhe bis an sein Ende bewahren ließ.

Bis an sein Ende? Ja, meine Brüder, alles, was einen Anfang hat, muß auch ein Ende haben. Nur der Allerhöchste ist immerwährend, ewig in sich selbst bestehend und in alle Ewigkeit unwandelbar. Aber das Gesetz, das uns seit dem Sündenfall im Paradies auferlegt ward, wirkt weiter und weiter über Adams unseliges Geschlecht. Unser heiliger Handwerksmann sah den Tod nahen. Eine Krankheit, die Vorbotin seines Endes, mahnte ihn, daß er seine Laufbahn bald beschließen werde. Er ward zusehends schwächer. Sein von Krankheit erschöpfter Körper ging der Auflösung entgegen, aber seine Seele war seine feste Stütze, gleichwie eine starke Säule ein in Trümmer sinkendes Bauwerk noch aufrecht erhält. Er sah dem Tod unerschrocken ins Gesicht. Sein gerechtes Leben hatte ihn auf einen christlichen Tod vorbereitet. Wie oft demütigte er sich vor seinem Schöpfer und seufzte über seine Mängel! Wie oft klagte er sich schlechter Gedanken und der geringsten Fehltritte in seinem Wandel an! Wie oft flehte er zu Gott um Verzeihung, daß er über der Arbeit die Zeit verloren habe, die er dem Gebet hätte widmen müssen! Der barmherzige Gott krönte seine Beharrlichkeit und stand ihm mächtig bei. In jenen letzten Augenblicken, da Welt, Freunde, Verwandte und die Kunst derer, die dem Tode jeden Schrittbreit seines Lebens streitig machten, ihm nicht mehr zu helfen vermochten, sah er den Himmel offen, glaubte den Lobgesang der Engel und der Greise der Apokalypse189-1 zu hören, die ein ewiges Halleluja singen. Er vergaß die Welt und seine eignen Schmerzenward schon auf Erden zum Bürger des Himmels und stimmte auf seinem Schmerzenslager den Siegespsalm an. Welche Bestürzung ergriff die Stadt, als mittags auf dem Marktplatz eine Stimme die Trauerbotschaft verkündete: „Mathias Reinhart liegt im Sterben!“ Das Volk strömt herbei, drängt und staut sich in breiten Massen vor dem Sterbehaus. Man hört und sieht nichts als Wehklagen, Schmerzensaute, Tränen, Seufzer, Wehmut und Schluchzen. Jedermann nimmt an diesem Verlust tell, und der Tod eines Einzigen wird zum öffentlichen Unglück.

Den Tribut der Trauer, den man seinen Verdiensien zollte, die Nachrufe, die seiner Tugend galten, die bittren Klagen derer, die, nun er tot war, nicht mehr wußten, bei wem sie ihr Schuhwerk bestellen sollten, alles, was zum Ruf, zur Eitelkeit, zum Nachruhm gehört, müssen wir aus unsrem Geist verbannen. Spräche ich Euch davon, ich fürchtete, die kalte, erloschene Asche dieses Bescheidenen möchte wieder aufleben<190> und zu mir sprechen: „Wie kannst Du wagen, so leichtfertige Worte vor diesem Male der Trauer zu sprechen? Wie kannst Du bei meinem Lobe verweilen, wo ich auch den leisesten Beifall nicht hören mochte? Stehst Du nur darum auf Deiner Kanzel, um dem Stolz der Lebenden zu schmeicheln und die Erinnerungen an meinen eitlen Ruf aufzufrischen? Sagt Dir der Ort, wo Du stehst, sagt Dir Dein heiliges Amt nicht, daß Du sie von dort oben beschämen sollst? Preise lieber den Höchsten, ewig Anbetungswürdigen, der mich aus den Banden des Fleisches erlöst und in sein Himmelreich aufgenommen hat.“

Folgen wir diesem Rat, meine Brüder! Möge sein Tod uns zur Lehre dienen, daß die flüchtige Zeit unsre Tage und Jahre hinwegnimmt, daß wir alle zu Staub und Asche werden, daß das prunkvolle Mausoleum, worin die Hoffahrt der Menschen die Zerstörung ihres Leibes zu überleben wähnt, und der schlichte Sarg, der unter der Last seiner Erddecke zusammenbricht, die gleiche Behausung sind, daß mit dem Tode all die Standes- und Geburtsunterschiede aufhören, von denen die schwachen Sterblichen in ihrer Verblendung soviel Aufhebens machen. Ihr Ungläubigen, die Ihr Eure gottlosen Blicke in das Heiligtum zu werfen wagt, erzittert beim Anblick dieser Bahre. Möge die Gläubigkeit dieses Frommen, der uns soviel Tränen entlockt hat, Euch zum Vorbild dienen. Gebet Eure stolze Vernunft preis, die Euch nur irreführt, und nehmet die Herzenseinfalt dieses Wiedergeborenen an, die ihn erlöst hat, dieses Heiligen, der stolz darauf war, nichts zu verstehen und doch zu glauben. Und Ihr, verstockte Christen, die der ungestüme Strom der Welt fortreißt, sinnt nach über den Tod eines Gerechten, der vergänglichen Anfechtungen widerstanden hat, um jetzt ein dauerndes Glück zu genießen.

Ihr, die Ihr Zunftgenossen des Mannes seid, dessen Tugenden ich Euch geschildert: möge sein Vorbild Euch anspornen, soviel hervorragenden Eigenschaften nachzueifern. Wisset und behaltet es wohl, daß man in jeglichem Stand sich hervortun kann, daß Gottes Sohn nicht unter den Reichen Die auserwählt hat, die er zu Gefährten seines Heilswerkes begnadete, sondern unter der Hefe des jüdischen Volkes. Und Ihr, seine trostlose Familie, trocknet Eure Tränen und besteckt nicht durch unmäßige Trauer den Ruhm dessen, der jetzo zur Rechten des Vaters zwischen dem Sohn und dem Heiligen Geist sitzt. Folget seinem Beispiel, dessen Zeugen Ihr waret, und bereitet Euch durch ein heiliges, christliches Leben vor, mit ihm wieder vereinigt zu werden, wenn Eure Stunde gekommen ist.

Ich, meine Lieben, habe nun der traurigen Pflicht genügt, die mir auferlegt ward. Nachdem ich das Lob der seltenen Tugenden verkündet habe, die so wahr, offenkundig und allbekannt sind, werde ich von dieser Kanzel herab nie mehr die Stimme zum Gedächtnis derer erheben, die Euch noch entrissen werden. Anstatt mein heiliges Amt durch Verherrlichung erheuchelter Verdienste und angedichteter Eigenschaften zu entweihen, bleibe ich in den Schranken meines priesterlichen Berufes und widme den Rest meiner schwachen Kräfte der mir anvertrauten Herde. Ich beschränke mich<191> darauf, die einen mit den Drohungen der furchtbaren Rache Gottes niederzuschmettern, die andren aber mit Worten des Friedens und Erbarmens zu trösten, auf daß ich, wenn der Tod auch mich trifft, vor den Stuhl meines Richters treten und zu ihm sprechen kann: „Herr, hier bin ich mit allen, die Du mir anvertraut hast.“

<192>

Lob der Trägheit
(1768)

An den Herrn Marquis d Argens, Herrn von Eguilles und andren Gütern, Königlichen Kammerherrn und Direktor der Klasse der Schönen Literatur192-1



Gnädiger Herr!

>iewohl ich nur zum niedrigsten Gewürm auf dem Parnaß zähle, wollen mir Euer Gnaden verstauen, Ihnen die Frucht meiner Nachtwachen zu wid, men. Wem könnte ich ein Werk über eine so hervorragende Tugend wie die Trägheit besser zu Füßen legen, als Ihnen, gnädiger Herr, der sie so sehr leuchten läßt? Was waren die französischen Könige aus dem Geschlecht der Mero, winger im Vergleich zu Ihnen?192-2 Anfänger, Euer Gnaden, die sich ihrem glücklichen Trieb ohne Nachsinnen überließen, wogegen Sie der Welt ein Vorbild bedachten Nichtstuns geben, das auf den gründlichen Überlegungen eines rein philosophischen Geistes beruht. Fahren Sie fort, 0 göttlicher Marquis, dem verderbten Jahrhundert als Muster zu dienen! Zähmen Sie seine gefährliche Tatlusi zu Nutz und Frommen der Gesellschaft, wie ich es im folgenden nachweisen werde. Führen Sie die glücklichen Zeiten der völligen Tatlosigteit und der stillen Ruhe des goldnen Zeitalters zurück, in der die ersten Menschen ihre Tage beschlossen, nachdem sie ohne Unruhe und Sorge sanft dahingelebt hatten. Jedenfalls bitte ich Euer Gnaden, wenn ich Sie dadurch nicht ermüde, mir eine gute Pension auszuwirken, damit ich Ihren erlauchten Spuren zu folgen vermag. Durch solche Großmut wäre ich in Zukunft dem Zwang enthoben, Unwahrscheinlichkeiten zu beweisen und<193> die unglücklichen Verleger zur Verzweiflung zu treiben, wenn sie ihre Druckerpresse rollen lassen müssen, um meine Hirngespinste zu vervielfältigen.

Ich bin mit aller den Göttern Epikurs schuldigen Verehrung und aller Demut, die die Eigenliebe gewisser Autoren kennzeichnet,

Euer Gnaden
ehrerbietigster und gehorsamster Diener
N.N.

<194>

Lob der Trägheit

Jede Meinung, so wunderlich sie auch ist, hat eifrige Verteidiger gefunden. Der Bischof Las Casas194-1 warf sich zum Beschützer der sokratischen Liebe auf... Erasmus, der weise Erasmus, hat das Lob der Narrheit gesungen194-2. Wenn die Geistesstörung, wenn die Trübung des logischen Denkvermögens in unsren Hirnen einen Fürsprecher in einem großen Manne gefunden hat, warum soll es uns dann nicht erst recht verstauet sein, die unendlichen Vorzüge der Trägheit zu rühmen und klar zu beweisen, daß diese glückliche und friedfertige Anlage, die sich bei einigen Lieblingen der Natur findet, der Gesellschaft im allgemeinen wie dem Individuum, das sie besitzt, gleich vorteilhaft ist? An Beweisen fehlt es uns nicht, im Gegenteil, ihre Menge setzt uns in Verlegenheit. Halten wir uns an die einfachsten. Wir berufen uns auf die Stimme der Öffentlichkeit, auf jene wegen ihrer Allgemeingültige keit sprichwörtlich gewordenen Meinungen und bitten, uns die Trivialität der Ausdrücke angesichts ihres tiefen Sinnes nachzusehen.

Das Volt sagt insgemein: „Schläft die Katze, so weckt sie nicht!“ Eine tiefe Lehre, die allein schon ein Lob der Trägheit bedeutet. Die Katze ist boshaft, der Schlaf macht sie regungslos. Hat sein ftiedenspendender Mohn ihre Lider geschlossen, so hütet Euch, sie zu wecken. So unschuldig sie in ihrer Untätigkeit ist, so tückisch wird sie, wenn sie durch die Erregung ihrer Sinne aus dieser sanften Lethargie erwacht.

Segnet, segnet die Trägheit der Menschen! Stört sie nicht! Möge ihre sanfte, gemütliche Herrschaft ewig währen! Ach! der Mensch ist zu böse, grausam und wild. Er neigt so selten zum Guten, daß es zu wünschen wäre, seine Untätigkeit hielte ewig an. Ja fürwahr, waren die größten Geißeln der Welt nicht die tatlusiigen, rastlosen, waghalsigen Seelen? Alexander, der hochgelobte und viel verlästerte Alexander, der die Ruhe Griechenlands störte und Asien umwälzte, der seine Eroberungen bis in die fernsten Himmelsstriche ausdehnte und seine Weltmacht auf den Trümmern der Throne errichtete, von denen er die rechtmäßigen Herr,cyer gestürzt hatte, Alexander, sage ich, hätte nicht soviel Unrecht begangen, nicht soviel Blut vergossen, hätte es seiner Seele nicht an der Kraft der Trägheit gefehlt! Cäsars Regsamkeit und Unternehmungslust stürzte die römische Republik. Tätiger als Pompejus, besiegte er diesen, riß die höchste Gewalt an sich und unterdrückte die Freiheit seines Vaterlandes. Was waren Tamerlan, Dschingiskhan, Alarich und Attila, wenn nicht von Ehrgeiz geplagte, von den Heftigsten Leidenschaften zerrissene<195> Seelen, die sich in der Ruhe verzehrten, während stürmische Zeiten ihr Lebenselement bildeten? An der Spitze wilder Barbarenvölker überschwemmten sie mit ihren Kriegsscharen die Oberfläche unsres Erdballs und zogen Zerstörung und Verheerung nach sich. Man braucht kaum hinzuzufügen, daß Mohammed, Soliman, die Päpste Gregor der Große und Hildebrand195-1, Karl V., die Guises, Ludwig XIV. und Karl XII. auf die gleiche Stufe zu stellen sind. Das Menschenherz ist von Grund aus verderbt, und unsre unseligen Neigungen treiben uns zum Lasier. Wie verhängnisvoll wird dem Menschengeschlecht jede Tätigkeit! Wie nutzbringend ist ihm die Trägheit!

Aber das Unglück, das unsren Erdball heimsucht, fließt aus mehr als aus einer Quelle. Mit Recht klagen wir über die zügellose Wildheit der Ehrsüchtigen. Doch die fanatische Tatkraft der Einsiedler ist uns nicht minder verderblich geworden. Wieviel Mönche haben den Geist der Zwietracht und des Aberglaubens geschürt! In aller Stille haben sie die Arme der Leichtgläubigen mit dem heiligen Schwerte bewaffnet, mit dem sie ihre Brüder abschlachteten. Ich erinnere weder an Samuel, der König Agag in Stücke zerhieb195-2, noch an Judith, die durch feigen Verrat den Holofernes umbrachte, noch an Ahab195-3, noch an die Leviten, die zwanzigtausend Kinder Israel ermordeten195-4, wohl aber an Esra195-5, der die fälschlich Moses zugeschriebenen Schriften zusammenstellte. Diese fanatischen Schriften erfüllten die Juden mit aufrührerischem Eifer. Sie brachen jeden Verkehr mit den andren Völkern ab, und leichtgläubig gegen die Träume seiner Seher, voller Zuversicht auf die Größe, die sie ihm verhießen, lehnte sich das jüdische Volt gegen das römische Joch auf und zwang dadurch Titus zur Zerstörung Jerusalems und seines Tempels (70 n. Chr.).

Ein gleiches gilt von den Evangelien, die den Aposteln zugeschrieben werden, von den Beschlüssen so vieler KirchentonzUe, die die Glaubensartikel vermehrten, um ihr Ansehen zu vergrößern. Sehr vom Übel war es, daß sie das Gedächtnis der leicht, gläubigen Christen mit einem Wust unglaubwürdiger Wunder anfüllten. Diese führten zu heftigen Streitigkeiten unter so vielen Sekten, die Europa in der Folge gespalten haben. Schließlich rief eine Menge fanatischer Schriften die Kreuzzüge hervor, so viele barbarische Kriege, die unter dem Deckmantel der Religion geführt wurden, die Errichtung des abscheulichen Tribunals195-6, das die Menschlichkeit und die Vernunft empört, das Blutbad der Bartholomäusnacht, die Metzelei in Irland195-7, die Pulververschwörung195-8 und so viele Königsmorde, über die auch die verbrecherischsten Menschen erröten sollten. Die Welt wäre glücklich gewesen, hätten solche in völligem Müßiggang lebende Skribenten nicht emsig die Feder geführt.

<196>

Es ist also bewiesen, daß Tatlust die Mutter aller Verbrechen ist. Daraus folgt, daß Trägheit, Müßiggang und Nichtstun die Anlagen sind, die uns der Tugend am nächsten bringen. Stürzt doch Tätigkeit oder Bewegung Leib und Seele in Gefahr: den Leib, denn wer nicht geht, kann nicht fallen; wer sich nicht dem tückischen Meer anvertraut, kann nicht von seinen Fluten verschlungen werden; wer sich in seinem Bette vergräbt und sein Zimmer hermetisch verschließt, hat nichts von der Gicht zu fürchten, die der Luftzug im Hause zeitigt, noch von den Leiden, die die frische Luft erzeugen kann196-1; und wer nicht im Wagen fährt, kann nicht umschlagen. Diese Wahrheiten sind zu klar, als daß man Beweise auf Beweise zu häufen brauchte. Zu ihrer Bestätigung genügt es, das Sprichwort eines geistreichen Volkes anzuführen. Die Italiener sagen: chi sta bene, non si muova196-2.

Ihr berühmten Faulenzer, die Ihr durch wohlbedachten Müßiggang alle Segnungen des Nichtstuns kennt, wähnt nicht, wir hätten den Gegenstand schon erschöpft! Man muß auch beweisen, daß Bewegung der Körperwelt ebenso schädlich ist wie der sittlichen Welt. Die ganze Natur lehrt es uns. Der erste beste Gegenstand, auf den mein Blick fällt, beweist es mir. Seht Ihr, wie die Luft vom Nordwind gepeitscht wird? Er schwellt und bläht die Wetterwolken, die über unsrem Haupte donnern und aus ihren schwarzen Weichen Blitzsirahlen, Feuersbrünste und Tod senden. Ebenso ruft die heftig bewegte Luft Stürme, Wirbelwinde und furchtbare Orkane hervor und treibt die Trümmer gescheiterter Schiffe und die Leichen ertrunkener Seeleute durch die empörten Wogen. Woher kämen Erdbeben und Vulkanausbrüche, wenn nicht von unterirdischen Stürmen, die durch die Hohlräume der Erde tosen und die Zündstoffe im Erdinnern entfachen? Dann treiben sie sie mit furchtbarem Getöse den Spalten zu, aus denen ihre Wut hervordringt und sich in Flammensirömen über die Gefilde ergießt.

Aber mag man solche Erscheinungen auch für seltene Unglücksfälle halten, die nur zeitweise eintreten und somit wenig zu fürchten sind: Man sieht doch auch sonst, daß die Bewegung das zerstörende Prinzip der Natur ist. Ihr Wesen besteht darin, daß sie unsre Organe abnutzt, die Triebfedern des Lebens durch beständige Spannung erschlafft, Krankheitskeime anhäuft, die Ursachen des Todes vorbereitet, kurz, die Atome, aus denen wir bestehen, scheidet, um sie durch eine neue Metamorphose zu neuen Wesen zusammenzusetzen. Bewegung und Veränderung sind unzertrennlich verbunden. Da nun Tätigkeit der Anlaß jeder Veränderung ist und all unser Unglück von der Unbeständigkeit der Dinge kommt, so folgt daraus mit Notwendigkeit, daß die Summe des Schlechten in dieser Welt weit größer ist als die des Guten, und daß die Tätigkeit mehr verderbliche als ersprießliche Ereignisse herbeiführt. Es ist also offenbar, daß die glücklichste Neigung des Menschen die zur Trägheit und daß Nichts, tun ein Verdienst ist; denn der erste Schritt zur Tugend ist die Abwendung vom Laster.

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Wenn wir der jüdischen Sage Glauben schenken, ruhte Gott aus, nachdem er die Welt geschaffen. Er bereute, seine Sache schlecht gemacht zu haben, und damit ihm das gleiche nicht noch einmal passierte, beschrankte er sich auf unerschütterliche Ruhe. Die Verehrer des Christentums haben ihren Gott zum Schutzpatron der Nichtstuer gemacht. Die Einsiedler, die ihr Leben in steter Untätigkeit verbringen, sind nach ihrer Behauptung seine Lieblingskinder und Auserwählten. Wahre Frömmigkeit trägt nur dann Frucht, wenn sie auf träge Seelen gepfropft wird. Glauben, ohne zu prüfen, sich von Priestern gängeln lassen, um sich die Mühe der Selbstbestimmung zu ersparen, beten, ohne zu wissen, was man sagt, schwärmen oder ins Blaue hineinträumen, nichts tun, das sind die Attribute vollkommener Heiligkeit. O seliges Nichtstun, du öffnest den Frommen mühelos die Pforten des Heiles!

Bemerkenswert isi, daß nicht nur die Religionen Trägheit predigen: auch ganze philosophische Sekten waren der gleichen Ansicht. Nach Epikur, der Leuchte des heidnischen Griechenland, bestand das höchste Glück in Tatlosigkeit. Er riet dem Weisen, sich nie in die Staatsgeschäfte zu mischen, und damit seine Götter ein ungetrübtes Glück genießen können, schrieb er ihnen vollkommene Gleichgültigkeit und Wunschlosigkeit zu. In süßer Ruhe überließen sie die Welt der Vorsehung der Natur. Unbewegt von Leidenschaften, ungestört durch Sorge und Unruhe, genossen sie die Gegenwart und fragten nicht nach der Zukunft. Eine machtvolle und tiefe Lehre, die den Menschen die große Wahrheit enthüllte, daß das meiste, was man tun kann, schlecht ist und man darum besser garnichts tut! Und da allen Sterblichen nun einmal der Tod verhängt isi und es kein Entrinnen giebt, so lehrt die Weisheit, daß man ihm so sanft wie möglich entgegengehen soll, ohne Körper und Geist unnütz dmch Trachten nach Gütern und Ehren zu ermüden, denen man doch früh oder spät entsagen muß.

O glückliche und weise Trägheit, du versöhnst die Meinungen der Frommen und der Philosophen! Wie nutzbringend isi der Hang zu dir für die Seligkeit! Wie wohltätig lindert dein Einfiuß die Bitternisse des Lebens! Du lehrst uns, die weiche Watte und die Daunenbetten unsres Lagers den Mühen und Anstrengungen der rasenden Liebhaber des Ruhmes vorziehen. Du hältst uns fern vom stürmischen Leben der Ehrgeizigen, von der Sorge, die den Staatsmännern ihre nichtigen Pläne bereiten. Du ersparst unsren zarten Ohren das rauhe Geschrei der hadernden Parteien vor Gericht, du verabscheust Prozesse und Advokaten. Du behütest uns vor dem Eifer für unsre Mitbürger, bei dem der Mensch sich selbsi vergißt und nur noch für das Glück seiner Nächsten da isi, gleich als ob wir für die Gesellschaft und nicht für nns selbsi lebten. Du verachtest die Arithmetik und zerreißest die Rechnungen in unsren Händen. Du haßt das unbequeme Sorgen und Mühen um Gelderwerb und gefällst dich im Vergeuden, wenn du Reichtümer aufgestapelt findest. Nie verband sich die Trägheit mit betrügerischem Sinn. Nie war ein Generalpächter, nie ein berufsmäßiger Spieler, nie ein Mandrin197-1 träge.

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Der weiseste aller Könige hat gesagt: alles ist eitel. Warum sich also mit eitlen Dingen befassen? Und wenn des Menschen Leben nur ein Auf und Nieder ist, warum an diesem leichtfertigen Kinderspiel Gefallen finden? Besser garnichts als Nichtiges tun. Überlassen wir die Welt der notwendigen Verkettung der Ursachen, lassen wir dem Schicksal seinen Lauf, sofern es alles bestimmt, und werfen wir uns in die weichen Arme der Trägheit! Unruhe und Sorge pochen nie an ihre Tür, die Sorge um das Morgen darf ihr nicht nahen, ja selbst das grause Gebell des Höllenhundes kann uns nicht schrecken.

O heilige, köstliche Trägheit! Einziges Glück der schönen Seelen! Deiner Tatlosigteil liegt jedes Verbrechen fern; ihr blüht der ungetrübte Genuß seligen Dahindämmerns. Schließen wir diese Betrachtungen mit dem Sprichwort, das wir schon anführten: „Schläft die Katze, so weckt sie nicht!“ Denn in jedermann steckt eine Katze, und die schlafenden sind die ungefährlichsten.

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IV. Gedächtnisreden

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Gedächtnisrede auf Prinz Heinrich den Jüngeren201-1
Gelesen in der Akademie am 30. Dezember 1767



Meine Herren!

Ein verständiger Mensch darf sich gewiß dem Kummer hingeben, wenn er mit seinem Vaterlande und einem zahlreichen Volke den Schmerz um einen unersetzlichen Verlust teilt. Es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, das natürliche Gefühl in uns zu ersticken; sie beschränkt sich darauf, die Ausbrüche der Leidenschaften in die rechte Bahn zu lenken und zu mäßigen. Sie wappnet das Herz des Weisen mit so viel Festigkeit, daß er sein Unglück mit Seelengröße trägt, würde ihn aber tadeln, wenn er Verlust und Unglück seiner Mitbürger mit dumpfer Gleichgültigkeit und kaltem Blick ansähe. Sollte ich also allein gefühllos bleiben dürfen bei dem traurigen Ereignis, das den Frohsinn Ihrer Tage trübt, bei dem düstern Schauspiel, das sich jüngst vor Ihren Augen abgespielt hat, bei dem Triumph des Todes, der sich aus dem, was er uns geraubt hat, Siegeszeichen errichtet und sich selber Beifall zollt, die Besten unter uns dahingerafft zu haben? Nein, meine Herren, mein Stillschweigen wäre strafbar; es muß mir vergönnt sein, meine Stimme mit der so vieler tugendhafter Bürger zur Klage um einen jungen Prinzen zu vereinen, den die Götter der Welt nur gezeigt und wieder genommen haben. Wohin ich meinen Blick auch wende, überall sehe ich nur gesenkte Stirnen, düstre Gesichter mit dem Stempel des Schmerzes, Tränenströme, die aus den Augen brechen; ich höre nur Seufzer und Klagen, durch Schluchzen erstickt. All das gemahnt mich an die Trauer der königlichen Familie, die, ach vergebens, den liebenswürdigen Prinzen zurückersehnt, den sie für immer verloren hat.

Die hohe Geburt, die Prinz Heinrich dem Thron so nahe stellte, war nicht die Ursache so allgemeiner Trauer: Hoheit, Glanz und Macht flößen nur Furcht ein, erzwungene Ergebenheit und Respekt, der ebenso leer ist wie das Idol, dem man ihn erweist. Stürzt das Idol, so ist es mit der Achtung vorbei, und die Bosheit schlägt<202> sie in Trümmer. Nein, meine Herren, was man am Prinzen Heinrich schätzte, ist nicht das Werk des Schicksals, sondern das Werk der Natur, seine Geistesgaben und Herzenseigenschaften, das eigenste Verdienst. Wäre er nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen, so hätte man vielleicht anstandshalber kühles Bedauern gezeigt, das die Gleichgültigkeit der Welt doch Lügen gestraft hätte, erzwungenes Lob, das man gelangweilt anhört, seichte Beileidsbezeigungen, die den größten Toren nicht täuschen, und sein Name wäre zu ewiger Vergessenheit verurteilt worden.

Doch ach! Wie anders liegen die Dinge! Wäre Prinz Heinrich nur ein einfacher Bürger gewesen, er hätte die Herzen aller gewonnen, mit denen er in Berührung kam. Fürwahr, wer konnte seinem leutseligen, gefälligen Wesen widerstehen, seiner unerschöpflichen Liebenswürdigkeit, seinem weichen und mitfühlenden Herzen, seinem adligen, schwungvollen Geiste, seinem gereiften Urteil im Alter der Verirrungen, seiner Liebe zur Wissenschaft und Tugend, die er in Jahren zeigte, wo die meisten Menschen nur Neigung zu Vergnügungen und Torheiten verspüren, kurz, dieser bewundernswerten Vereinigung von Talenten und Tugenden, der man so selten bei einem Bürgersmann begegnet und noch seltener bei Personen von hoher Geburt, da ihre Zahl weit geringer ist?

Sollte in dieser Versammlung jemand so schlecht, so boshaft sein und so hart und mitleidlos urteilen, daß er den würdigen Gegenstand unsres gerechten Schmerzes zu verhöhnen wagte und Einspruch dagegen erhöbe, daß wir heute das Gedächtnis eines Jünglings feiern, der rasch dahinging und keine Spuren seines Daseins hinterließ? Nein, meine Herren, meine Vorstellung von dem Charakter unsrer Nation ist zu hoch, um bei ihr Männer zu vermuten, die aus Gefühllosigkeit grausam und aus Widerspruchsgeist unmenschlich sind. Mag sein, daß man unsren Verlust nicht kennt; aber kennt man ihn, so muß man erschüttert sein. Sollten sich aber solche verächtlichen Splitterrichter finden, was könnten wir ihnen antworten?

Sind sie der Meinung, daß ein ganzes Volk sich täuscht, wenn es beim Tode eines jungen Prinzen Beweise tiefsten Schmerzes gibt? Glauben sie, daß man die Gunst der Öffentlichkeit ohne Verdienst gewinnt und sie in eine Art von Taumel versetzen kann? Denken sie, daß das Menschengeschlecht, das so ungern Beifall spendet, sich leicht dazu entschlösse, wenn die Tugend ihn nicht erzwingt? Mögen sie also zugeben, daß dieser Jüngling, der keine Spur seines Daseins zurückließ, unsre Trauer verdient, weil er zu den schönsten Hoffnungen berechtigte und wir nur wenige Prinzen zu verlieren haben. Rechtfertigen wir die Tränen der königlichen Familie, die Trauer der wahrhaft königstreuen Bürger und die allgemeine Bestürzung, die bei der Nach, richt von einem so schweren Verluste entstand!

Meine Herren, worauf beruht die Stärke eines Staates? Auf den weiten Grenzen, die vieler Verteidiger bedürfen? Auf den durch Handel und Gewerbfleiß angehäuften Reichtümern, deren Nutzen allein in ihrer guten Anwendung liegt? Auf zahlreichen Völkern, die sich gegenseitig vernichten würden, wenn ihnen die Führer<203> fehlten? Nein, meine Herren, das alles ist roher Stoff, der nur so weit Wert und Bedeutung hat, als Klugheit und Geschicklichkeit ihn zu kneten weiß. Die Stärke der Staaten beruht auf den großen Männern, die ihnen zur rechten Stunde geboren werden. Man durchlaufe die Weltgeschichte, und man wird sehen, daß die Zeiten des Aufstiegs und des Glanzes der Reiche die waren, wo erhabene Geister, tugendhafte Seelen, Männer von hervorragendem Talent in ihnen glänzten und die Last der Regierung unter hochherzigen Anstrengungen trugen.

Ein unbestimmtes Gefühl durchbebt die Welt, wenn Männer von hoher Geburt sterben; denn man erwartete wichtige Dienste von ihnen. Vernichtet ein rauher Winter eine zarte Pflanze kurz vor ihrer Blüte, so beklagt man das mehr als den Fall eines alten Baumes, dessen Säfte eingetrocknet sind und dessen Äste verdorren. Ebenso, meine Herren, empfindet es die Menschheit schmerzlicher, wenn ihre Hoffnungen ihr kurz vor der Erfüllung geraubt werden, als wenn ein Greis die Welt verläßt, von dessen gebrechlichem Alter wir nicht mehr so viel erwarten durften wie von seiner Jugend.

Auf wen hätten wir je festere Hoffnungen gründen können, als auf einen Prinzen, dessen geringste Handlungen uns seinen bewunderungswürdigen Charakter enthüllten, der bereits ahnen ließ, was er eines Tages leisten könnte? Ach, wir sahen den Keim von Talenten und Tugenden wachsen und gedeihen, auf einem Felde, das reiche Ernte versprach.

Die aufgeklärtesten und welterfahrensten Leute, die viel in den Herzen der Menschen geforscht haben, wissen tief in den Seelen zu lesen, welche Taten man von ihnen erwarten kann. Was fanden sie nicht alles bei dem jungen Prinzen? Eine Seele, die den Stempel der Tugend trug, ein Herz voll edler Gefühle, einen wißbegierigen Geist, einen Genius von höchstem Schwunge, ein männliches und vor der Zeit gereiftes Urteil. Wollen Sie Beispiele dafür, wieviel die Vernunft in einem so zarten Alter über ihn vermochte? Meine Herren, gedenken Sie an jene sturmbewegten, unglücksreichen Tage, da das betörte Europa sich verschworen hatte, unsre Monarchie zu stürzen, da wir rings nur Feinde sahen und es schwer war, die Freunde herauszufinden. Damals verließ der Prinz von Preußen Magdeburg, dessen Wälle der königlichen Familie als letzte Zuflucht dienten, um den König in den Feldzug von 1762 zu begleiten. Prinz Heinrich brannte darauf, wie sein Bruder in den Krieg zu ziehen; aber er begriff nicht nur, daß seine Jugend den Strapazen nicht gewachsen war, sondern auch, daß der König, sein Oheim, nicht leichtfertig alle Hoffnungen des Staates auf einmal offenen Gefahren aussetzen durfte203-1. Diese Erwägungen bestimmten ihn, sich ganz dem Studium hinzugeben. Er sagte, er wolle jeden freien Augenblick, den er nicht dem Ruhme weihen könnte, nutzbringend anwenden. Seine<204> Fortschritte entsprachen seinem Entschluß. Er betrieb das Studium nicht wie die leichtfertige und verdorbene Jugend, die nur aus Furcht vor den Lehrern arbeitet und rasch die lästigen Pflichten erfüllt, um sich dann dem Müßiggang oder besser gesagt, zügellosen Ausschweifungen hinzugeben, wozu schlechtes Beispiel ihr nur allzu oft den Weg weist.

Unser Prinz blickte klarer. Er wußte, daß die Natur ihm, wie allen Menschen, nur die Fähigkeit, sich zu unterrichten, verliehen hätte, daß er daher alles lernen müßte, was ihm unbekannt wäre. So füllte er denn sein Gedächtnis, diese kostbare Vorrats, kammer, mit Kenntnissen an, von denen er sein Leben lang Gebrauch machen konnte. Er war überzeugt, daß die Einsicht, die man durch das Studium gewinnt, die Erfahrung frühzeitig reift, und daß eine gründlich durchdachte Theorie die Praxis leicht macht. Wollen Sie wissen, welch weites Gebiet von Kenntnissen er umfaßte? Er beherrschte die Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Mit besonderem Fleiße hatte er sich die Charaktere der großen Männer, die wichtigsten, auffälligsten Ereignisse eingeprägt. Er wußte, was zum Aufstieg und Untergang der Reiche am meisten beigetragen hat. Diese kostbare, erlesene Auswahl aus der Geschichte hatte er sich ganz zu eigen gemacht.

Es gab kein militärisches Werk von einigem Rufe, das er nicht studiert und über das er nicht die Meinung erfahrener Leute eingeholt hätte. Wollen Sie noch unzweideutigere Zeugnisse für seinen Eifer, sich gründlich zu unterrichten? Vernehmen Sie denn, meine Herren: er hatte die verschiedenen Befestigungssysteme durchgenommen; da er sich aber auf diesem Gebiet noch nicht so erfahren fühlte, wie er gewünscht hätte, nahm er sechs Monate lang Unterricht bei Oberst Ricaud204-1, ohne daß ihn jemand dazu angeregt hätte, ja, ohne Vorwissen seiner Eltern! O Jüngling! Welch ein Beispiel gabst Du der schlaffen und trägen Jugend, die man zum Lernen zwingen muß! Was durfte man sich von Deinen glücklichen Anlagen nicht alles versprechen! Wollen Sie schlagende Beispiele für die Gründlichkeit seines Geistes? Verkünden wir offen die Wahrheit. Sprechen wir es vor dieser erlauchten Versammlung aus, was wenigstens einem Teil ihrer Mitglieder schon bekannt sein muß! Mit achtzehn Jahren wußte der Prinz die Systeme von Descartes, Leibniz, Malebranche und Locke darzustellen. Ja, sein Gedächtnis hatte nicht allein alle diese abstrakten Dinge erfaßt; seine Urteilskraft hatte sie auch geläutert. Er war erstaunt, in den Forschungen dieser großen Geister weniger Wahrheiten als geistreiche Voraussetzungen zu finden204-2, und er war mit Aristoteles zu der Ansicht gelangt, daß der Zweifel der Vater der Weisheit sei.

Sein gesundes Urteil, das ihn bei allen seinen Schritten leitete, hieß ihn in der Mathematik sich auf das Studium der Elemente des Euklid beschränken. Die höhere Geometrie überließ er, wie er sagte, müßigen Köpfen, die sie als eine Art geistigen<205> Luxus pflegen könnten. Wird die Nachwelt glauben, daß der liebenswerte Prinz, der kaum die Schwelle des Heiligtums der Wissenschaften betreten hatte, so viele in ihrem Amte ergraute Gelehrte beschämte, die nur ihr Gedächtnis anfüllen, ohne ihren Verstand aufzuklären?

Ein guter Kopf ist fähig, sich auf jedem Gebiet zu betätigen. Er gleicht einem Proteus, der mühelos seine Gestalt wechselt und stets wirklich als das erscheint, was er darstellt. Mit dieser glücklichen Anlage geboren, bezog unser Prinz auch die Praxis der Kriegskunst in den Kreis seiner Kenntnisse ein. Für alles, was er unternahm, schien er geschaffen. Sein Wetteifer und seine militärische Neigung traten besonders bei den jährlichen Revuereisen hervor, die er im Gefolge des Königs durch alle Provinzen unternahm. Er kannte die Armee und war ihr bekannt. Er beherrschte die gefahrvolle Kriegskunst von den geringsten Einzelheiten bis zu den schwersten Aufgaben. Dabei war er stets guter Laune, mäßig in seinen Sitten, geschickt in allen Leibesübungen, beharrlich in seinen Unternehmungen, unermüdlich in der Arbeit und ein Freund von allem, was nützlich und ehrenvoll ist.

So viele hervorragende Talente, mit denen die Natur Prinz Heinrich begabt hatte, würden jedoch kein vollkommenes Lob ausmachen, ohne die Eigenschaften des Herzens, die für alle Menschen, besonders aber für die Großen so wichtig sind. Sie setzten seinem Charakter erst die Krone auf.

Hier eröffnet sich meinem Blick ein viel weiteres Feld, das mir eine reiche Ernte von Tugenden schenkt. Ein Jüngling, kaum in dem Alter, wo die Seele sich zu entwickeln beginnt, bietet mir eine Fülle von Beispielen der Vollkommenheit. Ich behaupte nichts, meine Herren, was ich nicht mit Beweisen belegen kann. Wie sehr ich auch an dem Prinzen hing, meine Liebe würde mich doch nicht so sehr verblenden, daß ich Augenzeugen täuschen wollte. Aber wer will mich Lügen strafen, wenn ich sage/ daß Prinz Heinrich, der mit feurigem Gemüt geboren war, seine Lebhaftigkeit durch Klugheit zu zügeln wußte? Wer immer die Ehre hatte, ihm näherzutreten, wußte, daß man ihm ruhig sein Herz ausschütten konnte, ohne befürchten zu müssen, daß er ein ihm anvertrautes Geheimnis verriete. Sein Herz war das Schönste und Edelste an ihm. Er war sanftmütig gegen alle, die ihm nahten, mitleidig gegen die Unglücklichen, zärtlich gegen die Leidenden, menschlich gegen jedermann. Er teilte den Gram der Betrübten, trocknete die Tränen der vom Schicksal Verfolgten und überschüttete die Dürftigen mit Wohltaten. Nichts war ihm zu kostbar, um den Notleidenden Linderung zu schaffen. Euch rufe ich zu Zeugen, ihr darbenden Familien, denen er mit allen Kräften beistand, ihr verschämten Armen, die bei ihm stets sichere Zuflucht fanden, ihr Unglücklichen jeder Art, die in ihm einen Wohltäter, einen Vater verloren! Die Herzensgüte war ihm angeboren. Es kostete ihm so wenig, sie zu betätigen, daß man deutlich erkannte: sie floß aus einer lauteren unerschöpflichen Quelle. Warum ließ ein feindliches Geschick sie so bald versiegen? Soll ich die kurze Zeit vergessen, die er bei seinem Regiment zugebracht hat? Ihr, seine Offiziere, und<206> Ihr, tapfere Kürassiere, die stolz waren, unter ihm zu dienen: wird einer unter Euch mir widersprechen, wenn ich sage: Ihr habt ihn nur durch seine Wohltaten kennen gelernt, und dieser junge Prinz konnte Euch allen Führer und VorbUd sein?

Sie wissen es selbst, meine Herren, daß völlige Uneigennützigkeit die Quelle ist, aus der alle Tugenden stießen. Der Selbstlose zieht Ehre und Ruf den Vorteilen des Reichtums vor, Billigkeit und Gerechtigkeit den Trieben zügelloser Begehrlichkeit, die Wohlfahrt von Staat und Gesellschaft dem Eigennutz und dem Vorteil der Familie, das Hell und die Erhaltung des Vaterlandes der Selbsterhaltung, den Gütern, der Gesundheit, dem Leben. Kurz, sie erhebt den Menschen über das Menschliche und macht ihn fast zum Bürger des Himmels. Diese edle, hochherzige Gesinnung äußerte sich in allen Handlungen des Prinzen. Wie sehr wünschte er seinem Bruder, dem Prinzen von Preußen, eine fruchtbare Ehe! Obwohl er sich nicht verhehlen konnte, daß die Kinderlosigkeit dieser Ehe ihm die Anwartschaft auf den Thron brächte, war er aufrichtig erfreut, als er die Entbindung der Prinzessin Elisabeth, seiner Schwägerin, erfuhr, und bedauerte allein, daß sie keinem Prinzen das Leben geschenkt hatte206-1! Es fiele mir nicht schwer, Ihnen noch ähnliche Züge anzuführen, die Sie mit Liebe erfüllen und zur Bewunderung hinreißen würden. Aber gestatten Sie mir, daß ich hierbei stehen bleibe und den Schleier nicht lüfte, der den ungeweihten Blicken verbirgt, was im Innern des Königshauses vorgeht.

Wer sollte nach allem, was Sie vom Prinzen Heinrich vernommen haben, nicht befürchten, daß die außerordentliche Selbstzufriedenheit aller Menschen, die Bedeutung, die sie ihren geringsten Handlungen zuschreiben, die schmeichlerische Neigung, sich selbst Beifall zu zollen, das Herz eines Jünglings mit einer stets abstoßenden, wenn auch nicht ganz unbegründeten Eitelkeit geschwellt hätte! Welche Klippe für die Eigenliebe bilden so zahlreiche Talente, ja selbst so viele Tugenden! Zum Glück hatten wir für ihn nichts zu befürchten. Etwas Höheres bewahrte ihn vor dieser gefährlichen Klippe. Ich berufe mich auf den Hof, die Hauptstadt, die Armee, die Provinzen, auf Sie selbst, meine Herren! Sie wissen, seine schöne Seele war die einzige, die mit sich selbst nicht zufrieden war. Die Eigenschaften, die er besaß, genügten ihm nicht; er machte sich einen höheren Begriff von denen, die er zu erwerben hoffte. Das war es, was seinen Eifer entstammte, sich die ihm fehlenden Kenntnisse anzueignen. Er wollte auf allen Gebieten der Vollendung so nahe kommen, wie es der menschlichen Schwachheit verstattet ist. Aber wenn auch Eitelkeit ihm eine lächerliche Schwäche deuchte, so war er doch gegen die Lockungen des Ruhmes nicht fühllos. Welcher tugendhafte Mensch hat den Ruhm je verschmäht? Er ist die letzte Leidenschaft des Weisen; die strengsten Philosophen haben ihn nicht auszurotten vermocht. Gestehen wir es offen: das Streben nach dauerndem Ruhme ist die mächtigste und Hauptsächlichste Triebfeder der Seele, ist die Quelle und ewige Grundlage der Tugend.<207> Aus ihr entstehen alle Taten, durch die sich die Menschen unsterblich machen. Prinz Heinrich wollte seinen Ruf nicht der niedrigen Gefälligkeit des Pöbels verdanken, des verächtlichen Anbeters des Glücks, der seine Abgötter knechtisch beweihräuchert, auch wenn sie verdienstlos sind. Er strebte nach einem Ruhme, der von seiner Person unzertrennlich war und den kein Neid anzweifeln tonnte. Er wollte keinen erborgten Namen, sondern echten, von einem unveränderlichen Charakter getragenen Ruhm.

Was erhofften wir nicht alles von so vielen bewundernswerten Eigenschaften, die mit so großer Bescheidenheit gepaart waren! Mit welchem Vergnügen zeichneten wir nicht schon im voraus die Taten auf, die dieser große Prinz uns versprach! Wir sahen ihn in die Welt treten, die Bahn des Ruhmes tat sich vor ihm auf. Wir glaubten einen Wettläufer zu sehen, der seinen Lauf glorreich vollenden würde. Seine blühende Jugend schwellte unser Hoffen. Schon im voraus genossen wir alle seine Verdienste. Ach! Wir wußten nicht, daß ein düsteres Verhängnis ihn uns so bald rauben würde!

Weh mir! Soll ich Ihren Schmerz erneuern und den Quell Ihrer Tränen abermals stießen lassen? Soll meine Hand aufs neue den Dolch in Ihr noch blutendes Herz stoßen? Umsonst, meine Herren, wäre mein Bemühen, Ihnen unsren gemeinsamen Verlust zu verhehlen. Er ist leider nur zu wahr! Ohnmächtige Redner, was vermögt ihr, um einen so heftigen Schmerz zu lindern? Weint lieber mit allen Weinenden ringsum!

Wie Sie wissen, wurde Prinz Heinrich plötzlich von einer ebenso heftigen wie furchtbaren Krankheit ergriffen. Der Prinz, der keine Furcht kannte, scheute sich auch nicht vor den Blattern, obwohl sie im letzten Winter so große Verheerungen angerichtet hatten und fast jedermann mit Schrecken erfüllten. Bewundern Sie seine Menschlichkeit! Als die Ärzte ihm seine Krankheit nannten, verboter allen seinen Dienern den Zutritt, die bisher von den Blattern verschont geblieben waren. Einer seiner Kammerdiener, auf den dies zutraf, durfte ihn daher nicht bedienen. Der Prinz sagte, wenn man ihm seine Ruhe nicht rauben wolle, müsse man ihn allein die Gefahr bestehen lassen und ihn nicht dem aussetzen, andre anzustecken. Ein Flügeladjutant des Königs, der keine Blattern gehabt hatte, erbot sich, bei ihm zu wachen, aber der Prinz ließ es nicht zu. Er fürchtete, das Leben seiner Umgebung in Gefahr zu bringen, und trotzte selbst der Gefahr. Diese Herzensgüte und edle Gesinnung, diese hochherzige Denkweise, diese Menschlichkeit, die Krone aller Tugenden, kennzeichneten ihn bis zum letzten Augenblick. Geduldig ertrug er sein Leiden, blickte dem Tod furchtlos entgegen und starb wie ein Held.

Für die königliche Familie war diese ebenso unverhoffte wie unheilvolle Nachricht ein Donnerschlag. Ach! Wir alle schmeichelten uns mit Hoffnungen, suchten uns zu tauschen und verbannten aus unsrem Geiste die finstern Bilder, deren schmerzlicher Eindruck unser Gemüt verwundete. Die Ärzte, die durch ihre beschränkte Kunst zu bloßen Augenzeugen der Krankheit herabsinken, wiegten uns noch in trügerische<208> Sicherheit, als plötzlich die düstere Trauerkunde unser Hoffen vernichtete und uns in den Abgrund des Schmerzes stürzte.

Gedenken Sie, meine Herren, des Schicksalstages, da das schnell sich verbreitende Gerücht uns plötzlich die traurigen Worte verkündete: „Prinz Heinrich ist tot!“ Welche Bestürzung! Welch aufrichtige, wenn auch vergebliche Klagen! Wieviel Tränen! Nein, das war kein geheucheltes Beileid, sondern der aufrichtige Schmerz eines aufgeklärten Volkes, das die Größe seines Verlustes ermißt. Die Jugend klagte: „Weshalb mußte der sterben, auf den wir so viele Hoffnungen bauten!“ Die Greise sagten: „Er hätte leben und wir sterben sollen!“ Ein jeder glaubte in ihm einen Verwandten, einen Freund, ein Vorbild, einen Wohltäter verloren zu haben. Marcellus, in der Blüte seines Lenzes dahingerafft208-1, wurde weniger betrauert; der Verlust des Germanicus208-2 hat den Römern nicht so viele Tränen entlockt. Der Tod eines Jünglings ward zum Unglück für das ganze Land.

O unseliger Leichenzug! Dein Weg wurde mit Strömen von Tränen benetzt. Nur durch Seufzen und Schluchzen, durch das Klagegeschrei des Voltes und alle Zeichen der Verzweiflung konntest Du zum Grabe gelangen!

Das, meine Herren, ist das Vorrecht der Tugend, wenn sie in ihrer ganzen Reinheit erstrahlt: So sehr die Menschen auch zum Lasier neigen, sie müssen doch zu ihrem eignen Besten die Tugend lieben und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der aufrichtige Beifall eines ganzen Volles, das allgemeine Zeugnis der öffentlichen Hochachtung, das Lob, das Prinz Heinrich nach seinem Tode gezollt ward, also zu einer Zeit, wo er jeder Schmeichelei entrückt war, — gehört das alles nicht zu jenen einmütigen Kundgebungen, worin die Stimme Gottes sich durch die Stimme eines ganzen Volkes zu offenbaren scheint? Messen wir also das Leben der Menschen nicht nach seiner längeren oder kürzeren Dauer, sondern nach dem Gebrauche, den sie von der Zeit ihres Daseins gemacht haben. O liebenswerter Prinz! Deine Weisheit ließ Dich diese Wahrheit einsehen. Dein Lebenslauf war kurz, aber Deine Tage waren inhaltsreich. Du selbst würdest die kurze Frist, die das Schicksal Dir beschieden hatte, nicht beklagen, wenn Du wüßtest, wie heiß Du geliebt wardst, wie viele Herzen Dir treu zuschlugen, wie großes Vertrauen die Welt auf Dein Talent setzte. Was konnte ein längeres Leben Dir wohl mehr bieten?

Ach! meine Herren, diese traurigen Betrachtungen vermögen unsren Gram nicht zu lindern. Im Gegenteil, sie mehren ihn nur! Sie gemahnen uns an alle Vorzüge, die wir genießen sollten, und die nun so plötzlich entschwunden sind. Eine Schicksalsstunde hat auf ewig unsre Hoffnung vernichtet, so viele Tugenden zum Wohle des Vaterlandes leuchten zu sehen. O unseliger Tag, der uns eine so süße Hoffnung raubte! Grausame Krankheit, die ein so schönes Leben abkürzte! Erbarmungsloses Geschick, das den Liebling des Volkes raubte — warum lassest Du uns noch das<209> Licht genießen, das Du ihm genommen hast? Doch was sage ich? Wohin verirrt sich mein Schmerz? Nein, meine Herren, unterdrücken wir dies ebenso sträfliche wie vergebliche Murren. Achten wir die Beschlüsse der Vorsehung und bedenken wir, daß wir als Menschen dem Leid unterworfen sind. Der Feige erliegt unter seiner Last, aber der Beherzte erträgt es standhaft. Könnte dieser liebenswerte und geliebte Prinz unsre Klagen und die Schmerzenslaute so vieler Leidtragenden hören, er mißbilligte diese traurigen Zeugnisse unsres ohnmächtigen, fruchtlosen Schmerzes. Er würde denken: da er uns in der kurzen Frist seines Lebens nicht so nützlich sein konnte, wie es in seiner edlen Absicht lag, so sollten wir zum mindesten aus seinem Tode eine Lehre ziehen.

O Ihr, erlauchte Jünglinge, die Ihr Euch dem Waffenberufe widmet und nur für den Ruhm lebt, tretet an sein Grab! Erweist die letzte Pflicht dem Prinzen, der mit Euch wetteiferte und Euch ein Vorbild war! Seht, was uns von ihm bleibt: ein entstellter Leichnam, Gebeine, Asche, Staub — das gemeinsame Schicksal aller, die des Todes Sense weggemäht hat! Doch bedenkt zugleich, was ihn unvergänglich überlebt, das Andenken an seine hohen Eigenschaften, das Beispiel seines Lebens, das Vorbild seiner Tugenden. Mir ist, als sähe ich seine erloschene Asche sich aufs neue beleben, aus dem Grab auferstehen, in dem seine kalten Überreste ruhen, und also zu Euch sprechen: „Euer Leben ist eng begrenzt, wie lange es auch währe. Eines Tages werdet Ihr alle die sterbliche Hülle ablegen. Benutzt die Frist zur Tätigkeit. Seht, wie rasch meine Tage entschwanden. Soll Euer Andenken Euch überleben, so beherzigt, daß Euer Name nur durch edle Taten und Tugenden der zerstörenden Zeit und dem Dunkel der Vergessenheit entgeht.“

Auch Ihr, tapfere Verteidiger des Vaterlandes, die Ihr mit beispielloser An, strengung dem Ansturm ganz Europas Trotz botet, Ihr, höchste Diener des Staates, die Ihr in Euren verschiedenen Ämtern für das öffentliche Wohl wirkt, tretet an das Grab dieses Jünglings! Möge er, den wir wegen seiner Talente und seltenen Tugenden betrauern, Euch in dem Glauben befestigen, daß nicht hohe Würden noch äußere Ehrenzeichen, noch selbst die erlauchteste Geburt denen Achtung erwirbt, die an der Spitze der Völker stehen. Nur ihre Verdienste, ihr Eifer, ihre Arbeit, ihre treue Hingabe an das Vaterland können ihnen den Beifall des Volkes, der Weisen und der Nachwelt erwerben.

Da ich Euch alle an das Grab geführt habe, wie könnte ich allein nicht heran, treten? Mein Prinz! Du wußtest, wie teuer Du mir warst, wie wert ich Dich hielt! Kann die Stimme der Lebenden zu den Toten dringen, so leihe Dein Ohr einer Stimme, die Dir nicht fremd war, und erlaube, daß ich Dir dies vergängliche Denk, mal errichte, das einzige, ach, das ich Dir setzen kann! Versage es einem an Dir hängenden Herzen nicht, von Deinem Schiffbruch so viel Trümmer zu retten, als es vermag, um sie im Tempel der Unsterblichkeit niederzulegen. Ach! Solltest Du mich lehren, wie sehr der Mensch mit den wenigen ihm beschiedenen Tagen Haus<210>halten muß? Sollte ich von Dir lernen, dem herannahenden Tode zu trotzen, ich, den Alter und Hinfälligkeit jeden Tag mahnen, daß er dicht am Ziel seines lebens sieht? Nie wird Dein herrlicher Charakter aus meinem Gedächtnis entschwinden. Ewig wird mir das Bild Deiner Tugenden gegenwärtig sein. Ewig wirst Du in meinem Herzen leben. Dein Name wird sich in alle meine Gespräche mischen, und Dein Andenken wird erst mit dem letzten Atemzuge in mir erlöschen. Schon sehe ich das Ende meiner Laufbahn und den Augenblick, teurer Prinz, wo das höchste Wesen unser beider Asche auf immer vereinen wird.

Der Tod, meine Herren, ist uns allen beschieden. Wohl denen, die mit dem tröstlichen Bewußtsein sterben, daß sie die Tränen der Überlebenden verdienen!

<211>

Gedächtnisrede auf Jordan (1746)211-1

Charles Etienne Jordan wurde am 27. August 1700 in Berlin geboren, als Sohn einer guten Bürgerfamilie aus dem Dauphiné. Sein Vater hatte die Heimat aus religiösen Gründen verlassen. Er bewahrte sich jenen glühenden Eifer, der, lediglich bemüht, den Himmel zufrieden zu stellen, die Dinge dieser Welt nicht immer gerecht und unparteiisch beurteUt. Er hatte seine drei ältesten Söhne zu Kaufleuten bestimmt und widmete den jüngsten der Kirche, ohne seine Neigungen und Talente zu berücksichtigen.

Der junge Jordan besaß eine Leidenschaft für Studium und Wissenschaft. Begierig verschlang er alle Bücher, die ihm in die Hände fielen. Darin folgte er jenem unwiderstehlichen Drang, dem Merkmal aller großen Talente, das die Natur jedem in verschiedener Weise aufprägt. Sein Vater ließ sich dadurch täuschen und verwechselte einen Gelehrten mit einem Pfarrer oder Theologen. Er schickte seinen Sohn nach Magdeburg, wo er unter Leitung seines Onkels, der dort Pfarrer war, seine Studien begann. Im Jahre 1719 ging er nach Genf, wo er bei den tüchtigsten Lehrern der Philosophie, Beredsamkeit und Theologie weiterstudierte. Nachdem er die Geistesschätze Genfs, wenn ich so sagen darf, in sich aufgenommen hatte, eilte er nach Lausanne, um dort aus neuen Quellen neue Kenntnisse zu schöpfen.

Im Jahre 1721 nach Berlin zurückgekehrt, machte er die Bekanntschaft von La Croze211-2, der ihn aus Freundschaft in den Sprachen und Wissenschaften unter, richtete. Aus Gehorsam gegen den Willen des Vaters setzte er seine theologischen Studien fort, und nachdem er alle Vorstufen bis zum Pfarrer durchlaufen hatte, wurde er 1725 mit dieser Würde bekleidet. Er erhielt die kleine Pfarre in Potzlow, einem märkischen Dorfs.

Bei seiner Jugend, der sprudelnden Lebhaftigkeit seines Geistes und seiner Vor, liebe für ein Wissensgebiet, das von der Theologie weit ablag, fühlte Jordan die ganze Schwere des Opfers, das er seinem Vater gebracht hatte. Zum Troste versetzte man ihn 1727 aus seinem Dorfe nach Prenzlau. Aber auch dort war der Wirtungskreis für Jordan zu eng. Ein edler Renner war vor einen Pflug gespannt. Bei seinem Fleiß und seinem guten Gedächtnis war er mit seiner Bibliothek bald zu Ende.

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Ein Mann in seinen Jahren konnte und durfte sich auf den Verkehr mit Toten nicht beschränken; er mußte auch die Gesellschaft der Lebenden genießen. Darum ging er die Ehe mit einem Mädchen ein, das die seltenen Gaben der Schönheit, Tugend und Klugheit vereinigte: Susanne Perreault, die ihm in den fünf Jahren ihrer Ehe zwei Töchter schenkte.

Derselbe Geist, der den Menschen die Neigung zur Wissenschaft einstößt, treibt sie auch zu treuer Pflichterfüllung. Je sicherer das Urteil, je klarer die Begriffe, je folgerichtiger das Denken, desto mehr neigt der Mensch zur makellosen Erfüllung seiner Berufspflichten, welches Amt ihm auch anvertraut sei. So handelte auch Jordan. Gab es Zwistigkeiten in der Herde, deren Seelenhirt er war, er brachte ihr Worte des Friedens und arbeitete mit unermüdlicher Tatlusi an der Versöhnung der Geister. Er tröstete die Betrübten. Er ließ sein Studium, sein Weib und alles, was ihm teuer war, im Stich, um denen die Ruhe und den Seelenfrieden wiederzugeben, die sie durch schweren Kummer und geringe Selbstbeherrschung verloren hatten. Kranke und Sterbende, mochten sie auch dem niedrigsten Stande, dem verachtetsten Menschenschlag angehören, fanden bei Jordan mitfühlenden, liebevollen Beistand in ihren letzten Stunden. Ohne ihn wären sie in ihrem Leiden ohne Hilfe gewesen und ohne Tröstung gestorben.

Durch seinen stets dienstfertigen Charakter, seine sich nie verleugnende Herzens, güte, seinen unerschöpflichen Schah an Menschenliebe, kurz durch alle seine guten Eigenschaften erwarb sich Jordan die Liebe und Achtung aller Franzosen, die in, folge der Widerrufung des Edikts von Nantes (1685) nach Prenzlau gekommen waren. Nahm er aber an ihrem Unglück und ihren Trübsalen Anteil, so waren sie ebenso mitfühlend beim Tode seiner Frau, die er im März 1732 verlor. Bei der Lebhaftigkeit seines Temperaments und der Macht der Leidenschaften über die Jugend vermochte Jordan diesen Verlust nicht mit stoischer Ruhe zu ertragen: ein wahres Bild der menschlichen Ohnmacht, die uns zwar mit Vernunftgründen über die Schwäche der andren triumphieren läßt, uns aber die Waffen entwindet, wenn das Unglück uns selbst trifft! Schmerz und Kummer nagten an ihm. Seine Gesundheit litt darunter derart, daß er mehrfach Blut hustete und fast seiner Gattin ins Grab nachgefolgt wäre. Seine Krankheit artete in Schwermut aus. Unter diesem Vorwand legte er die geistliche Würde nieder, um in Berlin die Freuden des Studiums und der Ruhe zu genießen.

Bei derartigem Herzenskummer ist die Betrübnis um so hartnäckiger, als man sie durch ein edles Motiv gerechtfertigt glaubt. Alles, was an den erlittenen Verlust gemahnt, reißt die Wunde von neuem auf, und Beständigkeit und Treue bohren den Dolch der Schwermut hinein. Ablenkung und Zeit allein vermögen sie zu heilen.

Solche Gründe, verbunden mit dem Drängen seiner Verwandten, bestimmten Jordan zu einer Reise nach Frankreich, England und Holland. Ihm lag nichts daran, das Schauspiel der wechselnden Weltbühne zu genießen. Bei seiner Neigung<213> zur Philosophie und zum Studium erhielt seine Reise wissenschaftliche Bedeutung. Er beschränkte sich nicht darauf, sich Paläste anzusehen, Bauwerke zu betrachten, die verschiedenen Gebräuche eines fremden Landes zu studieren, — die einzige Frucht, die die Jugend bei ihrem Leichtsinn und ihrer geringen Urteilskraft von ihren Reisen mitzubringen pflegt. Denn fürwahr: welchen Nutzen kann man aus dem Besuch jener örtlichkeiten ziehen, die nur das Werk des Luxus und oft der Verschwendung sind? Sein Ziel war lediglich, die großen Männer kennen zu lernen, die durch umfassenden Geist, hohe Gesinnung und Gelehrsamkeit ihrem Vaterland und Zeitalter zur Zierde gereichen. Ich nenne Ihnen nur die Namen's Gravesande, Muschenbroek213-1, Voltaire, Fontenelle, Dubos, Clarke,Pope,Moivre213-2 und übergehe viele andre der Kürze halber. Diese berühmten Männer wollte Jordan sehen; er war würdig, ihre Bekanntschaft zu machen. So reisten die Römer einst nach Griechenland, besonders nach Athen, um ihren Geist und Geschmack in jenem Lande zu bilden, das damals die Wiege der Künste und die Heimat der Talente war. Er befriedigte seine Wißbegier: das fiel ihm nicht schwer. Er wollte auch sein Herz befriedigen und verfaßte eine Reisebeschreibung213-3, in der er dem schönen Geist und den Talenten jener seltnen Männer Gerechtigkeit widerfahren ließ, denen er zeitlebens Hochachtung bewahrte. Wie schwer fällt es doch der Eigenliebe, dem Verdienst reine und völlig neidlose Be, wunderung zu zollen! Die guten Eigenschaften unsrer Nächsten, insbesondre derer, die mit uns in der gleichen Bahn laufen, scheinen die eignen zu verdunkeln. Ja, wie selten gehen Bescheidenheit und Unparteilichkeit mit viel Geist und Kenntnissen Hand ln Hand! Das war eine besondre Tugend bei Jordan, der er sein Leben lang treu geblieben ist und ohne die er nicht die große Zahl von Freunden hinterlassen hätte, die seinen Verlust ehrlich betrauerten.

Nach Berlin heimgekehrt, schloß er sich wieder ln sein Arbeitszimmer ein und widmete sich ganz dem Studium, voll des edlen Wetteifers, der strebsame Geister zu steter Vervollkommnung treibt. Er las alles und vergaß nichts von dem Gelesenen. Sein umfassendes Gedächtnis war sozusagen ein Repertorium aller Bücher, Les, arten und Ausgaben und der merkwürdigsten Anekdoten auf diesem Gebiete.

Bei seinem Geist, seinen Verdiensten und besonders bei seinem guten Charakter blieb Jordan nicht lange in der Stille seines Arbeitszimmers verborgen. Der da, malige Kronprinz und jetzige König berief ihn im September 1736 in seinen Dienste213-4. Seitdem verbrachte er sein Leben in Rheinsberg, wo er sich abwechselnd dem Studium und der Geselligkeit widmete und von allen geliebt und geachtet wurde. Mit gründ, lichen Kenntnissen verband er die Höflichkeit, die der Verkehr in der großen Welt<214> zeitigt. Er glättete die Runzeln der Wissenschaft und führte sie bei Hofe in reizvollem und galantem Gewande ein.

Nach dem Tode Friedrich Wilhelms I. setzte ihn der König in den Stand, seine Geistesgaben und Herzenstugenden dem Vaterlande nutzbar zu machen. Er erhielt den Titel eines Geheimen Rats und wandte seinen ganzen Scharfsinn zum Vorteil des Staates auf214-1. Ihm verdankt Berlin das neue Polizeireglement, durch das die jetzige gute Ordnung eingeführt worden ist. Alle Straßen wurden von dem herumlungernden Volke der Müßiggänger gesäubert, die durch ihre klägliche Erscheinung das Mitleid der Bürger mißbrauchten. Unter seiner Leitung erstand ein Arbeitshaus, in dem tausend Menschen, die sonst ihren Mitbürgern auf der Tasche lagen, sich durch ihrer Hände Fleiß ernähren und ihre Fähigkeiten zum allgemeinen Besten nutzen können. Die Hauptstadt wurde in Bezirke eingeteilt, deren jeder einen Vorsieher erhielt, der über die Ausführung der Polizeivorschriften wacht. Mit Umsicht und Menschenkenntnis wurden tüchtige, gelehrte Professoren an die Universitäten berufen. Alle diese neuen Einrichtungen und die Fürsorge für die Universitäten214-2<215> verdanken wir der Tätigkeit Jordans. Im Jahre 1744, bei Erneuerung der Königlichen Akademie der Wissenschaften und schönen Literatur, wurde er zu ihrem Vizepräsidenten gewählt.

Man sage ja nicht, die Pflege der Künste und Wissenschaften mache die Menschen ungeschickt zu Geschäften. Ein guter Kopf leistet auf allen Gebieten gleich Tüchtiges. Die Pflege der Wissenschaften würdigt den Menschen nicht nur nicht herab, sondern verleiht ihm in allen Ämtern neuen Glanz. Die großen Männer des Altertums bildeten sich unter der Obhut der Wissenschaften, wenn ich so sagen darf, ehe sie die Staatsämter bekleideten. Alles, was den Geist klärt, das Urteil festigt und die Kenntnisse erweitert, bildet sicherlich Menschen, die allen Ansprüchen gewachsen sind. Sie gleichen wohlgepfiegten Pflanzen, deren Blüten und Früchte von erlesenerer Schönheit und köstlicherem Geschmack sind als die wildwachsenden Bäume des Waldes, die sich selbst überlassen, aufs Geratewohl gedeihen und deren wunderlich verkrüppelte Äste nicht einmal schön aussehen.

Als der König nach Kaiser Karls VI. Tode an der Spitze seiner Heere in Schlesien einrückte, um das Erbe seiner Väter heimzufordern, das Österreichs Übermacht ihm unter Mißachtung seiner Ansprüche lange Zeit vorenthalten hatte, begleitete Jordan den Monarchen 1741 ins Feld und verband so die sanfte Pflege der Musen mit dem Waffenlärm und dem Getümmel eines Heeres, dessen Bewegungen und Operationen ununterbrochen währten.

Aber trotz dieser Feldzüge und seines häufigen Erscheinens bei Hofe fand Jordan noch Zeit zur Arbeit an verschiedenen Werken, die er uns hinterließ — eine lateinische Dissertation über Leben und Schriften des Giordano Bruno (1726), ein „Recueil de littérature, de philosophie et d'histoire“ (1730) und die „Histoire de la vie et des ouvrages de M. La Croze“ (1741), ungerechnet einige Manuskripte, die er aus Bescheidenheit nicht veröffentlichte. Er pflegte zu sagen, man müsse in die Finsternisse hineinleuchten, die die neidische Natur den Menschen offenbar zu verbergen wünscht, müsse die Welt durch neue Tatsachen belehren, die ihre Aufmerksamkeit verdienen, müsse die Trockenheit des Gegenstandes fruchtbar zu machen verstehen und ein entfleischtes Skelett mit den Zügen und Körperformen der Mediceischen Venus zu umkleiden wissen, wenn man seine Werke veröffentlichen und die Druckerpresse in Bewegung setzen wolle. Peinlich kritisch war er allein gegen seine eignen Werke. Ja, er schien zu bedauern, daß er seine Erstlingsarbeiten nicht unterdrückt hatte. Er bezwang seine Eigenliebe, verbesserte seine neuen Schriften immer wieder und glaubte, bei all seiner Arbeit und Beharrlichkeit der Öffentlich, keit nicht genug Beweise jener Hochachtung und Ehrerbietung geben zu können, die ein Autor ihr schuldet.

Den Vorzügen, die Jordan besaß, war leider nur eine kurze Frist beschieden. Die Wissenschaften, das Vaterland und sein Gebieter verloren ihn durch eine lange, schmerzhafte Krankheit, die ihn am 24. Mai 1745 im Alter von vierundvierzig Jahren<216> und etlichen Monaten dahinraffte. Mit unerschöpflicher Geduld ertrug er sein Leiden, das mit der Zeit immer drückender wurde, ein Leiden, dessen Last für die festesten Seelen oft unerträglich wird, ja selbst für die, deren Standhaftigkeit in den größten Gefahren unerschüttert bleibt.

Jordan war mit lebhaftem, durchdringendem Geiste begabt und zugleich bienenfleißig. Sein Gedächtnis war umfassend und bewahrte wie eine Vorratskammer eine Auslese des Besten, was die guten Schriftsteller aller Zeiten hervorgebracht haben. Sein Urteil war sicher, und seine glänzende Einbildungskraft wurde stets durch seine Vernunft gezügelt. Sein sprudelnder Geist machte nie Seitensprünge; seine Moral war ohne Trockenheit. Er war zurückhaltend in seinen Meinungen, offen in seinen Reden, gab der philosophischen Sekte der Akademie216-1 den Vorzug vor den andren, war wissensdurstig, bescheiden im Urteil, ein Freund und Verbreiter jedes Verdienstes, höflich und wohltätig, ein Mann, der die Wahrheit liebte und sie nie verhehlte, menschlich, hochherzig, dienstfertig, ein guter Bürger, treu gegen seine Freunde, seinen Herrn und sein Vaterland. Sein Tod wurde von allen Rechtschaffenen betrauert. Selbst der Neid verstummte vor ihm. Der König und alle, die ihn kannten, ehrten ihn durch ihre aufrichtige Trauer.

Das ist der lohn des wahren Verdienstes. Es wird bei Lebzeiten geachtet und dient nach dem Tode zum Vorbild.

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Gedächtnisrede auf La Mettrie
Gelesen in der Akademie am 19. Januar 1752

Julien Offray de La Mettrie wurde am 25. Dezember 1709 in St. Malo geboren, als Sohn des Julien Offray de La Mettrie und der Marie Gaudron. Sein Vater war Großkaufmann und konnte seinem Sohne eine gute Erziehung zu, teil werden lassen. Dieser erhielt seine erste Schulbildung im College von Coutances, kam dann nach Paris ins College Duplessis und machte die Klasse für Rhetorik in Caen durch, wo er dank seiner großen Begabung und Einbildungskraft alle Preise gewann. Er war ein geborener Redner, ein leidenschaftlicher Verehrer der Dicht, tunst und der schönen Wissenschaften. Aber sein Vater meinte, ein Priester brächte es weiter als ein Poet, und bestimmte ihn zur geistlichen Laufbahn. Im folgenden Jahre sandte er ihn wieder nach Paris ins College Duplessis, wo er seine Logik unter Herrn Cordler absolvierte, der mehr Iansenist als Logiker war217-1.

Es ist ein Zeichen glühender Einbildungskraft, die Dinge der Vorstellung kraft, voll zu erfassen, wie es ein Zeichen der Jugend ist, die ersten ihr eingeprägten Meinungen als Evangelium zu betrachten. Jeder andre Schüler hätte sich die Ansichten seines Lehrers zu eigen gemacht. Das aber genügte dem jungen La Mettrie nicht. Er wurde Jansenist und schrieb ein Werk, das bei jener Partei begeisterte Aufnahme fand.

Im Jahre 1725 studierte er Physik im College Harcourt, wo er große Fortschritte machte. Als er nach St. Malo zurückgekehrt war, riet ihm der dortige Arzt Hunauld217-2, Mediziner zu werden. Man überredete den Vater, seine Zustimmung zu geben, indem man ihm versicherte, die Arzneien eines mäßigen Arztes brächten mehr ein als die Absolutionen eines guten Priesters. Der junge La Mettrie studierte zunächst Anatomie, sezierte zwei Winter lang und erwarb sich 1728 in Rheims den Doktorhut und das Diplom als Arzt.

Im Jahre 1733 ging er nach Leiden, um unter dem berühmten Boerhave217-3 zu studieren. Der Lehrer war des Schülers würdig; bald machte sich auch der Schüler<218> des Lehrers würdig. La Mettrie wandte seinen ganzen Scharfsinn auf die Erkenntnis und Heilung der menschlichen Leiden und wurde ein großer Arzt, seit er es sich vornahm. In seinen Mußestunden übersetzte er 1734 Boerhaves Abhandlung über das Feuer, dessen Aphrodisiacus und schrieb selbst eine Abhandlung über die venerischen Krankheiten218-1. Die alten Ärzte in Frankreich erhoben sich gegen einen Neuling, der so dreist war, ebensoviel zu wissen wie sie. Einer der berühmtesten Pariser Ärzte erwies ihm die Ehre, sein Werk zu kritisieren, ein sicheres Zeichen, daß es gut war. La Mettrie schrieb eine Entgegnung, und um seinen Gegner erst recht zu entwaffnen, verfaßte er 1736 eine Abhandlung über den Schwindel218-2 die alle unparteiischen Ärzte schätzten.

Bei der menschlichen Unvollkommenheit ist leider niedrige Scheelsucht zum Attribut der Gelehrten geworden. Die Leute von begründetem Rufe sind gereizt über die Fortschritte aufstrebender Geister. Dieser Rost setzt sich an ihre Talente an, ohne sie zu zerstören, aber er schadet ihnen bisweilen. La Mettrie, der in der Wissenschaftlichen Laufbahn mit Riesenschritten vordrang, litt unter dieser Scheelsucht, und seine Lebhaftigkeit machte ihn doppelt empfindlich dagegen.

Nach St. Malo zurückgekehrt, übersetzte er Boerhaves „Aphorismen“, die „Matière médicale“, die „Procedes chimiques“, die „Théorie chimique“ und die „Institutionen“ desselben Autors218-3. Fast zugleich veröffentlichte er einen Auszug aus Sydenham218-4. Durch frühe Erfahrung hatte der junge Arzt gelernt, daß Übersetzen bequemer ist als eigne Produktion. Aber das Kennzeichen der Genies ist die Unbelehrbarkeit. Im Gefühl seiner eignen Kraft, wenn ich so sagen darf, und erfüllt von den Ergebnissen der Naturforschung, die er mit ungemeinem Geschick betrieb, wollte er seine nützlichen Entdeckungen der Welt mitteilen. Er veröffentlichte eine Abhandlung „Über die Pocken“, seine „Médecine pratique“218-5 und sechs Bände Kommentare zur „Physiologie“ von Boerhave218-6, die sämtlich in Paris erschienen, obwohl sie in St. Malo geschrieben waren. Mit der Theorie der Heilkunst verband er eine stets glückliche Praxis, was für einen Arzt kein kleines Lob ist.

Im Jahre 1742, anläßlich des Todes seines alten Lehrers Hunauld, kam La Mettrie nach Paris. Die Herren Morand und Sidobre verschafften ihm eine Stellung beim Herzog von Grammont, und kurz darauf besorgte ihm dieser ein Patent als Militärarzt bei der Garde. Er begleitete den Herzog in den Krieg, machte die Schlachten von Dettingen (1743) und Fontenoy (1745) und die Belagerung von Freiburg (1744) mit. Bei Fontenoy fiel sein Beschützer durch einen Kanonenschuß.

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La Mettrie empfand diesen Verlust um so schmerzlicher, als ihn zugleich sein Glück verließ. Die Ursache war folgende. Während der Belagerung von Freiburg befiel ihn ein hitziges Fieber. Krankheit ist für einen Philosophen stets eine Schule der Physik. Er glaubte wahrzunehmen, daß die geistigen Fähigkeiten lediglich von der Beschaffenheit unsrer Körpermaschine abhängen und daß Unordnungen in deren Getriebe beträchtlichen Einfiuß auf den Teil unsres Selbst haben, den die Metaphysiker „Seele“ nennen. Diese Ideen erfüllten ihn während seiner Genesung. Er leuchtete mit der Fackel der Erfahrung kühn in die Finsternisse der Metaphysik hinein, suchte mit Hilfe der Anatomie das feine Gestecht des Verstandes zu entwirren und fand dort, wo andre ein höheres, unsioffliches Etwas vorausgesetzt hatten, bloße Mechanik. Seine philosophischen Mutmaßungen ließ er unter dem Titel „Zur Naturgeschichte der Seele“219-1 drucken. Der Feldgeistliche des Regiments schlug Lärm gegen ihn, und sofort erhoben alle Frömmler großes Geschrei.

Die große Masse der Priester gleicht Don Quichotte, der in den alltäglichsten Er, eignissen wunderbare Abenteuer sah, oder dem Chevalier Folard219-2, der so von seinem System erfüllt war, daß er in allen Büchern, die er las, Angriffskolonnen fand. Die meisten Priester prüfen alle literarischen Erzeugnisse wie theologische Abhandlungen. Da sie an weiter nichts denken, wittern sie überall Ketzerei. Daher so viele falsche UrteUe, so viele meist unangebrachte Angriffe gegen die Schriftsteller. Ein phyfi, lalisches Buch muß mit dem Geist eines Physikers gelesen werden. Vor dem Richter, stuhl der Natur und der Wahrheit muß es freigesprochen oder verurteilt werden. Ein gleiches gilt von astronomischen Werten. Beweist ein armer Arzt, daß ein starker Stock, hieb auf den Kopf den Geist verwirrt oder daß der Verstand sich bei gewissen Wärme, graben trübt, so muß man ihm das Gegenteil beweisen oder stillschweigen. Beweist ein geschickter Astronom trotz Iosua, daß die Erde und alle Himmelskörper um die Sonne kreisen, so muß man ihm entweder im Rechnen überlegen sein oder dulden, daß die Erde sich dreht.219-3

Aber die Theologen, die durch ihre beständige Besorgnis bei schwachen Seelen den Glauben erwecken könnten, daß ihre Sache schlecht sieht, setzen sich über dergleichen hinweg. Auch hier wollten sie in einer physikalischen Abhandlung durchaus den Samen der Ketzerei finden. Der Verfasser wurde grausam verfolgt, und die Pfaffen blieben da, bei, daß ein der Ketzerei beschuldigter Arzt die französische Garde nicht kurieren dürfe.

Zum Haß der Frömmler gesellte sich die Scheelsucht seiner Nebenbuhler. Sie brach mit neuer Heftigkeit aus, als La Mettrie ein Wert „Die Politik der Ärzte“219-4 erscheinen ließ. Ein ränkesüchtiger, von Ehrgeiz verzehrter Mann strebte nach der Stellung des ersten Leibarztes des Königs von Frankreich. Um sie zu erlangen, hielt er es für hinreichend, die unter seinen Kollegen lächerlich zu machen, die als Mitbewerber um<220> diese Stellung etwa in Frage kamen. Er verfaßte ein Pamphlet gegen sie und mißbrauchte zu dem Zwecke La Mettries gefällige Freundschaft. Er bestimmte ihn dazu, ihm mit dem mühelosen Schaffen seiner Feder und der Fruchtbarkeit seiner Phantasie zu Hilfe zu kommen. Das genügte zum völligen Sturz eines wenig bekannten Mannes, der den Augenschein gegen sich und keinen Schutz als sein eignes Verdienst hatte.

Zum lohne für seine zu große Aufrichtigkeit als Philosoph und seine zu weitgehende Gefälligkeit als Freund mußte La Mettrie sein Vaterland verlassen. Der Herzog von Duras und Vicomte du Chayla rieten ihm, sich dem Haß der Priester und der Rachsucht der Ärzte zu entziehen. Er verließ also 1746 das Armeelazarett, wo Herr von Sechelles220-1 ihn angestellt hatte, und ging nach Leiden, wo er ruhig als Philosoph lebte. Dort schrieb er seine „Penelope“220-2 eine Polemik gegen die Ärzte, worin er nach Demokrits Vorbild die Eitelkeit seines Berufes ins Lächerliche zog. Das merkwürdigste dabei war, daß die Ärzte, deren Quacksalberei hier wahrheitsgetreu geschildert wird, beim lesen des Buches selbst lachen mußten; ein Beweis, daß es mehr Frohsinn als Bosheit enthielt.

Nachdem La Mettrie seine Hospitäler und Kranken aus dem Auge verloren, widmete er sich ganz der spekulativen Philosophie. Er schrieb seinen „Mensch als Ma, schine“220-3, oder vielmehr: er brachte einige starke Gedanken über den Materialismus zu Papier, jedenfalls, um sie später durchzuarbeiten. Das Werk mußte denen mißfallen, die von Amts wegen erklärte Feinde des Fortschritts der menschlichen Vernunft sind. Es brachte alle Pfaffen von leiden gegen den Verfasser auf. Calvinisten, Katholiken und lutheraner vergaßen plötzlich ihre Streitereien über die Transsubstantiation, die Willensfreiheit, die Totenmesse und die Unfehlbarkeit des Papstes und taten sich alle zur Verfolgung eines Philosophen zusammen, der zum Unglück auch noch ein Franzose war, — zu einer Zeit, da die französische Monarchie einen glücklichen Krieg gegen die Generalstaaten führte.

Als Philosoph und als Verfolgter fand la Mettrie seine Zuflucht in Preußen und erhielt eine Pension vom König. Im Februar 1748 kam er nach Berlin, wo er Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften wurde. Die Medizin machte ihn der Metaphysik streitig, und er schrieb eine Abhandlung über die Ruhr, sowie eine andre über das Asthma220-4, die besten Arbeiten, die es über diese grausamen Krankheiten gibt. Auch entwarf er mehrere Werke über abstrakte philosophische Gegenstände, die er einer näheren Prüfung unterziehen wollte. Aber durch eine Reihe von Schicksalsschlägen, die er erlitt, wurden ihm diese Schriften gestohlen, und als sie erschienen220-5, verlangte er ihre Unterdrückung.

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La Mettrie starb im Hause Lord Tyrconnells, des französischen Gesandten, den er vom Tode gerettet hatte. Geschickt griff die Krankheit, als wüßte sie, mit wem sie es zu tun hatte, zuerst sein Gehirn an, um ihn desto sicherer niederzuschlagen. Ein hitziges Fieber mit heftigem Delirium befiel ihn. Der Kranke mußte das Wissen seiner Kollegen in Anspruch nehmen, fand bei ihnen aber nicht die Hilfe, die er zum eignen Heil wie zum Nutzen des Publikums in seinem eignen Wissen so oft gefunden hatte.

Er starb am II. November 1751 im Alter von 41 Jahren. Er war verheiratet mit Luise Charlotte Dreauno, der er nur ein Töchterchen im Alter von fünf Jahren und etlichen Monaten hinterließ.

Die Natur hatte La Mettrie einen Schatz unerschöpflicher natürlicher Heiterkeit verliehen. Sein Geist war lebhaft, seine Einbildungskraft so fruchtbar, daß sie aus dem dürren Boden der Medizin Blumen hervorzauberte. Er war zum Redner und PHUosophen geboren, aber eine noch schätzbarere Gabe der Natur war seine lautere Seele und sein dienstfertiges Herz. Alle, denen die frommen Beschimpfungen der Theologen keinen Eindruck machen, betrauern in La Mettrie einen Ehrenmann und kenntnisreichen Arzt.

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Gedächtnisrede auf Knobelsdorff
Gelesen in der Akademie am 24. Januar 1754

Hans Georg Wenceslaus Freiherr von Knobelsdorss wurde am 17. Februar 1699 geboren. Sein Vater besaß die Ortschaft Cossar im Herzogtum Krossen. Seine Mutter war eine Baronin von Haugwitz.

Mit fünfzehn Jahren ergriff er den Waffenberuf. Er trat ins Regiment lottum ein und machte bei ihm den Feldzug in Pommern und die Belagerung von Gtralsund (1715) mit. Hier zeichnete er sich aus, soweit der enge Wirkungskreis des Eub, alternoffiziers es gestattete. Die Strapazen des rauhen Feldzuges und der bis an die Schwelle des Winters fortgesetzten Belagerung zerrütteten seine Gesundheit. Er bekam einen Bluthusten, bezwang die frühe Krankheit aber und diente trotz seiner zarten Gesundheit bis 1730 weiter. Dann quittierte er den Dienst als Kapitän.

Es ist ein Kennzeichen des Genies, daß es seinen natürlichen Neigungen unbezwinglich folgt und klar erkennt, wozu es geschaffen ist. Daher kommt es, daß so viele tüchtige Künstler sich selbst gebildet und sich neue Wege auf dem Gebiete der Kunst erschlossen haben. Dieser mächtige Drang zeigt sich besonders bei geborenen Dichtern und Malern. Ich brauche wohl nicht erst auf Ovid zu verweisen, der trotz des väterlichen Verbots Verse machte, oder auf Tasso, für den ein gleiches zutraf, oder auf Correggio, der sich beim Anblick von Raffaels Gemälden zum Maler berufen fühlte. Auch Knobelsdorss bildet ein Beispiel dafür. Er war zum Maler und zum großen Architekten geboren. Die Natur hatte ihm die Begabung geschenkt; es blieb der Kunst nur noch übrig, die letzte Hand anzulegen.

Schon während seiner Dienstzeit zeichnete er in seinen Mußestunden nach Gipsmodellen und malte bereits Landschaften im StU Claude Lorrains, ohne den Meister zu kennen, dem er so nahe kam. Nachdem er den Dienst quittiert hatte, überließ er sich völlig seinen Neigungen, befreundete sich mit dem berühmten Pesne222-1 und verschmähte es nicht, sich von ihm ausbilden zu lassen. Unter diesem geschickten Lehrer studierte er namentlich jenes besiechende Kolorit, das mit sanftem Trug der Natur ihre Rechte<223> nimmt, indem es die tote Leinwand lebendig macht. Er vernachlässigte kein Genre von der Historienmalerei bis zur Blumenmalerei, vom Hl bis zum Pastell. Die Malerei führte ihn zur Architektur. Hatte er die Bauwerke anfangs nur als Staffage für seine Gemälde benutzt, so stellte sich doch bald heraus, daß das, was er nur für eine Nebensache gehalten hatte, sein eigentliches Talent ausmachte.

Trotz seines zurückgezogenen Lebens blieb er dem König, dem damaligen Kronprinzen, nicht verborgen. Der berief ihn in seinen Dienst. Knobelsdorffs erster Versuch war die Ausschmückung des Schlosses von Rheinsberg, das er nebst den Gartenanlagen in seinen jetzigen Zustand brachte. Er verschönerte die Architektur

durch seinen malerischen Geschmack, der den gewöhnlichen Ornamenten eigene Anmut verlieh. Er liebte die edle Schlichtheit der Griechen, und sein Feingefühl verwarf alle unangebrachten Verzierungen.

Begierig, sich Kenntnisse zu erwerben, wünschte Knobelsdorff Italien kennen zu lernen, um dort, selbst in den Ruinen, die Regeln seiner Kunst zu studieren. Im Jahre 1736 trat er seine Reise an. Er bewunderte das Kolorit der Venezianer, die Zeichnung der römischen Schule und sah alle Gemälde der großen Meister. Von allen zeitgenössischen Malern erschien ihm allein Solimena223-1 denen ebenbürtig, die unter Leo X. ihr Vaterland ausgezeichnet hatten. In der Architektur der Alten fand er mehr Majestät als in der der Neueren. Er bewunderte die prunkvolle Peterslirche in Rom, ohne gegen ihre Fehler blind zu sein. Er erkannte wohl, daß die ver<224>schiedenen Baumeister, die daran gearbeitet, sehr zu Unrecht Michelangelos ursprünglichen Plan nicht befolgt haben. Dann kehrte Knobelsdorff nach Berlin zurück (1737), durch die Kunstschätze Italiens bereichert, in seinen architektonischen Grundsätzen befestigt und durch die Erfahrung in seiner Vorliebe für Pesnes Kolorit bestärkt. Nach seiner Rückkehr malte er den verstorbenen König, den Kronprinzen und viele andre Porträts, die allein seinen Ruf begründet hätten, wäre er nur Maler gewesen.

Im Jahre 1740, nach dem Tode Friedrich Wilhelms I., übertrug ihm der König die Oberaufsicht über die Bauwerke und Gärten. Sofort befaßte sich Knobelsdorff mit der Ausschmückung des Berliner Tiergartens. Er machte ihn zu einem köstlichen Stückchen Erde durch die Mannigfaltigkeit der Alleen, der Hecken und Rondele und durch die reizvolle Mischung des verschiedensten Laubwerks. Er verschönerte den Park durch Statuen und die Anlage von Wasserläufen, sodaß die Bewohner der Hauptstadt hier eine bequeme und schmucke Promenade finden, wo die Reize der Kunst nur unter den ländlichen Reizen der Natur auftreten.

Aber nicht zufrieden damit, in Italien gesehen zu haben, was die Künste einst waren, wollte Knobelsdorff sie auch in einem Lande studieren, wo sie gegenwärtig in Blüte stehen. Er erhielt also Urlaub zu einer Reise nach Frankreich (Herbst 1740) und widmete sich wahrend seines dortigen Aufenthalts ganz seinem Gegenstand. Sein Sinn war zu sehr auf die schönen Künste gerichtet, als daß er die Zerstreuungen der großen Welt gesucht hätte, und er war zu wissensdursiig, um sich in andrer Ge, sellschaft als der von Künstlern zu bewegen. So sah er nichts als Ateliers, Gemälde, galerien, Kirchen und Baudenkmäler. Wir schweifen von unsrem Gegenstand nicht ab, wenn wir hier sein Urteil über die französische Malerschule berichten. Seinen vollen Beifall fand die poetische Komposition von Le Bruns Gemälden224-1, die kühne Zeich, nung Poussins224-2, das Kolorit Blanchards und der Boullongne224-3, die Ähnlichkeit und Vollendung der Draperien auf den Bildern von Rigaud, das Helldunkel von Raour, die schlichte Naturwahrheit von Chardin224-4. Großen Gefallen fand er auch an den Bildern von Charles van Loo und den Kunstlehren von Detroy224-5. Immerhin fand er bei den Franzosen das Talent für die Skulptur stärker ausgeprägt als das für die Malerei; ist sie doch von Bouchardon, Pigalle und den Adam224-6 zur höchsten Vollen, dung gebracht worden. Von allen Bauwerken Frankreichs schienen ihm nur zwei völlig klassisch: Perraults224-7 Fassade des Louvre und die Gartenfront von Versailles. Für die Außenarchitektur gab er den Italienern den Vorzug, aber den Franzosen für die<225> Innendekoration, die Anlage und Wohnlichkeit der Räume. Nach Verlassen Frank, reichs bereiste er Flandern, wo ihm, wie man sich denken kann, die Werke van Dycks, Rubens' und Wouwermans nicht entgingen.

Nach seiner Heimkehr übertrug ihm der König den Bau des Opernhauses, eines der schönsten und stilgerechtesten Gebäude, die die Hauptstadt zieren. Die Fassade ist der des Pantheon frei nachgebildet. Das Innere ist durch das glückliche Verhältnis der Maße bei aller Größe von guter Akustik. Danach übernahm Knobelsdorff den Bau des neuen Flügels des Charlottenburger Schlosses, in dem die Kunstfreunde die Schönheit des Vestibüls und des Treppenhauses, die Eleganz des großen Saales und der Galerie bewundern. Ebenso kamen seine Talente bei der Anlage der neuen Kolonnade des Potsdamer Stadtschlosses, der Marmortreppe und des Saales zur Geltung, der die Apotheose des Großen Kurfürsten225-1 enthält. Auch der Kuppelsaal in Sanssouci, eine freie Nachbildung vom Innern des Pantheon, entstand nach seinen Entwürfen, ebenso die Grotte und die Marmorkolonnade im Park dieses Schlosses225-2. Außer den genannten Bauwerken wurde noch eine Unzahl von Privathäusern in Berlin und Potsdam, sowie das Schloß in Dessau nach seinen Zeichnungen ausgeführt.

Die Königliche Akademie der Wissenschaften ließ sich ein so vielseitiges Talent bei ihrer Erneuerung nicht entgehen und ernannte Knobelsdorff zu ihrem Ehrenmitgliede. Man wundre sich nicht, einen Maler und großen Architekten unter Astronomen, Mathematikern, Physikern und Dichtern sitzen zu sehen. Künste und Wissenschaften sind Zwillingsgeschwister. Ihre gemeinsame Mutter ist das Genie. Natürliche und unzerreißbare Bande verknüpfen sie miteinander. Die Malerei erfordert genaue Kenntnis der Mythologie und Geschichte; sie führt zum Studium der Anatomie, denn sie bedarf der Kenntnis aller Triebfedern der menschlichen Bewegungen, damit die Muskulatur bei der Stellung der Figuren der Wirklichkeit entspricht und die Glieder nur richtige Schwellungen und Vertiefungen aufweisen. Die Landschaftsmalerei erfordert Kenntnis der Optik und Perspektive, und bei der Darstellung der Architektur auch das Studium der Geometrie, der bewegenden Kräfte und der Mechanik. Vor allem hängt die Malerei mit der Dichtkunst zusammen. Das gleiche Feuer der Einbildungskraft, das den Dichter beseelt, muß auch den Maler durchglühen. Das alles gehört zum Schassen eines guten Malers. Vielleicht liegt einer der großen Vorzüge unsres aufgeklärten Jahrhunderts darin, daß es die Wissenschaften unentbehrlich gemacht und sie dadurch verbreitet hat.

Alle diese Kenntnisse machten Knobelsdorff zum würdigen Mitgliede der Akademie. Sie würden ihm noch mehr zur Ehre gereicht haben, wäre er uns nicht in einem Alter entrissen worden, wo seine Talente in voller Reife standen. Er litt unter Gichtan<226>fällen. Mochte er sein Leiden nun allzu gleichgültig verschleppt haben oder seine Gesundheit von selbst untergraben sein, jedenfalls klagte er über Blutstauungen, und seine Krankheit artete schließlich in Wassersucht aus. Die Ärzte schickten ihn nach Spaa, in der Hoffnung, er würde durch die Kur genesen, aber er fühlte, daß die dortigen Bäder ihm nichts halfen. Mit Mühe kehrte er nach Berlin zurück und starb dort am 16. September 1753 im Alter von vierundfünfzig Jahren und sieben Monaten. Knobelsdorff erwarb sich durch seinen lauteren und rechtschaffenen Charakter allgemeine Hochachtung. Er liebte die Wahrheit und glaubte, sie verletze niemanden. Gefälligkeit betrachtete er als Zwang und floh alles, was seine Freiheit zu beeinträchtigen schien. Man mußte ihn genau kennen, um sein Verdienst voll zu würdigen. Er förderte die Talente, liebte die Künstler und ließ sich lieber suchen, als daß er sich vordrängte. Vor allem muß zu seinem Lobe gesagt werden: er verwechselte nie Wetteifer mit Neid, Gefühle, die sehr verschieden sind, und die zu unterscheiden man den Künstlern und Gelehrten zu ihrer eignen Ehre und Ruhe und zum Wohle der Gesellschaft nie genug anraten kann.

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Brief eines Akademikers in Berlin an einen Akademiker in Paris
(November 1752)227-1

Seit es Gelehrte gibt, gibt es auch gelehrte Streitigkeiten; denn jedermann hat das Recht auf seine eigne Meinung, und jeder glaubt gute Gründe zum Verfechten dieser Meinungen zu haben. Erniedrigend für den menschlichen Geist aber ist neidische Gehässigkeit, sind die Pamphlete und Schmähungen, die rohen Verleumdungen, mit denen kleine Geister das Andenken der Großen zu besudeln suchen.

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Glauben Sie nicht, ich persönlich hätte über dergleichen zu klagen! Mittelmäßige Talente sind gleichsam ein Wall gegen die Angriffe des Neides. Es handelt sich hier um Maupertuis, unsren berühmten Präsidenten. Seine geistige Überlegenheit, sein tiefes Wissen hat die Eigenliebe des Philosophieprofessors König aufgestachelt. Da dieser Mann sich nicht zu seiner Höhe aufzuschwingen vermochte, glaubte er schon viel dadurch erreicht zu haben, daß er ihn herabsetzte. Er stritt unserm Präsidenten die Priorität der Entdeckung des Prinzips der kleinsten Aktion ab und behauptete, Leibniz sei der Erfinder. Maupertuis forderte Beweise. Er wollte wissen, in welchem Werke von Leibniz Spuren dieser Entdeckung zu finden seien. Um sich aus der Verlegenheit zu helfen, veröffentlichte König Bruchstücke aus angeblichen Briefen von Leibniz und behauptete, nicht mehr zu wissen, wo er die Originale gesehen hätte. Dieser literarische Prozeß wurde in einer Sitzung unsrer Akademie verhandelt, und König wurde einstimmig verurteilt.

Der Professor war wütend, daß er widerlegt war, und noch mehr, daß er einem von ganz Europa Bewunderten nicht hatte schaden können. Er begnügte sich nicht mit groben Schmähungen gegen ihn, — dem letzten Hilfsmittel aller, die keine wirklichen Gründe vorzubringen haben — sondern tat sich mit ziemlich verächtlichen Skribenten zusammen, die seine Partei ergriffen und unter seiner Fahne fochten. Einer dieser Elenden ließ unter dem Deckmantel eines Berliner Akademikers ein schändliches Machwerk erscheinen. Darin behandelte er Maupertuis in einer Weise, wie ein urteilsloser Mensch nur von einem Unbekannten reden kann, oder wie die frechsten Betrüger die Tugend zu verleumden pflegen.

Maupertuis ist durch seinen Charakter, seine Verdienste und seinen Ruf zu erhaben über dergleichen Verunglimpfungen, um sich beleidigt zu fühlen. Er denkt zu sehr als Philosoph, als daß bloße Schmähungen seine Seelenruhe stören könnten. Aber wir andren Akademiker müssen uns gegen einen Rasenden erheben, der zwar Maupertuis nicht verletzen, wohl aber das Ansehen unsrer Körperschaft schädigen kann.

Es soll allen Völkern klar vor Augen stehen: unter uns ist kein so entarteter Sohn, daß er den Arm gegen seinen Vater zu erheben wagt, lein Akademiker, der sich zum feilen Söldling der Wut eines Neidischen herabwürdigt. Nein! Wir alle zollen unsrem Präsidenten den Tribut der Bewunderung, der seinem Wissen und seinem Charakter gebührt. Ja, wir wagen ihn zu den unsren zu rechnen und machen ihn Frankreich streitig. Zu seinen Lebzeiten genießt er hier den Ruf, den Homer erst lange nach seinem Tode erwarb. Berlin und St. Malo streiten sich um den Ruhm, seine Vaterstadt zu sein. Wir betrachten sein Verdienst als das unsre. Sein Wissen verleiht unsrer Akademie den höchsten Glanz. Aller Nutzen seiner Werke fällt uns zu. Sein Ansehen ist das der ganzen Körperschaft. Als Charakter ist er das Muster eines Ehrenmannes und eines wahren Philosophen. So denkt die gesamte Akademie!

Wer so redet der Betrug! Der angebliche ungenannte Akademiker behauptet, Maupertuis müßte durch seine schlimmen Praktiken alle unsre Akademiker zum Aus<229>tritt bestimmen, würden sie nicht durch den Schutz des Königs gehalten. Soviel Worte, soviel Falschheiten! Es ist in ganz Preußen und ganz Deutschland bekannt, daß unsre berühmtesten Akademiker durch Maupertuis hierher gezogen wurden, daß er die Einkünfte verwaltet, die erledigten Stellen besetzt, die Preise verteilt, die Talente beschützt, daß er sich in all diesen verschiedenen Verwaltungszweigen stets selbstlos gezeigt hat durch gute Finanzwirtschaft, richtiges Urteil bei der Neubesetzung der erledigten Stellen, Gerechtigkeit bei der Verteilung der Pensionen und Preise, treue Fürsorge für den Ruhm der Akademie, Freundschaft und Treue gegen jeden seiner Kollegen und stete Hilfsbereitschaft für alle, die seines Schutzes bedurften. Wir haben also keinerlei Anlaß, über ihn zu klagen, vielmehr sind die meisten ihm Dank schuldig für unsre Berufung, für seinen Rat und seine Lehre, für seine Einsicht und sein Vorbild.

Der Verfasser der Schmähschrift gegen Maupertuis ist offenbar von den Vorgängen in unsrer Akademie und dem dort herrschenden Geiste sehr schlecht unterrichtet. Nie haben wir Streitigkeiten gehabt; denn nie haben wir dem Parteigeist Zutritt gestattet. Meinungsverschiedenheiten führen bei uns immer nur zu Erörterungen, nie aber zu Streit. Nach unsrer Meinung sieht es den Philosophen an, dem Volte ein Vorbild zu geben. Männer, die ehrlich die Wahrheit suchen, dürfen nicht starrköpfig sein. Weniger von sich selbst eingenommen und in ihre eignen Gedanken vernarrt als die, deren ungebildeter Geist brach liegt, verwenden sie den ganzen Scharfsinn ihres Geistes zur Erforschung der Rätsel der Natur, sind dankbar gegen alle, die sie vor Täuschung bewahren, und voller Bewunderung für die, deren Einsicht ihnen Erleuchtung bringt. Aus diesem Grunde hat man in unsren Versammlungen nie jene für eine gelehrte Körperschaft so erniedrigenden Szenen erlebt, wie den Auftritt in Paris vor einigen Jahren, der den Alterspräsidenten aller europäischen Akademiker so tief verletzt hat.

Unser angeblicher Akademiker hat nicht nur so offenkundige Lügen verbreitet wie die obengenannten. Er ist auf diesem schönen Wege noch weitergegangen. Gleich als ob seine Frechheit in dem Maße zunähme, wie er sein Gift verspritzt, behauptet er dreist, Maupertuis gereiche unsrer Akademie zur Unehre. Darauf war ich nicht gefaßt! Die Alten in ihrer Weisheit bezeichneten Böswillige als Rasende; denn die Bosheit ist eine Art von Delirium und verwirrt den Verstand. Hat jener geistlose Pamphletist, jener verächtliche Feind eines Mannes von seltnem Verdienst, in seiner unfruchtbaren Phantasie keine wahrscheinlichere Verleumdung finden können als eine derartige Unterstellung? Hat er nicht begriffen, daß, wenn schon ein nutz, bringendes Verbrechen empört, ein unnützes Verbrechen der Gipfel der Niedertracht ist? Eine so platte Roheit, eine so aberwitzige Behauptung verdient fürwahr keine Antwort. Wem soll ich es erst sagen und wer wüßte nicht längst, daß Maupertuis in Frankreich unter allen Mathematikern für den Befähigtesten galt, die Wahrheiten über die Erdgestalt, die Newton in seinem Arbeitszimmer geahnt hatte, festzustellen? Er wurde nach Lappland gesandt und trug durch seine geometrischen Berechnungen<230> ebensosehr zu seinem eignen Ruhme bei, wie zu dem des großen Engländers, den er in seiner Bescheidenheit stets als seinen Lehrer ansah. Wem brauchte ich erst zu sagen, daß er, vom König von Frankreich mit Ehren überhäuft, durch unsren König nach Berlin berufen ward, und daß unsre Akademie unter seiner Leitung nach langem Siechtum neues Leben gewann?

Soll ich das Publikum darüber belehren — es weiß ja längst Bescheid! — daß Maupertuis durch seine Mitarbeit auf allen Gebieten mehr als ein andrer von uns zu den Abhandlungen beiträgt, die wir alljährlich veröffentlichen? Wer weiß nicht oder tut, als wüßte er nicht, daß Maupertuis von allen Gelehrten, die seine Werke lasen, bewundert, von uns geliebt und geschätzt, von allen, die mit ihm leben, hochgeehrt, bei Hofe ausgezeichnet und vom König mehr begünstigt wird als irgend ein Gelehrter ?

Ich beklage unsren Präsidenten nicht. Er teilt das Los aller großen Männer: beneidet zu werden und seinen Feinden keine andre Waffe zu lassen, als die Erfindung abgeschmackter Lügen. Zu beklagen sind nur die armseligen Skribenten, die sich kopflos ihren Leidenschaften überlassen und von ihrer Böswilligkeit so verblendet sind, daß sie ihre Gewissenlosigkeit, Schlechtigkeit und Unwissenheit zugleich offenbaren.

Aber welchen Zeitpunkt, glauben Sie wohl, haben diese Leute zum Angriff gegen unsren Präsidenten benutzt? Sicherlich meinen Sie, als ehrliche Kämpfer hätten sie ihn zum Kampfe mit gleichen Waffen herausgefordert. Nein, mein Herr! Ermessen Sie die ganze Feigheit und Nichtswürdigkeit ihres Charakters! Sie wissen, daß Maupertuis zu unsrem Schmerze seit einem halben Jahre brustleidend ist, Blut hustet und häufige Ersiickungsanfälle hat, daß sein Siechtum ihn am Arbeiten hindert, daß er dem Tode näher ist als dem Leben, daß die Tränen einer liebenden Gattin und die Teil, nahme aller redlich Denkenden ihn rühren230-1. Diesen Augenblick wählten sie, um ihm, wie sie glauben, den Dolch in das Herz zu stoßen! Hat man je etwas Boshafteres, Feigeres, Ruchloseres gesehen? Hat man je von einer schändlicheren Räubertat gehört? Wie? Ein berühmter Gelehrter, der in seinen Worten nie einen Menschen gekränkt, der selbst mit der Feder seine Feinde respektiert hat, erfährt in dem Augen, blick, wo er sein Leben aushauchen will, wo ihm wie allen Ehrenmännern nichts bleibt als der Trost, einen wohlbegründeten Ruf zu hinterlassen, — daß man ihn angreift, verfolgt und verleumdet! Man möchte ihn ins Grab bringen mit dem Schmerz und der Verzweiflung darüber, in seinen letzten Stunden der Zuschauer seiner eignen Entehrung und Schande gewesen zu sein! Man möchte von ihm das Bekenntnis hören: Wozu hat mir das reine, makellose Leben genützt, das ich führte, wozu all die emsige Arbeit, die ich der Öffentlichkeit leistete, meine literarischen Schriften, die Diensie, die ich der Akademie widmete, und die Werke, die mich unsterblich machen sollten, wenn meine Asche zum Gegenstand der Verachtung wird, indem man meinen Ruf zu bestecken sucht, wenn ich meiner Familie nichts als<231> Schande und Unehre hinterlasse? Doch nein, mein Herr! Maupertuis' Feinde haben ihn schlecht gekannt; er verachtet ihre ohnmächtige Wut und verzeiht ihnen. Er ist zu sehr PHUosoph, um sich seine Seelenruhe nach dem Gutdünken seiner Feinde er, schüttern zu lassen, und ein zu guter Christ, um in seinem Herzen Rachsucht zu nähren. Er hat ihr Wutgeschrei kaum gehört, und selbst wenn er gesund wäre, hätte er nicht darauf geantwortet.

Ist die wohlverstandene Ruhmesliebe die erste Triebfeder großer Seelen und der ftuchtbare Mutterboden edler Taten und seltener, ja einziger Tugenden zum Wohle der Allgemeinheit: muß man dann Leute, die den großen Männern ihren wohlverdienten Ruhm zu rauben suchen, nicht für Störenfriede der öffentlichen Ordnung und für gefährlicher als Mörder halten? Und was soll aus dieser edlen Glut werden, die den Menschen durch die Lockung eines rein idealen Lohnes zu großen Dingen treibt, wenn man solche verbrecherischen Verschwörungen duldet, die den Ruhm, gekrönten das, was sie besitzen, entreißen wollen?

Sie sehen, Maupertuis' Feinde sind im Irrtum. Sie haben Neid mit Wetteifer verwechselt, ihre Verleumdungen mit Wahrheiten, den Wunsch, einen Menschen zu verderben, mit seinem wirtlichen Untergang, die Hoffnung, ihn in Verzweiflung zu bringen, mit dem Zusammenbruch seines Daseins und ihren Wahnsinn mit den feinsigesponnenen Ränken. Mögen sie endlich begreifen, daß sie sich in ihren Plänen und Voraussetzungen verrechnet haben, und daß, wenn es Feiglinge gibt, die große Männer zu verleumden wagen, in unsrer Zeit auch noch Tugendhafte leben, die sie verteidigen.

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Gedächtnisrede auf Voltaire
Gelesen in der Akademie am 26. November 1778



Meine Herren!

In allen Zeitaltern, besonders bei den geistvollsten und gebildetsten Völkern, sind Männer von hoher und seltner Begabung schon während ihres Lebens geehrt worden, noch mehr aber nach ihrem Tode. Man betrachtete sie wie Phänomene, die ihren Glanz über ihr Vaterland verbreiteten. Die ersten Gesetzgeber, die die Menschen lehrten, in Gesellschaft zu leben, die ersten Helden, die ihre Mitbürger verteidigten, die Philosophen, die in die Abgründe der Natur hinabdrangen und einige Wahrheiten entdeckten, die Dichter, die die Großtaten ihrer Zeitgenossen der Nachwelt überlieferten, sie alle wurden wie höhere Wesen angesehen; man glaubte sie von der Gottheit besonders erleuchtet. Daher kam es, daß man dem Sokrates Altäre errichtete, daß Herakles für einen Gott galt, daß Griechenland den Orpheus verehrte und daß sieben Städte sich um den Ruhm stritten, die Heimat Homers zu sein. Das Volt von Athen, das die beste Erziehung besaß, wußte die Ilias auswendig und ehrte in ihren Gesängen pietätvoll den Ruhm seiner alten Helden. Auch Sophokles, der die Palme auf dem Theater errang, stand wegen seiner Talente in hohem Ansehen, ja der athenische Staat bekleidete ihn mit den höchsten Würden. Jedermann weiß, wie hoch Äschines, Perikles und Demosthenes geschätzt wurden, und daß Perikles dem Diagoras zweimal das Leben rettete, einmal, als er ihn vor der Wut der Sophisten schützte, das zweitemal, indem er ihn durch seine Wohltaten<233> unterstützte. Wer immer in Griechenland Talente besaß, war sicher, Bewunderung, ja selbst Begeisterung zu finden. Das war die mächtige Anregung, die Talente entwickelte und den Geistern jenen Aufschwung gab, durch den sie sich über die Schranken der Mittelmäßigkeit erhoben. Welch ein Stachel des Wetteifers für die PHUosophen, als sie erfuhren, daß Philipp von Mazedonien den Aristoteles als einzig würdigen Lehrer Alexanders erkoren hatte! In jenem schönen Zeitalter fand jedes Verdienst seinen Lohn, jedes Talent seine Ehren. Die guten Schriftsteller wurden ausgezeichnet. Die Werke des Thukydides und Xenophon befanden sich in aller Händen; kurz, jeder Bürger schien teilzuhaben an der Berühmtheit jener großen Geister, die Griechenlands Ruf damals über den aller übrigen Völker er, hoben.

Bald nachher liefert uns Rom ein ähnliches Schauspiel. Cicero schwingt sich durch seinen philosophischen Geist und seine Beredsamkeit auf den Gipfel des Ruhmes. Lukrez lebte nicht lange genug, um seinen Ruf zu genießen. Aber Virgil und Horaz wurden durch den Beifall jenes königlichen Volkes geehrt, standen in vertrautem Verkehr mit Augustus und hatten Teil an den Belohnungen, die dieser geschickte Tyrann über alle ausschüttete, die seine Tugenden priesen und seine Lasier beschönigten.

Zu der Zeit, da die Wissenschaften im Abendlande wieder aufblühten, gedenkt man mit Freuden der Medizäer und einiger Päpste, die sich eifrig der Schriftsteller annahmen. Man weiß, daß Petrarca als Dichter gekrönt wurde und daß Tasso nur durch seinen Tod um die Ehre kam, auf demselben Kapitol gekrönt zu werden, wo dereinst die Besieger der Welt triumphiert hatten.

Ludwig XIV., der nach jeder Art von Ruhm dürstete, vergaß auch den Ruhm nicht, die außerordentlichen Männer zu belohnen, die unter seiner Regierung auftraten. Er überhäufte nicht nur Bossuet, Fenelon, Racine und Boileau mit Wohltaten, sondern dehnte seine Freigebigkeit auch auf alle Schriftsteller aus, in welchem Lande sie auch wohnten, wenn nur ihr Ruf bis zu ihm gedrungen war.

So handelten alle Zeitalter gegen jene glücklichen Geister, die das Menschengeschlecht zu adeln scheinen, deren Werke uns erquicken und uns über das Elend des Lebens hinwegtrösien. Es ist also nur recht und billig, daß wir den Manen des Großen, dessen Verlust Europa betrauert233-1, den Tribut des Lobes und der Bewunderung zollen, den er so sehr verdient hat.

Wir gedenken nicht, auf die Einzelheiten von Voltaires Privatleben einzugehen. Die Geschichte eines Königs soll in der Aufzählung der Wohltaten bestehen, die er seinem Volke angedeihen ließ, die eines Kriegsmannes in seinen Feldzügen, die eines Schriftstellers in der Darlegung seiner Werke. Anekdoten können die Neugierde unterhalten; Taten unterrichten. Doch es ist unmöglich, die Fülle der Werke, die wir der Fruchtbarkeit Voltaires danken, im einzelnen zu prüfen. Nehmen Sie also,<234> meine Herren, mit der flüchtigen Skizze fürlieb, die ich Ihnen davon entwerfen will, und lassen Sie mich die Hauptereignisse seines Lebens nur kurz berühren. Es hieße Voltaire entehren, wollte ich Gewicht auf Nachforschungen legen, die nur seine Herkunft betreffen. Im Gegensatz zu denen, die ihren Vorfahren alles und sich selber nichts schulden, verdankte er alles der Natur: er allein war der Schmied seines Glückes und seines Ruhmes. Es genügt zu wissen daß seine Verwandten, die Justizbeamte waren234-1, ihm eine anständige Erziehung gaben. Er studierte im Jesuitenkolleg Ludwigs des Großen unter den Vätern Poree und Tournemine, die zuerst die Funken des glänzenden Feuers entdeckten, das seine Werke erfüllt.

Obwohl noch jung, wurde Voltaire nicht wie ein gewöhnliches Kind angesehen. Sein Geistesschwung hatte sich schon offenbart. Dadurch kam er in das Haus der Frau von Rupelmonde. Die Dame war entzückt von der Lebhaftigkeit seines Geistes und den Talenten des jungen Dichters. Sie führte ihn in die beste Pariser Gesellschaft ein. Die große Welt wurde für ihn zur Schule, in der er seinen Geschmack und den feinen Takt erwarb, die Gewandtheit und Höflichkeit des Benehmens, die jene weltfremden Gelehrten nie erreichen, weil sie kein Urteil darüber haben, was in der guten Gesellschaft gefallen kann, die ihrem Blick zu entrückt ist, um sie kennen zu können. Diesem Tone der guten Gesellschaft, dieser funkelnden Glätte verdanken Voltaires Werke ihre Beliebtheit.

Schon waren seine Tragödie „Ödipus“234-2 und einige liebenswürdige Gesellschaftsgedichte in die Öffentlichkeit gedrungen, als in Paris eine anstößige Verssatire gegen den Herzog von Orleans, den damaligen Regenten von Frankreich, erschien234-3. Ein gewisser La Grange, Verfasser dieses dunklen Machwerks, wußte den Verdacht von sich abzulenken, indem er es für ein Werk Voltaires ausgab. Die Regierung handelte übereilt. Der junge Dichter wurde unschuldig verhaftet und in die Bastille gesteckt, wo er mehrere Monate blieb234-4. Da aber die Wahrheit früher oder später doch ans Licht kommt, so wurde der Schuldige bestraft und Voltaire als gerechtfertigt freigelassen.

Meine Herren, würden Sie es für möglich halten, daß es just die Bastille war, in der unser junger Dichter die ersten beiden Gesänge seiner „Henriade“ schrieb? Und doch ist es so. Sein Gefängnis ward ihm zum Parnaß, wo die Musen ihn begeisterten. Sicher ist, daß der zweite Gesang so geblieben ist, wie er ihn zuerst entwerfen. In Ermangelung von Papier und Tinte lernte er die Verse auswendig und behielt sie im Gedächtnis.

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Bald nach seiner Freilassung zog er sich, aufgebracht durch die unwürdige Behandlung und den Schimpf, den er in seinem Vaterlande erduldet hatte, nach England zurück235-1, wo er nicht nur die günstigste Aufnahme beim Publikum fand, sondern sich auch bald begeisterte Anhänger warb. In London legte er die letzte Hand an seine „Henriade“, die er damals unter dem Titel „Poème de la Ligue“ veröffentlichte235-2.

Unser junger Dichter, der während seines Aufenthalts in England alles zu nutzen wußte, warf sich besonders auf das Studium der Philosophie. Damals blühten die weisesten und tiefsten Philosophen. Er ergriff den Faden, an dem sich der vorsichtige Locke durch das Labyrinth der Metaphysik getastet hatte, zügelte seine feurige Einbildungskraft und unterwarf sich den mühseligen Berechnungen des unsterblichen Newton. Ja, er eignete sich die Entdeckungen dieses Philosophen derart an und machte solche Fortschritte, daß er das System des großen Mannes in einer kurzen Abhandlung so klar darstellte, daß es für jedermann faßlich wurde235-3. Vor ihm war Fontenelle der einzige Philosoph gewesen, der Blumen auf die trockne Astronomie gestreut und sie zum Zeitvertreib des schönen Geschlechts gemacht hatte. Den Engländern schmeichelte es, daß ein Franzose ihre Philosophen nicht nur bewunderte, sondern sie auch in seine Sprache übersetzte. Die vornehmste Welt Londons drängte sich, ihn zu besitzen. Nie fand ein Fremder bei dieser Nation günstigere Aufnahme. Aber so schmeichelhaft der Triumph auch für seine Eigenliebe war, die Liebe zum Vaterlande siegte im Herzen unsres Dichters, und er kehrte nach Frankreich zurück (1729).

Durch den Beifall aufgeklärt, den ein so ernstes und kluges Volk wie die Engländer dem jungen Schriftsteller gespendet hatte, begannen die Pariser zu ahnen, daß ein großer Mann in ihrer Mitte geboren war. Nun erschienen die „Lettres sur les Anglais“235-4, die mit raschen, kräftigen Strichen die Sitten, den Kunstfleiß, die Religion und die Regierung des englischen Volkes schildern. Die Tragödie „Brutus“, höchst geeignet, diesem freien Volke zu gefallen, folgte bald nach, ebenso „Mariamne“235-5 und eine Menge andrer Stücke.

Damals lebte in Frankreich eine durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft berühmte Dame. Sie erraten wohl, meine Herren, wir meinen die Marquise du Châtelet. Sie hatte die philosophischen Werke des jungen Autors gelesen; bald machte sie auch seine Bekanntschaft (1733). Das Verlangen, sich zu unterrichten, und der leidenschaftliche Wunsch, die wenigen Wahrheiten zu ergründen, die im<236> Bereiche des menschlichen Geistes liegen, knüpfte die Bande ihrer Freundschaft unlöslich. Sofort gab Frau von Chatelet die „Theodicee“ von Leibniz und die geistvollen Phantasiegebilde dieses Philosophen236-1 auf, um an ihrer Statt die vorsichtige und besonnene Methode Lockes anzunehmen, die weniger die heftige Wißbegier als die strenge Vernunft befriedigte. Sie lernte so viel Mathematik, um Newton in seinen abstrakten Berechnungen folgen zu können. Ja, ihr Fleiß war so beharrlich, daß sie einen Auszug seines Systems zum Gebrauch ihres Sohnes verfaßte236-2. Cirey wurde bald die philosophische Zufluchtsstätte beider Freunde. Dort schrieben sie jeder für sich Werke verschiedener Art, die sie sich mitteilten, indem sie sich bemühten, ihren Erzeugnissen durch gegenseitige Kritik den höchsten erreichbaren Grad von Vollkommenheit zu geben. Dort entstanden „Zaire“ (1732), „Alzire“ (1734/36), „Mérope“ (1737), „Sémiramis“ (1748), „Catilina“ (1749), „Électre ou Oreste“ (1749).

Voltaire, dessen Tätigkeit alles umfaßte, beschränkte sich nicht allein auf das Ver, gnügen, das Theater durch seine Tragödien zu bereichern. Er verfaßte eigens für den Gebrauch der Marquise von Chatelet seinen „Essai sur l'histoire universelle“236-3. Das „Zeitalter Ludwigs XIV.“236-4 und die „Geschichte Karls XII.“236-5 waren bereits erschienen.

Einen so genialen Schriftsteller, der ebenso vielseitig wie korrekt war, ließ die französische Akademie sich nicht entgehen. Sie forderte ihn als ein ihr gehöriges Eigentum. Er wurde Mitglied dieser erlauchten Körperschaft (1746) und eine ihrer schönsten Zierden. Auch Ludwig XV. zeichnete ihn aus, indem er ihn zum Kammer, Herrn (1746) und zum Historiographen Frankreichs (1745) ernannte, was er eigentlich durch seine Geschichte Ludwigs XIV. schon war.

Obwohl Voltaire für so glänzende Ehrungen empfänglich war, sprach das Gefühl der Freundschaft doch noch stärker in ihm. Unauflöslich mit Frau von Chatelet verbunden, ließ er sich durch den Glanz eines großen Hofes nicht blenden und zog den Aufenthalt in Luneville236-6, mehr noch die ländliche Abgeschiedenheit von Cirey der Pracht von Versailles vor. Dort genossen beide Freunde friedlich das den Menschen zugemessene Glück, bis der Tod der Marquise von Chatelet (10. September 1749) ihrem schönen Bund ein Ziel setzte. Das war ein furchtbarer Schlag für Voltaires Zartgefühl. Er mußte seine ganze Philosophie zu Hilfe rufen, um ihm zu widerstehen.

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Gerade zu der Zeit, wo er alle Kräfte anspannte, um seinen Schmerz zu bezwingen, wurde er an den preußischen Hof berufen. Der König, der ihn im Jahre 1740 gesehen hatte237-1, wünschte dies hervorragende und seltene Genie zu besitzen. Im Jahre 1750 kam Voltaire nach Berlin237-2. Seine Kenntnisse waren umfassend, seine Unterhaltung ebenso belehrend wie angenehm, seine Einbildungskraft ebenso glänzend wie vielseitig, sein Geist rasch im Erfassen und stets schlagfertig. Er verschönte die Trockenheit eines Gegenstands durch die Anmut der Darstellung; kurz, er war das Entzücken aller Gesellschaften. Ein unglücklicher Streit, der zwischen ihm und Maupertuis ausbrach237-3, entzweite diese beiden Geister, die dazu geschaffen waren, sich zu lieben, nicht aber, sich zu hassen237-4. Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges erweckte bei Voltaire den Wunsch, seinen Aufenthalt in der Schweiz zu nehmen. Er ging nach Genf, dann nach Lausanne, erwarb später Les Délices237-5 und ließ sich schließlich in Ferney nieder (1759). Seine Muße war zwischen Studium und Arbeit geteilt. Er las und schrieb und beschäftigte durch die Fruchtbarkeit seines Geistes alle Buchhändler jenes Kantons.

Voltaires Gegenwart, sein sprudelnder Geist, seine mühelose Produktion versetzte seine ganze Umgebung in den Wahn, um ein großer Geist zu sein, brauchte man es nur zu wollen. Eine Art von Epidemie ergriff die Schweizer, die sonst nicht für die feinsten Köpfe gelten. Sie drückten die gewöhnlichsten Dinge nur noch in Antithesen und Epigrammen aus. Genf wurde von dieser Ansteckung am meisten befallen. Die Bürger hielten sich samt und sonders für Lykurge und hatten nicht übel Lust, ihrer Vaterstadt neue Gesetze zu geben, aber keiner wollte den bestehenden gehorchen. Diese Regungen mißverstandenen Freiheitseifers führten zu einer Art Aufruhr oder Krieg, der in die Komödie gehörte. Voltaire verfehlte nicht, das Ereignis unsterblich zu machen; er besang diesen sogenannten Krieg im Tone von Homers Froschmäusekrieg237-6.

Bald brachte seine fruchtbare Feder Theaterstücke hervor, bald vermischte philosophische und geschichtliche Aufsätze, bald allegorisch-moralische Romane. Aber während er derart die Literatur durch neue Schöpfungen bereicherte, widmete er sich zugleich der Landwirtschaft. Man sieht, wie ein guter Kopf sich auf allen möglichen Gebieten betätigen kann. Ferney war ein fast wüstes Stück Land, als unser Philosoph es erwarb. Er kultivierte es und bevölkerte es nicht allein, sondern siedelte auch viele Handwerker dort an.

Rufen wir uns nicht zu bald die Ursachen unsres Schmerzes ins Gedächtnis zurück. Lassen wir Voltaire noch ruhig in Ferney und werfen wir unterdessen einen<238> aufmerksamen und eingehenden Blick auf die Fülle seiner geistigen Erzeugnisse. Die Geschichte erzählt, Virgil habe, als er starb, seine „Äneis“ verbrennen wollen, weil er ihr nicht die gewünschte Vollendung hatte geben können. Voltaire konnte bei seinem langen Leben sein Gedicht „La Ligue“ immer wieder feilen und verbessern und ihm die Vollkommenheit geben, die es jetzt unter dem Namen der „Henriade“ erreicht hat238-1. Seine Neider warfen ihm vor, es sei nur eine Nachahmung der „Äneis“, und man muß einräumen, daß der Gegenstand mancher Gesänge Ähnlichkeiten aufweist. Aber es sind keine sklavischen Kopien. Schildert Virgil die Zerstörung Trojas, so stellt Voltaire die Greuel der Bartholomäusnacht dar. Der Liebe der Dido und des Äneas sieht die Liebe Heinrichs IV. und der schönen Gabrielle d'Estrées gegenüber. Das Hinabsteigen des Äneas in die Unterwelt, wo Anchises ihm seine Nachkommenschaft prophezeit, wird mit Heinrichs IV. Traum und der Weissagung des heiligen Ludwig verglichen, der ihm das Schicksal der Bourbonen verkündet. Wenn ich meine Meinung äußern dürfte, würde ich bei zweien dieser Gesänge den Vorzug dem Franzosen geben, nämlich bei der Schilderung der Bartholomäusnacht und dem Traume Heinrichs IV. Nur in der Liebe der Dido scheint Virgil über Voltaire den Sieg davonzutragen, weil der Lateiner fesselt und zum Herzen spricht, während der Franzose sich nur in Allegorien ergeht. Aber bei ehrlicher Prüfung beider Dichtungen, ohne Vorurteil für die Alten oder Neueren, muß man einräumen, daß viele Einzelheiten der „Äneis“ in den Werken unsrer Zeitgenossen nicht mehr geduldet würden, so z. B. das Totenopfer, das Äneas seinem Vater Anchises darbringt, die Fabel von den Harpyen, die Prophezeiung dieser Fabelwesen, die Trojaner würden noch in solche Not kommen, daß sie ihre Teller essen müßten — eine Prophezeiung, die dann später in Erfüllung geht —, das Mutterschwein mit den neun Frischlingen, das die Stätte bezeichnet, wo Äneas das Ende seiner Mühen finden soll, die Verwandlung seiner Schiffe in Nymphen, der von Askanius erlegte Hirsch, der den Krieg der Trojaner und Rutuler herbeiführt, der Haß gegen Äneas, den die Götter ins Herz der Amata und Lavinia legen, derselben Lavinia, die Äneas am Ende fteit. Vielleicht war Virgil mit diesen Fehlern selbst unzufrieden und wollte deshalb sein Werk verbrennen. Jedenfalls stellen sie nach der Meinung urteilsvoller Kunsirichter die „Äneis“ unter die „Henriade“. Wenn das Verdienst eines Autors in der Überwindung von Schwierigleiten liegt, so ist es sicher, daß Voltaire mehr zu überwinden fand als Virgil. Der Gegenstand der „Henriade“ ist die Unterwerfung von Paris durch die Bekehrung Heinrichs IV. Der Dichter konnte also den Wunderapparat nicht nach Belieben benutzen; er sah sich auf die christlichen Mysterien beschränkt, die weniger reich an lieblichen und malerischen Bildern sind als die Mythologie der Heiden. Gleichwohl kann man bei der Lektüre des X. Gesanges der „Henriade“ nicht umhin, zu gestehen,<239> daß der Zauber der Dichtung jeden Gegenstand zu veredeln vermag. Voltaire war der einzige, der mit seiner Dichtung unzufrieden war. Er fand, sein Held hätte weniger große Gefahren zu bestehen als Äneas und könne darum nicht so fesseln wie dieser, der aus einer Gefahr stets in die nächste gerät.

Prüft man ebenso unparteiisch die Tragödien Voltaires, so wird man zugeben, daß er hier und da Racine übertrifft, an andrer Stelle aber hinter dem berühmten Dramatiker zurücksieht. Sein erstes Theaterstück war „Ödipus“. Seine Phantasie war damals erfüllt von den Schönheiten des Sophokles und Euripides, und sein Gedächtnis gemahnte ihn fortwährend an die flüssige Eleganz Racines. Dank diesem doppelten Vorzug wirkte sein Stück auf der Bühne als Meisterwerk. Einige wohl zu strenge Kritiker fanden daran zu tadeln, daß die fast erloschene Leidenschaft der alten Jokaste in Gegenwart des Philoktet wieder aufflammt. Hätte der Dichter aber die Rolle des Philottet beschnitten, so hätte er uns die Freude an den Schönheilen genommen, die der Gegensatz zwischen dem Charakter des Philottet und des Ödipus zeitigt. Seinen „Brutus“ hielt man für passender auf der Londoner als auf der Pariser Bühne; denn in Frankreich wird ein Vater, der seinen Sohn kalt, blutig zum Tode verurteilt, als Barbar gelten, während in England ein Konsul, der sein eignes Fleisch und Blut der Freiheit des Vaterlandes opfert, als Gott an, gesehen wird. Seine „Mariamne“ und eine Anzahl andrer Stücke zeugen noch für die Kunst und die Fruchtbarkeit seines Schaffens. Jedoch darf man sich nicht verhehlen, daß manche, vielleicht zu strenge Kritiker unsrem Dichter vorwerfen, der Bau seiner Tragödien reiche an die Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Racineschen nicht heran. Bei der Aufführung von „Iphigenie“, „Phädra“ und „Athalie“, sagen sie, entwickelt sich die Handlung ungezwungen vor unsren Augen, wogegen man sich bei der Aufführung der „Zaire“ über die Wahrscheinlichkeit hinwegsetzen und gewisse auffällige Fehler übersehen muß. Der zweite Akt fällt nach ihrer Meinung aus dem Ganzen heraus. Man muß das Geschwätz des alten Lusignan über sich ergehen lassen, der in seinen Palast zurückgekehrt ist, aber nicht weiß, wo er sich befindet, und von seinen früheren Waffentaten spricht, wie ein Oberstleutnant vom Regiment Navarra, der Gouverneur von Péronne geworden ist. Man weiß nicht recht, wie er seine Kinder wiedererkennt. Um seine Tochter zum Christentum zu bekehren, erzählt er ihr, sie sei auf dem Berge, wo Abraham seinen Sohn Isaak dem Herrn opferte oder opfern wollte. Er redet ihr zu, sich taufen zu lassen, nachdem Chatillon bezeugt hat, daß er sie selbst getauft habe — und das ist der Knoten des Stückes! Nach dieser kalten und matten Handlung stirbt Lusignan am Schlagfluß, ohne daß irgend jemand an seinem Schicksal Anteil nimmt. Da die Handlung des Stückes einen Priester und ein Sakrament nötig machte, hätte die Taufe wohl durch die Kommunion ersetzt werden können. So begründet aber auch diese Einwendungen sein mögen, man verliert sie im fünften Akt aus den Augen: das Interesse, die Furcht und das Mitleid, die der große Dichter so meisterlich zu erregen weiß, reißen<240> den Zuschauer hin, und von gewaltigen Leidenschaften erschüttert, vergißt er über so großen Schönheiten kleine Mängel. Man wird also einräumen, daß Racine den Vorzug größerer Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit im Bau seiner Dramen hat, daß in seiner Versgestaltung eine ununterbrochene Eleganz, Weichheit und Flüssigkeit herrscht, die bis jetzt kein Dichter annähernd erreicht hat. Andrerseits muß man zu, geben, daß Voltaire, von einigen epischen Breiten in seinen Stücken und vom fünften Akt seines „Catilina“ abgesehen, die Spannung von Szene zu Szene, von Aufzug zu Aufzug bis zur Katastrophe kunstvoll zu steigern versieht, und das ist der Gipfel der Kunst.

Sein Universalgenie umfaßte jede Kunstart. Nachdem er es mit Birgit auf, genommen und ihn vielleicht übertroffen hatte, wollte er sich mit Ariost messen. Er verfaßte die „Pucelle“ im Stil des „Rasenden Roland“, jedoch ohne ihn nachzuahmen. Die Fabel, die Wundergeschichten, die Episoden — alles darin ist Original, alles atmet die Heiterkeit einer glänzenden Einbildungskraft.

Seine Gesellschaftsgedichte bildeten das Entzücken aller Leute von Geschmack. Der Verfasser selbst gab nicht viel darauf, wiewohl weder Anakreon, noch Horaz,. Ovid und Tibull, noch die andren Schöngeister des Altertums uns irgend ein Muster in dieser Gattung hinterlassen haben, das er nicht erreicht hätte. Sein Geist gebar diese Werke mühelos; das befriedigte ihn nicht. Er glaubte, ein wohlverdienter Ruf müsse durch Überwindung der größten Hindernisse erworben werden.

Nachdem wir in Kürze die Talente des Dichters aufgezählt haben, gehen wir zu denen des Historikers über. Die „Geschichte Karls XII.“ (1731) war sein erstes Geschichtswerk. Er wurde der Quintus Curtius dieses Alexanders240-1. Die Blumen, die er über seinen Stoff ausstreut, verändern die Grundlage der Wahrheit nicht. In den leuchtendsten Farben malt er die glänzende Tapferkeit des nordischen Helden, seine Festigkeit bei manchen Gelegenheiten, seinen Starrsinn bei andren, sein Glück und Unglück. Nachdem er seine Kräfte an Karl XII. versucht hatte, wagte er sich an die Geschichte des „Zeitalters Ludwigs XIV.“ (1751). Hier finden wir nicht mehr den romanhaften Stil des Quintus Curtius, sondern den Stil des Cicero, dessen Rede Pro lege Manilia240-2 zur Lobrede auf Pompejus wird. Als Franzose hebt er mit Begeisierung die berühmten Ereignisse jenes großen Zeitalters hervor und setzt die Vorzüge ins hellste Licht, die seinem Volke damals das Übergewicht über die andren Nationen gaben: die Fülle großer Geister, die unter der Regierung Ludwigs XIV. erstanden, die Herrschaft der Künste und Wissenschaften unter dem Schutze eines so glänzenden Hofes, die Fortschritte des Gewerbfieißes aller Art und die innere Kraft Frankreichs, die den König gleichsam zum Schiedsrichter Europas machte. Dies einzig dastehende Werk mußte Voltaire die Zuneigung und Dankbarkeit des ganzen französischen Volkes erwerben, dem er mehr Ansehen verschaffte als irgend ein andrer<241> französischer Schriftsteller. In seinem „Versuch über die Weltgeschichte“241-1 wechselt der Stil abermals: er ist schlicht und kraftvoll. Seine Geistesart offenbart sich in der Weise, wie er die Geschichte behandelt, besser als in seinen übrigen Schriften. Man merkt darin die Überlegenheit eines Geistes, der alles im großen sieht, sich nur an das Bedeutende hält und die Kleinigkeiten übergeht. Das Werk ist nicht geschrieben, um denen Geschichte zu lehren, die sie nie studiert haben, sondern nur, um die Haupttatsachen denen ins Gedächtnis zu rufen, die sie schon kennen. Er befolgt das oberste Gesetz des Geschichtsschreibers, die Wahrheit zu sagen. Die eingestreuten Betrachtungen sind kein Beiwerk, sondern stehen in engstem Zusammenhang mit dem Stoffe.

Es bleibt uns noch eine Fülle andrer Abhandlungen Voltaires übrig, auf die ein näheres Eingehen fast unmöglich ist. Die einen sind kritischer Natur; in andren klärt er metaphysische Fragen, wieder andre drehen sich um Astronomie, Geschichte, Physik, Redekunst, Poetik und Mathematik. Selbst seine Romane haben einen originellen Zug. „Zadig“, „Micromegas“, „Candide“ sind Schriften, die unter scheinbarer Oberflächlichkeit moralische Allegorien oder Kritiken moderner philosophischer Systeme bergen, wo das Nützliche Hand in Hand mit dem Angenehmen geht.

Diese Fülle von Talenten und verschiedenen Kenntnissen, in einer Person vereint, versetzen den Leser in ein Gemisch von Überraschung und Erstaunen. Gehen Sie das leben aller großen Männer des Altertums durch, deren Name auf uns gekommen ist. Sie werden finden, meine Herren, daß jeder sich auf ein einziges Talent beschränkte. Aristoteles und Plato waren Philosophen, Äschines und Demosthenes Redner, Homer ein Epiker, Sophokles ein Dramatiker. Anakreon pflegte die gefällige Muse; Thukydides und Xenophon waren Geschichtsschreiber. Ebenso waren bei den Römern Virgil, Horaz, Ovid und Lukrez nur Dichter, Livius und Varro241-2 Geschichtsschreiber, Crassus, der ältere Antonius und Hortensius Redner. Nur Cicero, Konsul und Redner, Verteidiger und Vater des Vaterlandes, hat verschiedene Talente und Kenntnisse in sich vereint. Mit der Macht des Wortes, die ihn über alle seine Zeitgenossen erhob, verband er tiefes Studium der Philosophie, wie man sie zu seiner Zeit kannte. Das zeigt sich in seinen Tuskulanen, in seiner wundervollen Abhandlung „Über die Natur der Götter“, in seiner Schrift „Von den Pflichten“, die vielleicht das beste Moralbuch ist, das wir besitzen. Cicero war sogar Dichter. Er übersetzte die Verse des Aratos241-3 ins Lateinische, und wie man glaubt, hat er durch seine Verbesserungen das Gedicht des Lukrez241-4 vervollkommnet.

Wir mußten also den Zeitraum von siebzehn Jahrhunderten durchlaufen, um unter der Fülle der Sterblichen, die das Menschengeschlecht bilden, einen einzigen, Cicero, zu finden, dessen Kenntnisse sich mit denen unsres berühmten Schriftstellers<242> vergleichen lassen. Man kann sagen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, daß Voltaire allein eine ganze Akademie aufwog. Er hat manches geschrieben, worin man Bayle mit dem ganzen Rüstzeug seiner Logik zu erkennen glaubt, andres, wo man Thukydides zu lesen vermeint. Bald entdeckt er als Physiker die Naturgeheimnisse, bald folgt er als Metaphysiker, auf Analogie und Erfahrung gestützt, mit gemessenen Schritten der Fährte Lockes. In andren Werken finden Sie ihn als Nebenbuhler des SophoNes; dort weiß er ein trockenes Thema reizvoll zu gestalten; hier pflegt er die heitere Muse. Aber offenbar strebt er in seinem hohen Geistesflug nicht allein danach, sich mit Terenz oder Moliere zu messen. Bald sehen Sie ihn den Pegasus besteigen, der seine Flügel entfaltet und ihn auf die Höhen des Helikon trägt, wo der Gott der Musen ihm seinen Platz zwischen Homer und Virgil anweist.

Solche mannigfaltigen Schöpfungen und solche gewaltigen Anstrengungen des Genius wirkten schließlich mächtig auf die Geister, und ganz Europa zollte Voltaires hervorragenden Talenten Beifall. Man darf nicht glauben, daß Eifersucht und Neid ihm erspart blieben: sie spitzten alle ihre Pfeile, um ihn zu Fall zu bringen. Der den Menschen eingeborene Unabhängigkeitstrieb, der ihnen Abneigung selbst gegen die rechtmäßigste Autorität einstößt, machte sie um so erbitterter gegen eine Überlegenheit an Talenten, die sie in ihrer Unzulänglichkeit nicht erreichen konnten. Doch der Beifall übertönte das Geschrei der Neider. Die Gelehrten fühlten sich durch die Bekanntschaft mit diesem großen Manne geehrt. Wer irgend Philosoph genug war, um das persönliche Verdienst anzuerkennen, stellte Voltaire weit über die, deren Vorfahren, Titel, Stolz und Reichtum ihr einziges Verdienst bilden. Voltaire gehörte zu der kleinen Zahl der Philosophen, die da sagen können: Omnia mea mecum porto242-1. Prinzen, Fürsten, Könige, Kaiserinnen überhäuften ihn mit Zeichen ihrer Hochachtung und Bewunderung. Damit wollen wir zwar nicht behaupten, daß die Großen der Erde die besten Beurteiler des Verdienstes seien, aber es beweist doch so viel, daß der Ruf unsres Autors allgemein so fest begründet war, daß die Häupter der Völker der öffentlichen Meinung nicht widersprachen, sondern im Gegenteil glaubten, sich ihr anschließen zu müssen.

Wie aber in der Welt das Gute stets mit dem Schlechten gepaart ist, so geschah es, daß Voltaire, so empfänglich für den Beifall der Welt, dessen er sich erfreute, nicht minder empfindlich war gegen die Stiche jener Insekten, die sich vom Schlamme des Musenquells nähren. Weit entfernt, sie zu züchtigen, verewigte er sie, indem er ihre obskuren Namen in seine Werke setzte. Von ihnen wurde er jedoch nur leicht verunglimpft im Vergleich zu den weit heftigeren Verfolgungen, die er von den Geistlichen zu erdulden hatte. Sie, die schon von Berufs wegen als Diener des Friedens nur Werke der Barmherzigkeit und Wohltaten hätten vollbringen sollen, fielen, durch falschen Eifer verblendet und durch Fanatismus verdummt, über ihn<243> her und wollten ihn durch Verleumdungen zu Falle bringen. Ihre Unwissenheit machte ihr Vorhaben zuschanden. Aus Mangel an Einsicht verwirrten sie die klarsten Begriffe, legten die Stellen, wo unser Autor Duldung predigt, als Lehrsätze des Atheismus aus, und derselbe Voltaire, der alle Hilfsquellen seines Genius zum kraftvollen Nachweis vom Dasein Gottes anwandte, wurde zu seinem großen Erstaunen gescholten, dessen Dasein geleugnet zu haben.

Aber wenn jene frommen Seelen ihrem Haß gegen ihn so ungeschickt Luft machten, so ernteten sie damit nur den Beifall von Leuten ihres Schlages, nicht aber von denen, die den leisesten Begriff von Logik hatten. Sein eigentliches Verbrechen bestand darin, daß er in seiner Geschichte nicht feige die Lasier so vieler Päpste verhehlte, die die Kirche entehrt haben, daß er mit Fra Paolo243-1, mit Fleury243-2 und so vielen andren aussprach, wieviel öfter die Leidenschaften das Benehmen der Priester bestimmten als die Eingebung des Heiligen Geistes, daß er in seinen Werken Abscheu gegen jene entsetzlichen Metzeleien erregte, die aus falschem Eifer begangen wurden243-3, und daß er schließlich jene unverständlichen und nichtigen Streitereien, denen die Theologen aller Sekten soviel Bedeutung beilegen, mit Verachtung behandelte. Fügen wir zur Vollendung des Bildes noch hinzu, daß alle Werke Voltaires frisch von der Presse verkauft wurden, während die Bischöfe mit heiligem Grimm sahen, wie ihre Hirtenbriefe von Würmern zerfressen wurden oder in den Buchhändlerläden vermoderten. So urteilen dumme Priester! Man würde ihnen ihre Dummheit verzeihen, wenn ihre falsche Logik die Ruhe des Bürgers nicht störte. Gibt man der Wahrheit die Ehre, so genügt der Mangel an Denkvermögen zur Kennzeichnung dieser elenden und verächtlichen Wesen, die ihren Beruf darin sehen, die Vernunft in Fesseln zu schlagen und mit dem gesunden Menschenverstand offen zu brechen.

Da es hier Voltaire zu rechtfertigen gilt, dürfen wir keine der Beschuldigungen übergehen, die man ihm zur Last legte. Die Scheinheiligen bezichtigten ihn also noch, er habe die Anschauungen Epikurs, Hobbes', Woolstons243-4, Lord Bolingbrokes und andrer Philosophen verkündet. Aber ist es nicht klar, daß er, anstatt ihre Lehren durch das zu bestärken, was auch jeder andre hätte hinzufügen können, sich mit der Rolle des Berichterstatters begnügt und die Entscheidung des Prozesses seinen Lesern anheimgibt? Und zweitens, wenn die Religion auf Wahrheit beruht, was hat sie dann von allem zu fürchten, was die Lüge gegen sie erfinden kann? Davon war Voltaire fest überzeugt. Er hielt es nicht für möglich, daß die Zweifel eines Philosophen über die göttlichen Offenbarungen den Sieg davontragen könnten.

Aber gehen wir weiter. Vergleichen wir die in seinen Werken vertretene Moral mit der seiner Verfolger. Er sagt, die Menschen sollen sich wie Brüder lieben; sie haben die Pflicht, einander die Last des Lebens tragen zu helfen, wo die Summe<244> der Leiden die der Freuden überwiegt; ihre Meinungen sind so verschieden wie ihre Gesichter. Statt sich zu verfolgen, weil nicht alle das gleiche denken, sollen sie sich darauf beschränken, das Urteil der im Irrtum Befangenen durch Gründe zu berichtigen, nicht aber Feuer und Schwert zu Hilfe zu nehmen. Kurz, sie sollen sich gegen ihre Nächsten so betragen, wie sie wünschen, daß man sie behandle. Ist es nun Voltaire, der so spricht, oder der Apostel Johannes, oder ist es die Sprache des Evangeliums? Stellen wir nun die praktische Moral der Heuchler oder der falschen Eiferer daneben. Sie drückt sich wie folgt aus: „Rotten wir die aus, die anders denken, als wir wünschen. Schlagen wir die zu Boden, die unsren Ehrgeiz und unsre Lasier enthüllen. Gott sei der Schild unsrer Ungerechtigkeit. Mögen die Menschen sich zerfleischen, mag Blut stießen, was liegt daran, wenn nur unser Ansehen wächst? Machen wir Gott unversöhnlich und grausam, damit die Zolleinnahmen für das Fegefeuer und das Paradies unsre Einkünfte vergrößern.“ Derart dient die Religion oft nur den Leidenschaften der Menschen zum Vorwand, und durch ihre Verderbtheit wird die reinste Quelle des Guten zur Quelle des Bösen.

Da die Sache Voltaires eine so gute war, wie wir eben zeigten, so erhielt er den Beifall aller Tribunale, an denen die Vernunft mehr Gehör fand als mystische Sophismen. So sehr er auch vom Priesterhaß verfolgt ward, er unterschied stets zwischen der Religion und denen, die sie entehren. Stets ward er den Geistlichen gerecht, die durch ihre Tugenden der Kirche wahrhaft zur Zierde gereichten, und tadelte nur die, die sich durch ihre Sittenverderbnis zum Abscheu der Welt machten.

So verbrachte Voltaire sein Leben zwischen den Verfolgungen seiner Neider und der Begeisterung seiner Bewunderer, ohne daß der Spott der einen ihn demütigte und ohne daß der Beifall der andren ihm eine höhere Meinung von sich selbst beibrachte. Er begnügte sich damit, die Welt aufzuklären und durch seine Werke die Liebe zu den Wissenschaften und zur Menschheit zu verbreiten. Nicht zufrieden damit, Moralvorschriften zu geben, predigte er das Wohltun durch sein eignes Beispiel. Sein mutiger Beistand kam der unglücklichen Familie des Calas zu Hilfe244-1. Er trat für Sirven ein und entriß ihn den barbarischen Händen seiner Richter244-2. Er hätte den Chevalier de La Barre von den Toten erweckt, hätte er die Gabe, Wunder zu tun, besessen244-3. Wie schön ist es, wenn ein Philosoph aus seiner Zurückgezogenheit die Stimme erhebt, wenn die Menschlichkeit, deren Anwalt er ist, die Richter zwingt, ungerechte Urteile umzustoßen! Hätte Voltaire nur diesen ein<245>zigen Zug für sich, er verdiente unter die kleine Zahl der wahren Wohltäter der Menschheit versetzt zu werden. Philosophie und Religion lehren also übereinstimmend den Weg der Tugend. Urteilen Sie selbst, wer christlicher ist, die Behörde, die eine Familie grausam aus dem Vaterlande stößt, oder der Philosoph, der sie aufnimmt und unterstützt? Der Richter, der mit dem Schwert der Gerechtigkeit einen Unbesonnenen mordet, oder der Weise, der das Leben des Jünglings retten will, um ihn zu bessern, der Henker des Calas oder der Beschützer seiner verzweifelten Familie? Solche Züge werden das Andenken Voltaires für ewig allen denen teuer machen, die mit gefühlvollem Herzen geboren sind und am Los ihrer Mitmenschen Anteil nehmen. Wie köstlich die Gaben des Geistes und der Einbildungskraft auch seien, wie hoch der Genius stiegen, wie umfassend die Kenntnisse sein mögen — diese Geschenke, die die Natur nur selten in Fülle austeilt, erheben uns doch nie über Taten der Menschenliebe und Wohltätigkeit. Jene werden bewundert, diese aber werden verehrt und gesegnet.

Wie schwer es mir auch wird, meine Herren, mich für immer von Voltaire zu trennen, ich fühle doch den Augenblick nahen, wo ich den Schmerz erneuern muß, den sein Verlust Ihnen verursacht. Wir haben ihn ruhig in Ferney gelassen. Geldgeschäfte riefen ihn nach Paris, wo er noch zeitig genug einzutreffen hoffte, um den Rest seines Vermögens aus einem Bankrott zu retten, in den er verwickelt war. Er wollte nicht mit leeren Händen in sein Vaterland zurückkehren. Indem er seine Zeit abwechselnd in den Dienst der Philosophie und der schönen Wissenschaften stellte, brachte er eine Fülle von Werken hervor und hatte stets einige in Vorrat. Da er eine neue Tragödie „Irene“ verfaßt hatte, wollte er sie in Paris aufführen lassen. Er pflegte seine Stücke der strengsten Kritik zu unterwerfen, bevor er sie an die Öffentlichkeit brachte. Diesem Grundsatz getreu, beriet er sich in Paris mit allen ihm bekannten Leuten von Geschmack und opferte eitle Eigenliebe dem Wunsche, seine Werke des Nachruhms würdig zu machen. Gelehrig folgte er den klugen Ratschlägen, die man ihm erteilte, und mit einzig dastehendem Feuereifer ging er an die Verbesserung seiner Tragödie. Ganze Nächte verbrachte er mit ihrer Umarbeitung. Sei es nun, um den Schlaf zu verscheuchen oder seine Sinne zu beleben, er genoß unmäßig viel Kaffee: fünfzig Tassen täglich reichten kaum hin245-1. Dies Getränt setzte sein Blut in heftige Wallung und erhitzte es derart, daß er zur Beschwichtigung des Fiebers Opium nahm, und zwar in so starten Dosen, daß es, statt sein Übel zu lindern, sein Ende beschleunigte. Bald nach diesem mit so wenig Vorsicht angewandten Mittel stellte sich eine Art Lähmung ein, dann ein Schlagfiuß, der seinem Leben ein Ende machte.

Obgleich Voltaire von zarter Konstitution und seine Natur durch Kummer, Sorgen und anstrengende Arbeit geschwächt war, erreichte er doch ein Alter von<246> vierundachtzig Jahren. Bei ihm beherrschte der Geist stets den Leib. Seine starte Seele teilte ihre Kraft einem Körper mit, der fast wie ein Hauch war. Sein Gedächtnis war erstaunlich. Bis zum letzten Atemzuge blieb sein Geist völlig klar und seine Vorstellungskraft rege. Mit welcher Freude, meine Herren, erinnere ich Sie an die Beweise von Bewunderung und Dankbarkeit, die die Pariser diesem großen Manne während seines letzten Aufenthaltes im Vaterlande darbrachten246-1! Es ist schön, aber selten, daß die Welt gerecht ist und jenen Ausnahmemenschen, die die Natur nur hin und wieder hervorbringt, schon bei Lebenszeit Gerechtigkeit widerfahren läßt, daß sie bei ihren Zeitgenossen selbst den Beifall finden, den sie von der Nachwelt mit Sicherheit ernten. Man durfte billig erwarten, daß auf Voltaire, der den ganzen Scharfsinn seines Genius dem Ruhme seines Volkes gewidmet hat, einige Strahlen zurückfallen würden. Das haben die Franzosen gefühlt und sich durch ihre Begeisterung des Glanzes würdig gemacht, den ihr großer Lands, mann über sie und über das Jahrhundert ausgegossen hat. Würde man indes glauben, daß einem Voltaire, dem das heidnische Hellas Altäre und das alte Rom Statuen errichtet hätte, dem eine große Kaiserin, die Beschützerin der Wissenschaften, in Petersburg ein Denkmal setzen wollte246-2, daß einem solchen Manne, sage ich, in seinem Vaterlande das bißchen Erde fast verweigert wurde, das seine Asche bedeckte? Wie? Im achtzehnten Jahrhundert, wo die Aufklärung verbreiteter ist denn je, wo der philosophische Geist so große Fortschritte gemacht hat, sollte es Priester geben, barbarischer als die Heruler, würdiger, unter den Völkern von Taprobane246-3 zu leben, als im Schoße der französischen Nation, Elende, die, durch falschen Eifer verblendet und von Fanatismus trunken, verhindern, daß die letzten Pflichten der Menschlichkeit einem der berühmtesten Männer erwiesen werden, die Frankreich hervorgebracht hat? Und doch hat Europa das mit Schmerz und Entrüstung gesehen246-4! Aber wie groß auch der Haß dieser Rasenden und ihre feige Rachsucht sei, die sie noch gegen Leichname wüten läßt — weder das Geschrei des Neides noch ihr wildes Geheul werden Voltaires Andenken bestecken. Das gelindeste Schicksal, das<247> sie erwarten dürfen, ist, daß sie und ihre schnöden Ränke für ewlg ins Dunkel der Vergessenheit sinken, während Voltaires Ruhm von Zeitalter zu Zeitalter wachsen und sein Name unsterblich sein wird.

<248><249>

V. Pädagogische Schriften

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Instruktion für die Académie des Nobles in Berlin (1765)251-1

Die Absicht des Königs bei der Gründung dieser Akademie ist die Vorbildung von jungen Edelleuten zum Soldatenstand oder zum Staatsdienst, je nach der Art ihrer Talente. Die Lehrer sollen sich also nicht nur befleißigen, das Gedächtnis ihrer Schüler mit nützlichen Kenntnissen zu erfüllen, sondern vor allem ihrem Geiste Kraft und Regsamkeit geben, damit sie sich in beliebige Gegenstände hineinzuarbeiten vermögen. Vor allem sollen sie ihren Verstand und ihr Urteil ausbilden. Folglich müssen sie ihre Schüler daran gewöhnen, sich von allen Dingen klare und deutliche Begriffe zu machen und sich nicht mit wirren und unbestimmten Vorstellungen zu begnügen.

Da die ökonomische Einrichtung der Anstalt völlig geregelt ist, so beschränkt sich diese Instruktion auf den Unterricht und auf die in jedem Gemeinwesen so nötige Aufsicht.

Unterricht

Seine Majestät will, daß die Schüler die unteren Klassen, den Unterricht in Latein, Katechismus und Religion im Ioachimstalschen Gymnasium durchmachen251-2. In der ersten Klasse sollen sie zugleich Französisch lernen und sich die Grundlagen dieser Sprache in der Akademie erwerben. Nach Absolvierung der ersten Klasse kommen sie in die Hände des Puristen, der ihnen ihre barbarische Mundart abgewöhnen und ihre Stil- und Ausdrucksfehler verbessern soll.

Danach lernen sie bei Herrn Toussaint Rhetorik. Er hat mit dem Unterricht in der Logik zu beginnen, darfaber nicht zuviel Gewicht aufdie verschiedenen schulmäßigen Formen der Beweisführung legen, sondern soll vor allem auf Richtigkeit des Urteils sehen. Er muß sie streng zu klarer Fassung der Begriffe anhalten, darf ihnen keine Zweideutigkeit, keinen falschen Gedanken, keinen schiefen Sinn durchlassen. Er soll sie soviel wie möglich in der Beweisführung üben, sie daran gewöhnen, Schlußfolge, rungen aus gegebenen Voraussetzungen zu ziehen und Gedanken zu verknüpfen. Dann soll er ihnen die Kunstausdrücke erklären und ihnen nach Beendigung des Unterrichts noch eine halbe Stunde Zeit geben, damit sie selbst Bilder, Vergleiche,<252> Anreden, Prosopopöen usw. anfertigen. Hiernach soll er ihnen die Beweisführung des Redners lehren, das Enthymema, das große Argument in fünf Teilen, die verschiedenen Teile der Rede und die Art ihrer Behandlung. Für die gerichtliche Redekunst soll er die Reden Ciceros benutzen, für die beratende Redegattung Demosthenes, für die demonstrative Gattung Fléchier und Bossuet, sämtlich auf Französisch. Ferner kann er einen kleinen Kursus der Poesie mit ihnen durchnehmen, um ihren Geschmack zu bilden. Homer, Birgit, ein paar Oden von Horaz, Voltaire, Boileau und Racine sind die fruchtbaren Quellen, aus denen er schöpfen kann. Das wird den Geist der jungen Leute zieren und ihnen zugleich Geschmack an den schönen Künsten beibringen. Sobald die Schüler einige Fortschritte gemacht haben, soll er sie Reden in allen drei Gattungen verfassen lassen, die sie ohne Hilfe anfettigen müssen. Erst wenn sie ihre Arbeiten vorgelesen haben, soll er sie verbessern.

Der Grammatiker, der dieser Klasse beigegeben ist, soll ihre Sprachfehler ver, bessern und Herr Toussaint ihre Verstöße gegen die Rhetorik. Ferner sollen die jungen Leute die Briefe der Frau von Sevigne, des Grafen d'Esirades252-1 und des Kardinals d'Ossat252-2 lesen und über alle möglichen Gegenstände Briefe verfassen.

Herr Toussaint soll einen Kursus der Kunstgeschichte hinzufügen. Er wird mit Grie, chenland, der Wiege der schönen Künste, beginnen und die Hervorragendsten griechischen Künstler namhaft machen. Dann soll er zu der zweiten Kunstblüte unter Cäsar und Augustus übergehen, zur Wiedergeburt der Künste unter den Medizäern, zu ihrer hohen Vollendung unter Ludwig XIV., und mit den berühmtesten Künstlern unsrer Zeit enden.

Der Geschichts- und Geographielehrer soll einen Auszug der alten Geschichte von Rollin verfassen und den Schülern die großen Zeitalter und die Namen der berühmtesten Männer gut einprägen. Für die römische Geschichte kann er Echard252-3 benutzen, für die Geschichte des Deutschen Reiches einen Auszug aus dem Pater Barre252-4. Das eigentliche Geschichtsstudium soll sich nur von Karl V. bis auf die Gegenwart ersirecken. Diese interessanten Begebenheiten hängen aufs engste mit der Gegenwart zusammen, und ein junger Mann, der in die Welt treten will, darf nicht in Unkennt, nis der Begebenheiten bleiben, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen Europas verkettet sind und sie geschassen haben. Der Professor soll nicht nur Geschichte lehren, sondern auch jedesmal nach Beendigung des Unterrichts eine halbe Stunde lang Fragen über den eben behandelten Zeitabschnitt stellen. Dadurch wird er die jungen Leute zu moralischen, politischen und philosophischen Betrachtungen anregen; denn das ist für sie nützlicher als alles, was sie lemen. So wird er sie über den Aberglauben der verschiedenen Völker befragen, z. B.: „Glaubt Ihr, daß Curtius durch seinen<253> Sprung in den Abgrund, der sich in Rom aufgetan hatte, diesen Abgrund schloß? Ihr seht, daß so etwas in unsren Tagen nicht vorkommt; daraus ergibt sich, daß diese Geschichte nur eine alte Fabel ist.“ Die Geschichte des Decius253-1 bietet dem Lehrer eine vorzügliche Gelegenheit, das Herz seiner Schüler zu glühender Vaterlandsliebe zu entstammen, die der fruchtbare Urgrund von Heldentaten ist. Bei Cäsars Geschichte kann er die jungen Leute fragen, was sie von der Handlungsweise dieses Bürgers halten, der sein Vaterland unterjochte. Die Kreuzzüge liefern einen schönen Stoff zur Bekämpfung des Aberglaubens. Die Darstellung der Bartholomäusnacht wird den jungen Leuten Abscheu gegen den Fanatismus einstoßen. Kommt er auf Eincinnatus, Scipio, Ämilius Paulus, so wird er ihnen begreiflich machen, daß ihre Großtaten aus der Liebe zur Tugend entsprangen und daß es ohne Tugend keinen Ruhm, keine wahrhafte Größe gibt. Derart liefert die Geschichte Beispiele zu allem. Ich deute nur die Methode an, ohne den Stoff zu erschöpfen. Ein gescheiter Lehrer wird genug darin finden, um seine Lehrweise nach dem Gesagten einzurichten.

Im Geographieunterricht wird derselbe Professor mit den vier Erdteilen beginnen. Für Asten, Afrika und Amerika genügen die Namen der großen Völker. Europa erheischt genauere Kenntnisse. Da Deutschland das Vaterland der jungen Leute ist, so wird der Professor ausführlich eingehen auf die deutschen Herrscher, die Flüsse Deutschlands, die Hauptstädte jeder Provinz, die Reichsstädte usw. Für diesen Teil seines Unterrichts kann er Hübner253-2 benutzen.

Der Lehrer der Metaphysik wird mit einem kleinen Kursus der Moral beginnen. Er soll von dem Grundsatz ausgehen, daß die Tugend für den, der sie übt, nützlich und förderlich ist253-3. Er wird ohne Mühe beweisen, daß die Gesellschaft ohne Tugend nicht bestehen kann. Als Gipfel der Tugend soll er den Schülern die vollkommenste Selbstlosigkeit hinstellen, kraft deren der Mensch seine Ehre seinem Nutzen, das allgemeine Beste seinem persönlichen Vorteil, das Wohl des Vaterlands seinem eignen Leben vorzieht. Er soll sie zwischen rechtem und falschem Ehrgeiz unterscheiden lehren und ihnen klarmachen, daß der rechtschaffene Ehrgeiz oder Wetteifer die Tugend der großen Seelen ist, die Triebfeder, die uns zu edlen Taten treibt und unbekannte Menschen alles wagen läßt, um ihren Namen im Tempel der Erinnerung zu verewigen. Er soll ihnen einprägen, daß so edler Gesinnung nichts mehr zuwiderläuft, daß nichts uns mehr erniedrigt als Neid und niedrige Scheelsucht. Vor allem soll er den jungen Leuten begreiflich machen, daß, wenn dem menschlichen Herzen ein Gefühl eingeboren ist, es das Gefühl für Recht und Unrecht ist. Insbesondre soll er versuchen, seinen Schülern Begeisterung für die Tugend einzuflößen.

Der metaphysische Kursus soll mit der Geschichte der philosophischen Systeme beginnen, von den Peripathetikern, Epikuräern, Stoikern und Akademikern253-4 bis auf<254> unsre Tage. Der Professor soll den jungen Leuten die Lehrmeinung jeder Sekte genau auseinandersetzen unter Zuhilfenahme der Artikel von Bayle254-1, der „Tuskulanen“ und der Schrift „De natura deorum“ von Cicero in französischer Übersetzung. Dann soll er zu Descartes, Leibniz, Malebranche und schließlich zu Locke übergehen, der sich allein am Faden der Erfahrung durch die Finsternisse der Meta, physik tastet, soweit dieser Faden reicht, und am Rande der für die menschliche Vernunft unzugänglichen Abgründe halt macht. Bei Locke muß der Lehrer also am längsten verweilen.

Indes soll er nach jeder Stunde den jungen Leuten noch eine halbe Stunde Zeit geben, wo sie, durch die Vorschule der Logik und Rhetorik gebildet, die von ihnen geforderten Übungen zu machen imstande sind. Der Professor wird also durch einen der jungen Leute das System des Zeno angreifen und es durch einen andren verteidigen lassen, und so weiter bei jedem System. Danach soll er alles rekapitulieren, was sie über den Gegenstand gesagt haben, sie auf die Schwächen ihrer Angriffe oder Verteidigungen hinweisen, die Gründe ergänzen, die sie nicht angeführt, oder die Folgerungen ziehen, die sie unterlassen haben. Diese Disputationen sollen ohne Vorbereitung stattfinden, erstens, um die jungen Leute zur Aufmerksamkeit im Unterricht anzuhalten, zweitens, damit sie selbständig denken lernen, und drittens, damit sie sich daran gewöhnen, sofort über alle Gegenstände zu reden.

Ich gehe zum Mathematiklehrer über. Herr Sulzer begreift, daß er keine Bernoullis und Newtons heranbilden soll. Trigonometrie und Befestigungslehre sind das, was seinen Schülern am nützlichsten werden kann. Er wird also hierbei und bei allem, was damit zusammenhängt, am längsten verweilen. Daneben wird er einen Kursus der Astronomie abhalten, in dem er alle verschiedenen Systeme bis Newton durchgeht und den Gegenstand mehr historisch als mathematisch behandelt. Auch einen Überblick über die Mechanik wird er hinzufügen, ohne jedoch zu tief auf den Gegenstand einzugehen. Vor allem muß er danach trachten, das Urteil der jungen Leute zu berichtigen und sie nach Möglichkeit daran zu gewöhnen, Schlüsse zu ziehen und die verschiedenen Beziehungen der Wahrheiten untereinander rasch zu erfassen.

Der Rechtslehrer wird Hugo Grotius zur Grundlage seines Unterrichts wählen. Es wird keineswegs verlangt, daß er vollendete Juristen aus ihnen macht. Für einen Mann der großen Welt genügen richtige Begriffe von der Rechtswissenschaft, ohne allzu genaue Detailkenntnisse. Er wird sich also begnügen, seinen Schülern eine Vorsiellung vom bürgerlichen Recht, vom öffentlichen Recht und vom sogenannten Völkerrecht zu geben. Immerhin wird er die jungen Leute darauf hinweisen, daß das Völkerrecht, dem jede Vollstreckungsgewalt fehlt, nur ein leeres Phantom ist, das die Herrscher in ihren Streitschriften und Manifesten heraufbeschwören, selbst dann, wenn sie es selber verletzen. Er wird seinen Unterricht mit der Erläuterung des Codex Fridericianus254-2 beschließen, der als Sammlung der Landesgesetze jedem Untertanen bekannt sein muß.

<255>

Innere Aufsicht

Je drei Schüler haben einen Gouverneur, der bei ihnen schläft und sie zu Sauberteil, Höflichkeit und standesgemäßen Manieren anhält. Er muß ihnen Ungeschliffenheit, gemeine Reden, schlechte und niedrige Manieren, Faulheit usw. abgewöhnen. Einer der fünf Gouverneure soll dem Unterricht regelmäßig beiwohnen, um darauf zu achten, daß die jungen Leute ihre Pflicht tun und dem Lehrgang aufmerksam folgen. Sollen sie nach Beendigung des Unterrichts etwas wiederholen oder aus, wendig lernen oder einen Aufsatz schreiben, so muß der Gouverneur zugegen sein, damit sie ihre Zeit gut anwenden und sie nicht mit Allotria und Torheiten vertun.

Die Zeiteinteilung des Unterrichts soll wie bei andren Schulen geregelt werden. Im Sommer Aufstehen um 6 Uhr, Beginn des Unterrichts um 7. Im Winter Ausstehen um 7 Uhr, Beginn des Unterrichts um 8. Um 12 Uhr gemeinsames Mittagessen der Schüler und Gouverneure. Um 1 Uhr muß alles von Tisch aufgestanden sein. Abendbrot im Sommer um 8 Uhr. Um 9 Uhr muß alles im Bette liegen, im Winter um 10 Uhr.

Unterricht im Katechismus nur dreimal wöchentlich und zwei Stunden beim Pfarrer. Eine Predigt am Sonntag genügt. Mittwoch und Sonntag nachmittag sind frei. Die jungen Leute dürfen die Ansialt nur in Begleitung eines oder zweier Gouverneure verlassen. Will ein Schüler einen nahen Verwandten besuchen, so hat ihn der Gouverneur hinzubringen und wieder abzuholen. Im Sommer dürfen die jungen Leute Ball spielen und spazieren gehen. Im Winter können sie sich in einem der großen Säle der Akademie vergnügen oder kleine Lustspiele aufführen.

Die Gouverneure sollen kleine Streiche und Torheiten durchgehen lassen und nur sireng gegen Charakterfehler einschreiten, als da sind Bosheit, Heftigkeit, Launen, vor allem aber Faulheit, Müßiggang und ähnliche Lasier, die den jungen Leuten schaden. Aber Frohsinn, gute Einfälle, alles, was Geist verrät, dürfen sie ja nicht unterdrücken. Für die Leibesübungen sollen die Schüler einen Tanzmeister erhalten, der ihnen drei Stunden wöchentlich gibt. Zweimal wöchentlich sollen sie in der Reitschule von Zehentner Reitunterricht erhalten. Lassen sich die jungen Leute etwas zuschulden kommen, so sind sie zu bestrafen. Wer schlecht gelernt hat, soll eine Eselsmütze tragen. Wer faul ist, soll am selben Tage fasten. Wer boshaft und frech ist, bekommt Arrest bei Wasser und Brot und muß etwas auswendig lernen. Danach wird er tüchtig ausgescholten, bekommt bei Tisch als letzter serviert, darf beim Ausgehen keinen Degen tragen und muß den, den er beleidigt hat, öffentlich um Verzeihung bitten. Ist er starrköpfig, so trägt er so lange die Scheide ohne Degen, bis er Abbitte getan hat. Bei Arreststrafe wird den Gouverneuren verboten, ihre Schüler zu schlagen. Es sind Leute von Stand, denen man vornehme Gesinnung beibringen muß. Die Strafen sollen ihren Ehrgeiz rege machen, aber den Bestraften nicht demütigen.

Die Professoren und Gouverneure haben gegeneinander keine Strafbefugnis. Ist der Lehrer mit einem Schüler unzufrieden, so zeigt er es dem Gouverneur an, der<256> ihn nach den obigen Vorschriften bestraft. Sollte ein Professor mit einem Gouverneur in Streit geraten, so beschweren sie sich beim Leiter der Anstalt256-1, der die Sache nach Billigkeit schlichtet. Der Leiter hat wöchentlich einmal die Ansialt zu inspizieren. Er beginnt mit dem Unterricht und den Zimmern, dann besichtigt er den ökonomischen Teil, sieht zu, ob jeder seine Pflicht tut und die Instruktion des Königs genau befolgt wird. Er ermahnt die Nachlässigen und zeigt sie nach der zweiten vergehlichen Vorhaltung dem König an. Seine Majestät empfiehlt den Gouverneuren, sich vor allem selbst gut und verständig zu führen; denn das Vorbild wirkt stärker als alle guten Lehren, und es wäre für Leute, die die Jugend erziehen sollen, eine Schande, wenn sie mehr Tadel verdienen als ihre Schüler.

Im allgemeinen wird sich die Zweckmäßigkeit der Grundsätze, nach denen die Akademie eingerichtet ist, von selbst ergeben, da sie dem Staate nützliche Untertanen liefern kann, wenn diese Instruktion in allen Punkten streng befolgt wird. Hingegen wird sie durch Pfiichtversäumnis, Nachlässigkeit und Unachtsamkeit der Lehrer und Gouverneure ihren Hauptzweck verfehlen. Indes hofft Seine Majestät, daß die Lehrer und Gouverneure ihre Ehre darein setzen werden, zur Verwirklichung seiner heilsamen Absichten beizutragen, indem sie die jungen Leute eifrig zu guten Sitten anhalten und ihnen Kenntnisse beibringen. Dann wird ihre Arbeit der Anstalt, ihnen selbst und den Schülern zur Ehre gereichen.

<257>

Über die Erziehung
Brief eines Genfers an Herrn Burlamaqui, Professor in Genf
(1769)257-1

ich Ihnen alles auseinandergesetzt hatte, was die Regierung dieses Landes betrifft, glaubte ich Ihre Wißbegier reichlich befriedigt zu haben, aber ich irrte mich. Sie finden, daß der Stoff nicht erschöpft sei. Sie betrachten die Erziehung der Jugend als eine der wichtigsten Aufgaben einer guten Regierung und möchten wissen, welche Beachtung man ihr ln dem Staate schenkt, in dem ich mich aufhalte. Die Frage, die Sie mir in wenigen Worten stellen, wird Ihnen eine Antwort zuziehen, die den Umfang eines gewöhnlichen Briefes überschreitet, da sie mich zu unumgänglichen Erörterungen zwingt.

Gern betrachte ich die unter unsren Augen heranwachsende Jugend, das künftige, der Aufsicht des gegenwärtigen anvertraute Geschlecht, die neue Menschheit, die sich anschickt, den Platz der jetzt lebenden einzunehmen. Sie ist die Hoffnung und die wiederaufblühende Kraft des Staates und wird, gut geleitet, seinen Glanz und Ruhm fortsetzen. Ich bin mit Ihnen der Ansicht, daß ein weiser Fürst seinen ganzen Fleiß daransetzen soll, nützliche und tugendhafte Bürger in seinem Staate heranzubilden. Nicht von gestern auf heute habe ich die Erziehung geprüft, die der Jugend in den verschiedenen Staaten Europas zuteil wird. Die Fülle großer Männer, die die griechische und römische Republik hervorbrachte, haben mich für die Erziehungsweise der Alten eingenommen und mich überzeugt, daß man bei Befolgung ihrer Methode ein Volk heranbilden könnte, das gesitteter und tugendhafter ist als unsre modernen Völker.

Die Erziehung, die der Adel erhält, verdient von einem Ende Europas bis zum andren Tadel. Hierzulande erhält der junge Edelmann den ersten Anstrich von Bildung im Elternhause, den zweiten auf Ritterschulen und Universitäten. Den dritten gibt er sich selbst, da man die jungen Leute zu früh sich selbst überläßt, und das ist der<258> schlechteste. Im Vaterhause schadet die blinde Elternliebe der notwendigen Zucht der Kinder. Besonders die Mütter, die, beiläufig gesagt, ihre Ehemänner ziemlich despotisch regieren, kennen kein andres Erziehungsprinzip als grenzenlose Nachsicht. Die Kinder werden den Händen der Dienstboten überlassen, die ihnen schmeicheln und sie verderben, indem sie ihnen schädliche Grundsätze beibringen, Grundsätze, die in den eindrucksfähigen Jugendjahren nur zu rasch Wurzel schlagen. Der Erzieher, den man ihnen gibt, ist zumeist ein Kandidat der Theologie oder ein angehender Jurist, ein Menschenschlag, der selbst dringend der Erziehung bedürfte.258-1 Bei diesen geschickten Lehrern lernt der junge Telemach seinen Katechismus, Latein, mit Mühe und Not etwas Geographie, Französisch durch den Gebrauch. Die Eltern spenden dem Meisterstück, das sie in die Welt gesetzt haben, Beifall, und da sie fürchten, Verdruß möchte der Gesundheit des neuen Phönix schaden, wagt niemand ihn zu tadeln.

Mit zehn bis zwölf Jahren schickt man den jungen Herrn auf eine Ritterakademle, woran es auch hier nicht fehlt. Es gibt mehrere, wie das Ioachimstalsche Gymnasium, die neue Adelsakademie in Berlin258-2, die Domschule zu Brandenburg und die von Kloster Bergen bei Magdeburg. Sie sind mit tüchtigen Lehrern versehen. Der einzige Vorwurf, den man ihnen vielleicht machen kann, ist der, daß sie nur darauf ausgehen, das Gedächtnis ihrer Schüler anzufüllen, statt sie an selbständiges Denken zu gewöhnen, daß sie ihr Urteil nicht früh genug bilden und es verabsäumen, ihrer Seele höheren Schwung zu geben und ihnen edle und tugendhafte Gesinnungen einzusflößen.

Kaum hat der Jüngling den Fuß über die Schwelle der Schule gesetzt, so vergißt er alles, was er gelernt hat, weil er lediglich den Vorsatz hatte, dem Lehrer seine Lektion auswendig herzusagen. Sobald er das nicht mehr nötig hat, verwischen neue Vorstellungen und Vergeßlichkeit jede Spur des Gelernten. Die auf der Schule verlorene Zeit schreibe ich mehr der fehlerhaften Erziehung als dem Leichtsinn der Jugend zu. Warum macht man dem Schüler nicht klar, daß der Zwang, etwas zu lernen, ihm einst zum größten Vorteil gereichen wird? Warum bildet man nicht sein Urteil, — nicht indem man ihm einfach Logik einpaukt, sondern indem man ihn selbst schlußfolgern lehrt? Das wäre ein Mittel, ihm begreiflich zu machen, daß es für ihn nützlich ist, das eben Gelernte nicht zu vergessen.

Nach dem Abgang von der Akademie schicken die Väter ihre Söhne entweder auf die Universität, oder sie lassen sie ins Heer eintreten, verschaffen ihnen Zivilämter oder berufen sie auf ihre Güter zurück.

Die Universitäten zu Halle oder Frankfurt an der Oder sind es, an denen sie ihre Studien vervollkommnen.258-3 Die Lehrstühle sind mit so guten Professoren besetzt, als die Zeit sie hervorbringt. Indes bemerkt man mit Bedauern, daß das Studium des<259> Griechischen und Lateinischen nicht mehr so betrieben wird wie früher. Anscheinend sind die guten Deutschen der gründlichen Gelehrsamkeit überdrüssig geworden, die sie einst besaßen, und wollen jetzt so billig wie möglich zu wissenschaftlichem Rufkommen.259-1 Sie nehmen sich ein Beispiel an einem Nachbarvolke, das sich mit Liebenswürdigkeit begnügt, und werden sehr bald oberflächlich werden. Das Leben, das die Studenten einst auf den Universitäten führten, war ein Gegenstand öffentlichen Ärgernisses. Die Stätten, die Heiligtümer der Musen sein sollten, waren Schulen des Lasters und der Ausschweifung. Berufsmäßige Raufbolde übten das Handwerk der Gladiatoren. Die Jugend lebte in Saus und Braus, in Ausschreitungen aller Art. Sie lernte alles, was sie nie hätte erfahren dürfen, und was sie hätte lernen sollen, das lernte sie nicht. Die Zügellosigkeit ging so weit, daß Totschläge unter den Studenten vorkamen. Das rüttelte die Regierung aus ihrer Schlaffheit auf. Sie war einsichtig genug, diesem Unwesen zu steuern und die Hochschulen ihrem ursprünglichen Zweck wieder dienstbar zu machen. Seitdem können die Väter ihre Söhne unbesorgt zur Universität schicken, mit dem gerechten Vertrauen, daß sie dort etwas lernen, und ohne zu fürchten, daß ihre Sitten verdorben werden.

Aber trotz der Abschaffung solcher Mißbräuche bleiben noch genug andre, die ebensosehr der Verbesserung bedürfen. Dank dem Eigennutz und der Trägheit der Professoren verbreiten sich die Kenntnisse nicht so ausgiebig, wie es zu wünschen wäre. Die Professoren begnügen sich mit möglichst knapper Erfüllung ihrer Pflicht, lesen ihre Kollegien, und damit gut. Fordern die Studenten Privatstunden von ihnen, so geben sie diese nur für außerordentliche Preise. Die Unbemittelten sind also außerstande, eine öffentliche Ansialt zu benutzen, die jeden belehren und aufklären soll, den der Wissensdrang dorthin treibt.

Ein andrer Mißstand: die jungen Leute arbeiten ihre Reden, Thesen und Disputationen nicht selbst aus, sondern lassen sie von einem Repetitor machen. Ein Student mit gutem Gedächtnis, aber oft ohne Talent, erwirbt sich derart wohlfeilen Beifall. Heißt das nicht, die Jugend zu Faulheit und Müßiggang ermuntern, wenn man sie Nichtstun lehrt? Der Jüngling soll zum Fleiß erzogen werden, selber arbeiten lernen, verbessert werden, seine Arbeit noch einmal umändern. Dann gewöhnt er sich durch wiederholtes Durcharbeiten an richtiges Denken und genauen Ausdruck. Anstatt diese Methode zu befolgen, füllt man das Gedächtnis der Jugend und läßt ihre Urteilskraft verrosten. Man häuft Kenntnisse an, aber ohne die nötige Kritik, die sie nutzbringend machen könnte.

Ein andrer Fehler ist die schlechte Wahl der Autoren, die erklärt werden. In der Medizin ist es in der Ordnung, wenn man mit Hippokrates und Galen beginnt und die Geschichte dieser Wissenschaft — wenn es eine ist — bis auf unsre Tage verfolgt. Anstatt aber das System Hoffmanns259-2 oder irgend eines unbekannten Arztes zu über<260>nehmen — warum nicht lieber die trefflichen Werke von Boerhave260-1 erklären, der die menschlichen Kenntnisse über die Ursachen der Krankheiten und ihre Heilmittel anscheinend so weit gefördert hat, als unsre Fassungskraft reicht? Ein gleiches gilt von der Astronomie und Mathematik. Es ist nützlich, alle Systeme von Ptolemäus bis Newton durchzugehen, aber der gesunde Menschenverstand gebietet, bei dem letzteren stehenzubleiben, da es das vollkommenste und von Irrtümern am meisten gereinigte ist. Halle besaß vorzeiten einen großen Mann, einen geborenen Lehrer der Philosophie. Sie erraten, daß ich den berühmten Thomasius meine260-2. Man braucht nur seine Methode zu befolgen und ebenso zu lehren. Überdies haben die Universitäten die Philosophie noch nicht vom Roste der Pedanterie gesäubert. Man lehrt zwar nicht mehr den Aristotelischen Formelkram noch die Universalia a parte rei. Aber der doctissimus sapientissimus Wolffius260-3 hat in unsren Tagen den alten Schulhelden ersetzt, und an die Stelle der substantiellen Formen sind die Monaden und die prästabilierte Harmonie getreten, ein ebenso widersinniges und unverständliches System wie das aufgegebene260-4. Unverändert wiederholen die Professoren diesen Wust, weil sie sich mit den Kunsiausdrücken vertraut gemacht haben und weil es Mode ist, Wolffianer zu sein.

Eines Tages war ich in Gesellschaft eines jener Philosophen, des starrsten Vertreters der Monadenleyre260-5. Ich wagte ihn bescheidentlich zu fragen, ob er nie einen Blick in die Werke von Locke getan hätte. „Ich habe ihn ganz gelesen“, erwiderte er barsch. — „Ich weiß, mein Herr,“ entgegnete ich, „daß Sie dafür besoldet werden, alles zu wissen. Aber was halten Sie von Locke?“ — „Er ist ein Engländer“, erwiderte er trocken. — „Und wenn er auch zehnmal ein Engländer ist,“ fuhr ich fort, „er kommt mir doch sehr weise vor. Stets hält er sich am Faden der Erfahrung, um sich in den Finsternissen der Metaphysik zurechtzufinden. Er ist vorsichtig, er ist verständlich, was ein großes Verdienst für einen Metaphysiker ist, und ich glaube durchaus, daß er wohl recht haben könnte.“ Bei diesen Worten stieg dem Professor das Blut ins Gesicht. Ein sehr unphilosophischer Zorn drückte sich in seinem Blick und in seinen Gebärden aus, und mit erhobener Stimme dozierte er mir: wie jedes Land sein verschiedenes Klima hätte, so müßte auch jeder Staat seinen nationalen Philosophen haben. Ich erwiderte, die Wahrheit wäre in allen Ländern zu Hause, und es sei zu wünschen, daß recht viel davon zu uns käme, sollte sie auch an den Universitäten für Kontrebande gelten.

Übrigens wird die Mathematik in Deutschland nicht so gepflegt wie in den andren europäischen Ländern. Man behauptet, die Deutschen hätten leine Begabung für Mathematik, was gewiß falsch ist. Die Namen von Leibniz und Kopernikus beweisen das Gegenteil. Der Grund ist meines Erachtens der, daß es dieser Wissen<261>schaft an Aufmunterung fehlt, und besonders an tüchtigen Lehrern, die darin unterrichten.

Ich komme nun auf die adlige Jugend zurück, die wir beim Abgang von der Schule und der Universität verlassen haben. Das ist der Augenblick, wo die Eltern die Entscheidung treffen, welchen Beruf ihre Söhne ergreifen sollen. Gewöhnlich bestimmt der Zufall die Wahl. Die meisten der jungen Herren fürchten den Soldatenstand, weil er in Preußen eine wahre Schule der Sitten ist. Man läßt den jungen Offizieren nichts durchgehen, hält sie zu einem verständigen, geregelten und anständigen Wandel an, sieht ihnen scharf auf die Finger und beaufsichtigt sie streng. Sind sie unverbesserlich, so nötigt man sie, welche Fürsprache sie auch besitzen, den Dienst zu quittieren, und sie haben fortan keine Achtung mehr zu erwarten. Das aber ist ihnen gerade zuwider; denn sie möchten sich gern im Schatten eines großen Namens ungezwungen den Launen ihrer Phantasie und der Zügellosigkeit ihrer Sitten überlassen. Daher kommt es, daß wenig Söhne aus ersten Häusern im Heere dienen. Das Kadettenkorps hilft aus: diese Pfianzschule ist einem Offizier von hohem Verdienst anvertraut261-1, der sein Lebensglück in die Bildung der adligen Jugend setzt, indem er ihre Erziehung leitet, ihre Seele erhebt, ihr tugendhafte Grundsätze einprägt und sich bemüht, sie für das Vaterland nutzbringend zu machen. Da die Anstalt für den armen Adel bestimmt ist, so schicken die ersten Familien ihre Kinder nicht hin. Läßt ein Vater seinen Sohn die Finanz, oder Iusiizlaufbahn einschlagen, so verliert er ihn sofort aus den Augen. Er ist sich selbst überlassen, und der Zufall entscheidet über sein Lebensschicksal. Der künftige Erbe muß nach dem Abgang von der Universität oft auf das väterliche Gut zurückkehren, wo ihm alles, was er hat lernen können, so gut wie nichts nützt. Das ist in großen Zügen der Bildungsgang der adligen Jugend. Daraus entstehen folgende Mißstände.

Die Weichlichkeit der ersten Erziehung macht die jungen Leute weibisch, bequem, faul und schlaff. Anstatt dem Geschlecht der alten Germanen zu gleichen, hält man sie eher für eine nach dem Norden verpflanzte Kolonie von Sybariten. Sie versinken in Nichtstun und Müßiggang, meinen nur zum Vergnügen und zur Bequemlichkeit auf der Welt zu sein und glauben, daß Leute wie sie von der Pflicht entbunden seien, der Gesellschaft nützlich zu sein. Daher ihre Streiche, ihre Torheiten, ihr Schuldenmachen, ihre Ausschweifung und Verschwendung, die so viele reiche Familien hierzulande zugrunde gerichtet haben.

Ich gebe zu, daß diese Fehler ebenso den jungen Jahren wie der Erziehung zur Last fallen, gebe auch zu, daß die Jugend mit geringen Abweichungen überall die gleiche bleibt, da in jenem Alter, wo die Leidenschaften am Heftigsten sind, die Vernunft nicht immer die Oberhand behält. Trotzdem bin ich überzeugt, man könnte durch weise, männlichere und wenn es sein muß, strengere Zucht viele Söhne guter<262> Familien vor dem Untergang retten. Die Regellosigkeit ihrer Sitten zieht hierzulande um so schlimmere Folgen nach sich, als das Recht der Erstgeburt nicht gilt, wie etwa in Österreich und in den andren Provinzen der Kaiserin-Königin. Ein einziges schlechtes Subjekt in einer Familie reicht hin, um sie in Verfall und Armut zu bringen.

So schlagende Beispiele müßten meines Erachtens die Aufmerksamkeit der Väter auf die Zucht ihrer Kinder verdoppeln, damit sie den Glanz ihrer Vorfahren aufrecht zu erhalten vermögen, ihrem Vaterlande nützliche Untertanen werden und sich persönliche Achtung erwerben. Man glaubt insgemein, genug für seine Erben getan zu haben, wenn man Reichtümer für seine Kinder ansammelt, sie versorgt, ihnen Ämter verschafft. Solche Fürsorge ist guter Eltern gewiß würdig, aber darauf darf man sich nicht beschränken. Die Hauptsache ist, ihre Sitten zu bilden und ihr Urteil früh zu reifen. Wie oft hätte ich ausrufen mögen: „Ihr Familienväter, liebt Eure Kinder, dazu fordert man Euch auf. Aber liebt sie mit vernünftiger Liebe, die sich auf ihr wahres Wohl richtet. Betrachtet das junge Geschöpf, das Ihr zur Welt kommen sahet, als ein heiliges Gut, das Euch die Vorsehung anvertraut hat. Eure Vernunft soll ihnen in der Haltlosigkeit ihrer Jugend und in ihren Schwächen als Stütze dienen. Sie kennen die Welt nicht, Ihr aber kennt sie. An Euch ist es also, sie so zu erziehen, wie ihr eigner Vorteil, das Wohl Eurer Familie und der ganzen Gesellschaft es erfordert. Ich wiederhole also: festigt ihre Sitten, prägt ihnen tugendhafte Gesinnung ein, erhebt ihre Seele, erzieht sie zum Fleiß, bildet sorgfältig ihren Verstand, damit sie sich ihre Schritte wohl überlegen, verständig und umsichtig werden, Einfachheit und Mäßigkeit lieben. Dann könnt Ihr Euer Erbe, wenn Ihr sterbt, getrost ihren guten Sitten anvertrauen. Es wird gut verwaltet werden, und Eure Familie wird sich in ihrem Glanze erhalten. Wenn nicht, werden Verschwendung und Ausschweifung mit dem Augenblick Eures Todes beginnen, und könntet Ihr in dreißig Jahren auferstehen, Ihr würdet Euren schönen Besitz in fremden Händen sehen.“

Immer wieder komme ich auf die Gesetze der Griechen und Römer zurück. Ich glaube, man müßte nach ihrem Vorbild die Bestimmung treffen, daß die Söhne erst mit sechsundzwanzig Jahren mündig werden, und die Väter müßten in gewisser Weise für ihr Betragen verantwortlich sein. Sicherlich überließe man die Jugend dann nicht der verderblichen Gesellschaft der Dienstboten. Sicherlich wäre man einsichtsvoller in der Wahl ihrer Lehrer und Erzieher, denen man sein Kostbarstes anvertraut. Sicherlich würde der Vater seinen Sohn selbst zurechtweisen und ihn im Notfalle züchtigen, um aufkeimende Lasier zu ersticken. Fügen Sie dazu noch einige notwendige Verbesserungen in den Schulen und Universitäten. Die Hauptsache wäre die Ausbildung der Urteilskraft neben der Übung des Gedächtnisses262-1. Ferner müßten<263> die Eltern auch nach Abschluß der Studien ein Auge auf ihre Söhne haben, damit sie nicht durch den Umgang mit schlechter Gesellschaft verdorben werden. Denn die ersten guten oder schlechten Beispiele machen auf die Jugend einen so starken Eindruck, daß sie oft ihren Charakter unveränderlich bestimmen. Das ist eine der großen Klippen, vor denen man sie bewahren muß. Hieraus entspringen die Neigung zum Nichtstun, die Ausschweifung, Spielwut und alle Lasier.

Die Pflichten der Väter erstrecken sich aber noch weiter. Ich glaube, sie müßten mehr Kritik anwenden, um die Anlagen ihrer Söhne recht zu erkennen und sie zu dem Berufe zu bestimmen, der ihren Talenten entspricht. Wieviel Kenntnisse sie sich auch erworben haben, sie können nie zu viele besitzen, welchen Beruf sie auch ergreifen. Das Waffenhandwerk erfordert sehr ausgedehntes Wissen. Es ist eine lächerliche und freche Behauptung im Munde vieler Leute: „Mein Sohn will nicht studieren. Zum Soldaten weiß er genug.“ Jawohl, zum gemeinen Infanteristen, aber nicht zum Offizier, der nach den höchsten Stellen strebt, und danach muß sein Ehrgeiz allein trachten. Aber die Ungeduld und der Eifer der Väter gibt auch noch zu einer andren Unzuträglichst Anlaß. Sie wünschen, daß ihre Söhne rasch ihr Glück machen. Sie sollen mit einem Schritt von den unteren Graden zu den höchsten gelangen, noch ehe das Alter sie dazu befähigt und ihr Verstand gereift ist.

Der Dienst in der Justiz, Finanzwirtschaft, Diplomatie und Armee ist für den Edelmann gewiß ehrenvoll. Aber alles wäre verloren in einem Staate, wenn die Geburt über das Verdienst siegte. Dieser Grundsatz ist so irrig, so aberwitzig, daß eine Regierung, die ihn annähme, seine verhängnisvollen Folgen bald spüren müßte. Damit ist nicht gesagt, daß die Regel keine Ausnahme erlaubte, daß es keine frühreifen Menschen gäbe, deren Verdienste und Talente ihre Fürsprecher sind. Es wäre nur zu wünschen, daß dergleichen Beispiele häufiger wären.

Schließlich bin ich überzeugt, daß man aus den Menschen machen kann, was man will. Es sieht fest, daß die Griechen und Römer eine Fülle großer Männer aller Art hervorgebracht haben und daß sie das der männlichen Erziehung dankten, die durch ihre Gesetze geregelt war. Aber wenn diese Beispiele zu veraltet scheinen, so betrachten wir doch die Taten des Zaren Peter I., dem es gelang, ein ganz barbarisches Volk zu zivilisieren. Warum also sollte man bei einem gebildeten Volke nicht einige Erziehungsfehler verbessern können? Man glaubt fälschlich, daß Künste und Wissenschaften die Sitten verweichlichen. Aber alles, was den Geist aufklärt, alles, was den Kreis der Kenntnisse erweitert, erhebt die Seele, anstatt sie zu erniedrigen. Doch das ist hierzulande nicht der Fall. Wollte Gott, die Wissenschaften würden hier mehr geliebt! Die Erziehungsmethode ist mangelhaft. Man verbessere sie, und man wird Sittlichkeit, Tugenden und Talente wiederaufblühen sehen. Die Verweichlichung der Jugend hat mich oft auf den Gedanken gebracht, was wohl Arminius, der stolze Verteidiger Germaniens, dazu sagen würde, wenn er das Geschlecht der Sueven und Semnonen so entartet, herabgekommen und erniedrigt<264> sähe. Aber was würde erst Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, sagen, er, das Haupt eines männlichen Volkes, der mit Männern die Schweden aus seinen Staaten trieb, die sie verwüsteten! Was ist aus den zu seiner Zeit so berühmten Familien geworden, und was sind ihre Sprößlinge? Ja, was wird erst aus denen werden, die in unsren Tagen blühen? Jeder Vater muß sich mit ähnlichen Betrachtungen zur Erfüllung all der Pflichten ermutigen, die er der Nachwelt schuldet.

Ich komme nun zum weiblichen Geschlecht, das einen so bedeutenden Einfluß auf das andre ausübt. Hier siechen die Frauen von reiferem Alter, die eine höhere Bildung erhalten haben, von denen ab, die erst jetzt in die große Welt treten. Jene besitzen Kenntnisse, geistige Reize und eine stets gemessene Heiterkeit. Der Gegensatz zu den jungen Frauen schien mir so auffällig, daß ich einen meiner Freunde nach der Ursache fragte. Er antwortete mir: „Früher gab es talentvolle Frauen, die Mädchen von Stand in Pension nahmen. Jedermann bemühte sich, seine Töchter bei ihnen unterzubringen. In solchen Ansialten wurden die von Ihnen gelobten Damen erzogen. Aber jene Schulen haben nach dem Tode ihrer Begründerinnen aufgehört. Niemand hat sie ersetzt, und so sah jeder sich genötigt, seine Töchter zu Hause zu erziehen. Die meisten Methoden, die man befolgt, sind tadelnswert. Man gibt sich nicht die Mühe, den Geist der Mädchen zu bilden, läßt sie ohne Kenntnisse und flößt ihnen nicht einmal Gefühl für Tugend und Ehre ein. Die Erziehung dreht sich gewöhn, lich um äußeren Anstand, Manieren und Kleidung. Dazu kommt eine oberflächliche Kenntnis der Musik, die Bekanntschaft mit ein paar Theaterstücken oder Romanen, Tanz und Spiel. Damit haben Sie in kurzem alle Kenntnisse des weiblichen Geschlechts.“

Ich gestehe Ihnen, ich war erstaunt, daß Leute der ersten Stände ihre Töchter wie Theatermädchen erziehen. Sie buhlen schier um die Blicke der Menge, begnügen sich damit, zu gefallen, und scheinen nicht nach Achtung und Ansehen zu trachten. Wie? Ist es nicht ihre Bestimmung, Familienmütter zu werden? Sollte man nicht ihre ganze Erziehung auf dies Ziel richten, ihnen beizeiten Abscheu gegen alles Entehrende einflößen, sie die Vorzüge der Tugend lehren, die nützlich und dauerhaft sind, während die der Schönheit welken und vergehen? Sollte man sie nicht befähigen, ihre Kinder dereinst in guten Sitten aufzuziehen? Aber wie kann man das von ihnen verlangen, wenn sie selbst keine Sitten haben, wenn sie aus Neigung zu Müßiggang, Oberflächlichkeit, Luxus und Verschwendung, ja durch Erregung von öffentlichem Ärgernis ihrer Familie kein gutes Beispiel geben können? Ich gestehe Ihnen: die Nachlässigkeit der Familienväter erscheint mir unverzeihlich. Wenn sich ihre Kinder zugrunde richten, so tragen sie die Schuld daran.

Man hat Nachsicht mit den Zirkassiern, denn sie sind Barbaren, wenn sie ihre Töchter in allen Schlichen der Gefallsucht und Wollust erziehen, um sie dann für teures Geld an das Serail in Konstantinopel zu verkaufen: das ist Sklavenhandel.<265> Wenn aber bei einem freien und gebildeten Volte der höchste Adel sich diesem Brauche anzuschließen scheint, wenn er aus Mangel an Selbstachtung den Tadel geringschätzt, den das Betragen eines Mädchens ohne Tugend und Sitte auf seine Familie bringt, so wird ihm das noch die fernste Nachwelt immer wieder vorwerfen.

Doch zur Sache! Die Sittenlosigkeit der Frauen kommt viel mehr von ihrem müßigen Leben als von der Glut ihres Temperaments. Wenn eine Frau zwei oder drei Stunden vor dem Spiegel zubringt, um über ihre Reize nachzusinnen, sie zu erhöhen und zu bewundern, wenn sie den ganzen Nachmittag mit Klatsch vertut, dann ins Theater geht, am Abend spielt, soupiert und wieder spielt —hat sie dann noch Zeit zur Selbstbesinnung? Und reizt die Langeweile dieses weichlichen, müßigen Lebens sie nicht zu Zerstreuungen andrer Art, und wäre es nur der Abwechslung halber, oder um ein neues Gefühl kennen zu lernen?

Die Menschen beschäftigen, heißt sie vom Lasier abhalten. Das einfache, gesunde und arbeitsame Landleben ist viel unschuldiger als jenes, das ein Haufen Müßig, gänger in den großen Städten führt. Es ist ein alter Grundsatz der Generale, daß man die Soldaten beschäftigen muß, um Unordnungen, Ausschweifungen und Aufruhr im Lager zu verhüten. Die Menschen ähneln sich alle. Wenn man nicht so dumm ist, den schamlosen Wandel seiner Nächsien oder ihr züchtiges und gesittetes Betragen mit gleichen Augen anzusehen, so lehre man sie, sich zu beschäftigen. Ein Mädchen kann sich mit weiblichen Arbeiten, mit Musik, ja mit Tanzen unterhalten. Vor allem aber trachte man danach, ihren Geist zu bilden, ihr Geschmack für gute Werke beizubringen, durch die Lektüre ernster Dinge ihr Urteil zu üben und ihren Geist zu nähren. Sie soll sich nicht schämen, in der Wirtschaft Bescheid zu wissen. Es ist besser, seine Haushaltungsrechnungen selbst zu regeln und in Ordnung zu halten, als sinnlos nach allen Seiten Schulden zu machen, ohne daran zu denken, wie man die Gläubiger bezahlt, die so lange Zeit in gutem Glauben liehen.

Ich gestehe Ihnen, ich war oft empört bei dem Gedanken, wie gering man in Europa diese Hälfte des Menschengeschlechts schätzt. Das geht so weit, daß man alles vernachlässigt, was ihren Verstand ausbilden kann. Es gibt so viele Frauen, die den Männern nicht nachstehen! Es gibt in unsrem Jahrhundert große Fürstinnen, die ihre Vorgänger weit überragen. Es gibt deren — doch ich wage sie nicht zu nennen, aus Furcht, ihnen zu mißfallen und ihre außerordentliche Bescheidenheit zu verletzen, die ihren Talenten und Tugenden die Krone aufsetzt. Männlichere, kraftvollere Erziehung würde dem weiblichen Geschlecht das Übergewicht über das unsre verleihen; denn es besitzt schon die Reize der Schönheit. Aber sind die Reize des Geistes ihnen nicht vorzuziehen?

Doch zurück zum Gegenstand! Die Gesellschaft kann nicht bestehen ohne rechtmäßige Ehen, durch die sie sich fortpflanzt und verewigt. Man muß also die jungen Pflanzen, die die Stämme der Nachwelt werden sollen, pflegen und bilden, sodaß Mann und Weib die Pflichten als Familienhaupt gleichermaßen erfüllen können. Vernunft,<266> Geist, Talente, Sittlichkeit und Tugend müssen der Erziehung beider Geschlechter in derselben Weise zur Grundlage dienen, damit die, die sie empfangen haben, sie auf die übertragen können, denen sie das Leben geben werden.

Um schließlich nichts zu vergessen, was zur Sache gehört, muß ich hier noch auf den Mißbrauch der väterlichen Gewalt gegenüber den Töchtern hinweisen. Man zwingt sie zuweilen unter das Joch der Ehe, obwohl beide Teile nicht zusammen passen. Der Vater bedenkt lediglich das Familieninteresse und folgt in der Wahl des Schwieger/ sohnes oft nur seiner Laune, oder er fällt auf einen reichen Kauz oder einen siewalten Mann oder auf sonst ein Subjekt, das ihm behagt. Er ruft seine Tochter und sagt zu ihr: „Mein Kind, ich habe beschlossen, Dir Herrn Soundso zum Gatten zu geben.“ Die Tochter antwortet seufzend: „Vater, Ihr Wille geschehe.“ So kommen zwei in Charakter, Neigung und Sitten ganz unverträgliche Menschen zusammen. Unfriede zieht in den neuen Haushalt mit dem Tage ein, wo das unselige Band geknüpft wird, und bald folgen Abneigung, Haß und Ärgernis. So gibt es denn zwei Unglückliche, und das hohe Ziel der Ehe ist verfehlt. Mann und Frau trennen sich, vergeuden ihr Vermögen in liederlichem Leben, sinken in Verachtung und endigen im Elend. Ich ehre die väterliche Gewalt wie kein zweiter und lehne mich nicht gegen sie auf. Nur wünschte ich, daß die, die sie in Händen haben, sie nicht mißbrauchen, indem sie ihre Töchter zur Ehe zwingen, wenn infolge des Charakters oder des Altersunterschieds Abneigung herrscht. Mögen sie für sich selbst nach ihrem Gutdünken wählen, aber ihre Kinder befragen, wenn es eine Verbindung zu schließen gilt, von der das Glück oder Unglück ihres ganzen Lebens abhängt! Wenn dadurch nicht alle Ehen besser werden, so wird doch wenigstens denen eine Entschuldigung genommen, die ihr zuchtloses Leben auf den Zwang zurückführen, den ihre Eltern gegen sie geübt haben.

Das sind im allgemeinen die Beobachtungen, die ich hierzulande über die Mängel der Erziehung gemacht habe. Wenn Sie mich als Schwärmer für das öffentliche Wohl tadeln, so werde ich mir diesen Vorwurf zum Ruhm anrechnen. Wer viel von den Menschen verlangt, erreicht wenigstens etwas. Sie, der Vater einer zahlreichen Familie, weise und verständig, wie ich Sie kenne, haben gewiß über Ihre Pflichten als Vater nachgedacht und werden in Ihren eignen Gedanken den Keim derer finden, die ich soeben entwickelt habe. In der großen Welt hat man wenig innere Sammlung und noch weniger Überlegung. Man begnügt sich mit oberflächlichen Ideen, folgt dem Brauch und der Tyrannei der Mode, die sich bis auf die Erziehung erstreckt. Man darf sich also nicht wundern, wenn die Folgen und Ergebnisse den falschen Grundsätzen entsprechen, nach denen man handelt. Ich ärgere mich, wenn ich sehe, welche Mühe man sich in diesem rauhen Klima gibt, um Ananas, Bananen und andre exotische Pflanzen zum Gedeihen zu bringen, während man so wenig Sorgfalt auf<267> das menschliche Geschlecht verwendet. Man mag sagen, was man will: der Mensch ist wertvoller als alle Ananasse der Welt. Er ist die Pfianze, die man züchten muß, die alle unsre Mühe und Fürsorge verdient; denn sie bildet die Zier und den Ruhm des Vaterlandes.

<268>

Dialog über die Moral
Ein moralischer Katechismus zum Gebrauch für die adlige Jugend
268-1

Frage: Was ist Tugend?

Antwort: Eine glückliche Gemütsanlage, die uns treibt, die Pflichten gegen die Gesellschaft zu unsrem eignen Vorteil zu erfüllen.

Frage: Worin bestehen die Pflichten gegen die Gesellschaft?

Antwort: Im Gehorsam gegen unsre Eltern und in der Dankbarkeit, die wir ihnen für die Mühe schulden, die sie sich mit unsrer Erziehung gegeben haben. Wir sollen ihnen mit allen Kräften beistehen, und wenn sie alt und hinfällig sind, ihnen durch Treue und Zärtlichkeit die Dienste vergelten, die sie uns in unsrer hilflosen Kindheit erwiesen haben. Zu treuer Anhänglichkeit an unsre Geschwister mahnt uns die Natur und das Blut. Gleichen Ursprungs mit ihnen, sind wir durch die unauflöslichsten Bande der Menschheit mit ihnen verknüpft. Als Eltern müssen wir unsre Kinder mit aller möglichen Sorgfalt erziehen und besonders auf ihre Bildung und ihre Sitten achten; denn Tugend und Kenntnisse sind tausendmal mehr wert als alle angehäuften Schätze, die wir ihnen als Erbe hinterlassen könnten. Als Staatsbürger haben wir die Pflicht, die Gesellschaft im ganzen zu achten, alle Menschen als Angehörige einer Gattung anzusehen, sie als Gefährten und Brüder zu betrachten, die uns die Natur gegeben hat, und nur so gegen sie zu handeln, wie wir wünschen, daß sie gegen uns handeln. Als Glieder des Vaterlandes sollen wir alle unsre Talente zu seinem Nutzen verwenden und es ehrlich lieben, da es unsre gemeinsame Mutter ist. Wenn sein Heil es erfordert, sollen wir ihm Gut und Blut opfern.

Frage: Oh, das sind gute und schöne Grundsätze! Nur möchte ich wissen, wie Du diese Pflichten gegen die Gesellschaft mit Deinem eignen Vorteil in Einklang<269> bringst. Fällt die Ehrfurcht und der kindliche Gehorsam gegen Deinen Vater Dir nicht schwer, wenn Du seinem Willen nachkommen mußt?

Antwort: Ohne Zweifel kostet mich das Gehorchen manchmal Überwindung. Aber kann ich je dankbar genug gegen die sein, die mir das Leben geschenkt haben? Und gebietet mir mein eigner Vorteil nicht, meinen Kindern selbst ein Vorbild zu sein, damit sie sich meinem Willen ebenso unterwerfen?

Frage: Gegen Deine Gründe ist nichts einzuwenden, ich sage also nichts mehr über diesen Gegenstand. Wie aber wahrst Du die Einigkeit mit Deinen Geschwistern, wenn Familienangelegenheiten oder Erbschaftsstreitigkeiten Euch entzweien, wie es so häufig vorkommt?

Antwort: Glaubst Du denn, die Bande des Blutes seien so schwach, daß sie nicht gegen vergänglichen Eigennutz standhielten? Hat unser Vater ein Testament gemacht, so geziemt es uns, seinem letzten Willen zu gehorchen. Ist er ohne Testament gestorben, so haben wir zur Schlichtung unsrer Zwistigkeiten die Gesetze. Aus nichts kann mir also bedeutender Schaden erwachsen. Ja, selbst wenn mich wütendster Neid und wildeste Streitsucht befielen, ich müßte doch einsehen, daß ein Prozeß den größten Teil unsres Erbes verschlingen würde. Also vergleiche ich mich lieber in Güte, und unsre Familie wird nicht durch Zwietracht zerrissen.

Frage: Ich will glauben, daß Du verständig genug bist, um nicht selbst Anlaß zu Familienzwist zu geben. Aber das Unrecht kann ja von Deinen Geschwistern kommen. Sie können Dir übel mitspielen, Dich beneiden, in ehrenrühriger Weise von Dir reden, Dir Unannehmlichkeiten bereiten, wohl gar an Deinem Untergang arbeiten. Wie bringst Du dann Deine Pflichtstrenge mit dem Vorteil für Dein Glück in Einklang?

Antwort: Sobald ich die erste Entrüstung über ihr Benehmen bezwungen hätte, würde ich meinen Ruhm darein setzen, lieber der Beleidigte als der Beleidiger zu sein. Dann würde ich mit ihnen reden. Ich würde ihnen sagen, daß ich das Blut meiner Eltern in ihnen achtete und deshalb gegen sie nicht wie gegen erklärte Feinde zu handeln vermöchte. Wohl aber würde ich Vorkehrungen treffen, daß sie mir nicht schaden könnten. Solch hochherziges Verfahren würde sie zur Vernunft bringen. Geschähe das aber nicht, so hätte ich doch den Trost, daß ich mir keine Vorwürfe zu machen brauche; und da mein Benehmen den Beifall aller Verständigen finden muß, so würde ich mich hinreichend belohnt fühlen.

Frage: Was nützt Dir aber diese Großmut?

Antwort: Mir das Kostbarste, was ich aus Erden habe, zu bewahren, einen fleckenlosen Ruf, auf den ich mein ganzes Glück baue.

Frage: Welches Glück kann in der Meinung der Menschen liegen?

<270>

Antwort: Nicht auf die Meinung der andren kommt es mir an, sondern auf die unsägliche Befriedigung, die ich fühle, wenn ich einem vernünftigen, menschlichen, wohlwollenden Wesen gleiche.

Frage: Du sagtest vorhin, wenn Du Kinder hättest, würdest Du mehr Sorgfalt darauf verwenden, sie zur Tugend zu erziehen, als Reichtümer für sie anzuhäufen. Warum denkst Du so wenig daran, ihr Glück zu begründen?

Antwort: Weil Reichtümer an sich keinen Wert haben und ihn nur durch ihren rechten Gebrauch erlangen. Bilde ich also die Talente meiner Kinder aus und erziehe sie zur Tugend, so werden sie durch ihre persönlichen Verdienste ihr Glück machen. Wache ich aber nicht über ihre Erziehung und hinterlasse ihnen nichts als Reichtum, so werden sie ihn rasch vergeuden, so groß er auch sei. Überdies wünsche ich, daß meine Kinder wegen ihres Charakters, ihrer Herzensgüte, ihrer Talente und Kenntnisse geschätzt werden, nicht aber wegen ihres Reichtums.

Frage: Das mag für die Gesellschaft sehr nützlich sein, aber welchen Vorteil hast Du davon?

Antwort: Einen sehr großen. Denn bei guter Erziehung werden meine Kinder der Trost meines Alters sein. Sie werden weder meinen Namen noch ihre Vorfahren durch schlechten Wandel entehren, und da sie klug und besonnen sind und Talente besitzen, wird ihnen das Vermögen, das ich ihnen hinterlassen kann, zu anständigem Dasein ausreichen.

Frage: Du glaubst also nicht, daß edle Geburt und berühmte Vorfahren die Nachkommen der Pflicht entheben, selbst etwas zu leisten?

Antwort: Ganz und gar nicht! Das soll sie vielmehr ermutigen, ihre Vorfahren zu übertreffen; denn es gibt nichts Schmachvolleres als ein entartendes Geschlecht. Dann dient der Glanz der Ahnen ja nicht zur Verherrlichung ihrer Nachkommen, sondern er setzt deren eigne Nichtswürdigkeit in um so helleres Licht.

Frage: Ich muß Dich auch um eine Erklärung darüber bitten, was Du von den Pflichten gegen die Gesellschaft behauptetest. Du sagtest, Du dürftest andren das nicht zufügen, was Du nicht willst, daß man Dir tue. Das ist sehr unbestimmt. Ich möchte, daß Du mir auseinandersetzest, was Du darunter verstehst.

Antwort: Das ist nicht schwierig. Ich brauche nur alles durchzugehen, was mich verdrießt und was mir angenehm ist. i. Ich würde mich ärgern, wenn man mir meinen Besitz entrisse; folglich darf ich niemandem das Seine nehmen. 2. Es würde mir unendlichen Schmerz bereiten, wenn man meine Frau verführte; ich darf also das Ehebett eines andren nicht beflecken. 3. Ich verabscheue die Wortbrüchigen und Meineidigen; folglich muß ich mein Wort und meine Eide getreulich halten. 4. Ich hasse die, die mir Übles nachreden; folglich darf ich niemanden ver<271>leumden. 5. Kein Privatmann hat ein Recht auf mein Leben; folglich habe ich auch kein Recht, irgend einem Menschen das seine zu rauben. 6. Wer mir Undank bezeigt, empört mich; wie sollte ich also undankbar gegen meine Wohltäter sein? 7. Wenn ich die Ruhe liebe, werde ich den Frieden der andren nicht stören. 8. Wenn ich mir in meinen Nöten gern helfen lasse, werde auch ich meinen Beistand denen nicht versagen, die mich darum bitten; denn ich kenne das schöne Gefühl, das einen erfüllt, wenn man einer wohltätigen Seele, einem hilfsbereiten Herzen begegnet, das Mitleid mit dem menschlichen Elend hat, den Unglücklichen hilft, sie verteidigt und rettet.

Frage: Ich sehe, daß Du das alles für die Gesellschaft tust; was aber hast Du selber für Vorteil davon?

Antwort: Die süße Genugtuung, so zu sein, wie ich es wünsche, wert, Freunde zu besitzen, würdig der Achtung meiner Mitbürger, würdig meines eignen Beifalls.

Frage: Bringst Du bei einem solchen Verhalten nicht alle Deine Wünsche und Neigungen zum Opfer?

Antwort: Ich halte sie im Zaum, und wenn ich sie unterdrücke, geschieht es zu meinem eignen Nutzen, zur Aufrechterhaltung der Gesetze, die den Schwachen gegen die Angriffe des Starken schützen, zur Wahrung meines Rufes und um den Strafen zu entgehen, die die Gesetze bei Übertretungen androhen.

Frage: Allerdings bestrafen die Gesetze öffentliche Übeltaten. Aber wie viele schlechte Handlungen bleiben in Dunkel gehüllt und entziehen sich dem scharfen Auge der Gerechtigkeit! Warum willst Du nicht zur Zahl jener glücklichen Übeltäter gehören, die im Schatten der Straflosigkeit ihre Frevel genießen? Böte sich Dir also eine heimliche Gelegenheit, Dich zu bereichern, so würdest Du sie vorübergehen lassen?

Antwort: Wenn ich aufrechtmäßige Weise zu Wohlstand kommen kann, würde ich es gewiß nicht verabsäumen. Wäre es aber nur durch unredliche Mittel möglich, so würde ich auf der Stelle darauf verzichten.

Frage: Weshalb?

Antwort: Weil nichts so verborgen ist, daß es nicht an den Tag käme. Früher oder später enthüllt die Zeit doch die Wahrheit. Ich würde unrecht erworbenes Gut nur mit Zittern besitzen und mein Leben in der steten furchtbaren Erwartung des Augenblicks hinbringen, der meine Schande aufdeckte und mich auf ewig vor der Welt entehrte.

Frage: Gleichwohl ist die Moral der großen Welt ziemlich locker. Wieviel Unrecht, wieviel Betrug, wieviel Treulosigkeit würde zutage kommen, wollte man untersuchen, mit welchem Rechte jeder sein Gut besitzt! Ermutigen solche Beispiele Dich nicht zur Nachahmung?

<272>

Antwort: Sie könnten mich nur über die Verderbtheit der Menschen traurig stimmen. Aber wie ich weder einem Buckligen noch einem Blinden ähnlich sein möchte, so halte ich es auch für eine unwürdige Erniedrigung einer edlen Seele, sich das Lasier zum Vorbild zu nehmen.

Frage: Trotzdem gibt es unentdeckte Verbrechen.

Antwort: Zugegeben! Aber die Verbrecher sind nicht glücklich. Wie ich Dir schon sagte, werden sie von Furcht vor Entdeckung und von Heftigsten Gewissensbissen gequält. Sie empfinden es tief, daß sie eine betrügerische Rolle spielen und ihre Ruchlosigkeit unter der Maske der Tugend verbergen. Ihr Herz verwirft die falsche Achtung, die ihnen zuteil wird, und sie selbst verdammen sich insgeheim zu der tiefsten Verachtung, die sie verdienen.

Frage: Es ist fraglich, ob Du so dächtest, wenn Du in solcher Lage wärest.

Antwort: Könnte ich die Stimme meines Gewissens und die rächende Reue ersticken? Das Gewissen gleicht einem Spiegel. Wenn unsre Leidenschaften schlafen, zeigt es uns unsre ganze Mißgestalt. Ich sah mich darin unschuldig und soll mich nun schuldbedeckt sehen? Ach! Ich würde in meinen eignen Augen zum Gegenstand des Abscheus werden! Nein, nie werde ich mich aus freien Stücken dieser Erniedrigung, diesem Schmerz, dieser Marter aussetzen!

Frage: Es gibt jedoch Raub und Erpressungen, die der Krieg zu rechtfertigen scheint.

Antwort: Der Krieg ist ein Handwerk für Ehrenmänner, wenn die Bürger ihr Leben im Dienste des Vaterlandes aufs Spiel setzen. Mischt sich aber Eigennutz ein, so artet dies edle Handwerk zu bloßer Räuberei aus.

Frage: Nun, wenn Du auch nicht eigennützig bist, so wirst Du doch zum min, besten Ehrgeiz besitzen, wirst wünschen, emporzukommen und Deinesgleichen zu befehlen.

Antwort: Ich mache einen großen Unterschied zwischen Ehrsucht und Wetteifer. Die Ehrsucht ist oft maßlos und grenzt an das Lasier, aber der Wetteifer ist eine Tugend, nach der man trachten muß. Er treibt uns an, unsre Mitbewerber ohne Neid zu übertreffen, indem wir besser als sie unsre Pflichten erfüllen. Er ist die Seele der schönsten Taten im Kriege und im bürgerlichen Leben. Er wünscht zu glänzen, will aber seine Erhebung nur der Tugend im Verein mit höheren Talenten verdanken.

Frage: Könntest Du aber dadurch zu einer hohen Stellung gelangen, daß Du jemand einen schlechten Dienst erwiesest, würde dieser Weg Dir nicht kürzer erscheinen?

<273>

Antwort: Die Stellung könnte meine Begier erregen. Trotzdem möchte ich niemals zum Mörder werden, um sie zu erlangen.

Frage: Was nennst Du, zum Mörder werden?

Antwort: Einen Menschen töten, ist für den Getöteten nicht so schlimm als ihn zu entehren. Gilt es doch gleich, ob man ihn mit der Zunge oder mit dem Dolche meuchelt273-1.

Frage: Du würdest also niemanden verleumden. Dennoch kann es geschehen, daß Du jemanden tötest, ohne ihn zu ermorden. Nicht als ob ich Dir einen kaltblütigen Totschlag zutraute! Aber wenn einer Deiner Standesgenossen Dir seine Feindschaft erklärt und Dich verfolgt, wenn ein Flegel Dich beschimpft und entehrt, kann der Zorn Dich hinreißen und das süße Gefühl der Rache Dich zu einer gewaltsamen Tat treiben.

Antwort: Das sollte nicht geschehen! Aber ich bin ein Mensch, mit lebhaften Leidenschaften begabt. Ich würde sicherlich einen schweren Kampf zu bestehen haben, um die erste Zorneswallung zu unterdrücken; gleichwohl müßte ich sie bezwingen. Privatbeleidigungen zu rächen, ist Sache des Gesetzes; kein einzelner hat ein Recht zur Bestrafung derer, die ihn beschimpfen. Wollte es aber das Unglück, daß die erste Aufwallung die Oberhand über meine Vernunft gewänne, so würde ich es zeitlebens bereuen.

Frage: Wie würdest Du dies Benehmen als Soldat mit dem vereinigen, was die Ehre einem Mann von Stand gebietet? Wie Du weißt, stehen die Ehrengesetze leider in allen Ländern mit den bürgerlichen Gesetzen in schroffem Widerspruch.

Antwort: Ich würde mir ein verständiges, maßvolles Benehmen zur Regel machen, um keinen Anlaß zu Händeln zu geben. Wenn man mich aber ohne meine Schuld reizte, so wäre ich gezwungen, dem Brauche zu folgen, und ich würde mir wegen der Folgen die Hände in Unschuld waschen273-2.

Frage: Da wir gerade vom Ehrgefühl sprechen, so erkläre mir doch, worin cs nach Deiner Meinung besieht.

Antwort: Das Ehrgefühl besieht in der Vermeidung alles dessen, was den Menschen verächtlich machen kann, und in der Pflicht, alle ehrlichen Mittel zu gebrauchen, um seinen guten Ruf zu erhöhen.

Frage: Wodurch wird ein Mensch verächtlich?

Antwort: Durch Genußsucht, Müßiggang, Albernheit, Unwissenheit, schlechte Aufführung, Feigheit und alle Lasier.

Frage: Was verschafft einen guten Ruf?

<274>

Antwort: Unbescholtenheit, redliches Betragen, Kenntnisse, Fleiß, Wachsamkeit, Tapferkeit, schöne Taten im Kriege und im bürgerlichen Leben, mit einem Worte alles, was uns über die menschlichen Schwächen erhebt.

Frage: Was die menschlichen Schwächen betrifft, so bist Du jung und in dem Alter, wo die Leidenschaften am Heftigsien sind. Widerstehst Du auch der Habgier, dem maßlosen Ehrgeiz, der Rachsucht, so glaube ich doch, daß Du den Reizen eines bezaubernden Geschlechtes verfallen wirst, das Wunden schlägt, indem es uns verführt, und die vergifteten Pfeile so tief in unser Herz bohrt, daß die Vernunft wankt. Ach, wie beklage ich im voraus den Ehemann, dessen Frau Dich einst zu ihrem Sklaven macht! Wie denkst Du darüber?

Antwort: Ich bin jung und schwach, das gesiehe ich. Doch ich kenne meine Pflichten, und mir scheint, daß ein junger Mensch nicht den Frieden der Familien zu zerstören und keine Gewalt anzuwenden braucht, um seine Leidenschaften zu befriedigen. Er kann es auf harmlosere Art tun.

Frage: Ich versiehe. Du spielst auf die Worte des Porcius Cato an, der einst einen jungen Patrizier von einem Freudenmädchen kommen sah und erfreut ausrief: dann werde er den Frieden keiner Familie stören. Indes bringt auch dies Mittel sonderbare Übelstände mit sich, und Mädchen zu verführen —

Antwort: Ich würde keines verführen; denn ich will niemand betrügen, noch falsche Schwüre leisten. Betrügen ist ehrlos; falsch schwören ein Verbrechen.

Frage: Aber wenn es Dein Vorteil erheischt?

Antwort: Dann stände ja ein Vorteil dem andren entgegen. Denn breche ich mein Wort, so dürfte ich mich nicht beklagen, wenn ein andrer mir das seine bricht, und spiele ich mit Eiden, so könnte ich auch denen nicht trauen, die mir Eide leisten.

Frage: Doch wenn Du Catos Vorschrift befolgst, so setzest Du Dich andren Zufällen aus.

Antwort: Wer sich seinen Leidenschaften überläßt, ist ein verlorener Mensch. Ich habe es mir in allen Dingen zur Lebensregel gemacht: genieße, aber treibe keinen Mißbrauch.

Frage: Das ist sehr verständig. Aber bist Du auch sicher, nie von dieser Regel abzuweichen?

Antwort: Mein Selbsterhaltungstrieb läßt mich über meine Gesundheit wachen. Ich weiß, daß sie durch nichts mehr zerstört wird als durch Ausschweifung. Ich muß also auf meiner Hut sein, um meine Kräfte nicht zu erschöpfen und mir keine leidige Krankheit zuzuziehen, die meine blühende Jugend zerrüttet, mich kraftlos und elend werden läßt. Sonst müßte ich mir ja den grausamen Vorwurf machen, mein eigner<275> Mörder zu sein. Wenn also der Trieb zur Wollust mich fortreißt, hält mich der Selbst, erhaltungstrieb zurück.

Frage: Auf diese Gründe habe ich nichts zu erwidern. Wenn Du aber so streng gegen Dich selbst bist, wirst Du gewiß hart gegen andre sein.

Antwort: Ich bin nicht hart gegen mich, ich bin nur vernünftig. Ich versage mir nur das, was meiner Gesundheit, meinem Rufe, meiner Ehre schädlich ist. Weit entfernt, fühllos zu sein, habe ich tiefes Mitgefühl mit den Leiden meiner Mitmenschen. Aber damit begnüge ich mich nicht. Ich suche ihnen auch beizustehen und ihnen alle Dienste zu leisten, die ich vermag, sei es durch mein Vermögen, wenn sie in Not geraten, sei es durch Rat, wenn sie in Verlegenheit sind, sei es durch Aufdeckung ihrer Unschuld, wenn man sie verleumdet, sei es durch Empfehlung, wenn ich es vermag.

Frage: Wenn Du so viele Almosen gibst, wirst Du Dein Vermögen erschöpfen.

Antwort: Ich gebe meinen Mitteln gemäß. Solch ein Kapital verzinst sich hundertfach durch die lebhafte Freude, die man bei der Rettung eines Unglücklichen empfindet.

Frage: Aber durch Verteidigung der Unterdrückten läuft man mehr Gefahr.

Antwort: Soll ich die verfolgte Unschuld ohne Beistand lassen? Wenn ich die Falschheit einer Anklage kenne und sie beweisen kann, soll ich da die Wahrheit verschweigen, wo ich sie entdecken könnte, und aus Fühllosigkeit oder Schwache gegen alle Pflichten eines Ehrenmannes verstoßen?

Frage: Und doch, wenn man sieht, wie es in der Welt zugeht, ist es nicht immer gut, die Wahrheit zu sagen.

Antwort: Was die Wahrheit verhaßt macht, ist zumeist die schroffe Art, wie man sie sagt. Wird sie aber bescheiden und ohne Aufhebens verkündet, so nimmt man sie nur selten übel. Schließlich fühle ich selbst das Bedürfnis nach Beistand und Schutz; von wem aber könnte ich ähnliche Diensie verlangen, wenn ich sie selbst nicht leiste?

Frage: Wenn man den Menschen dient, erwirbt man sich meistens nur Undank. Was hast Du von Deiner Liebesmühe?

Antwort: Es ist schön, sich Undank zu erwerben, aber nichtswürdig, undankbar zu sein.

Frage: Dankbarkeit ist eine schwere Last, oft eine unerträgliche. Eine Wohltat läßt sich niemals vergelten. Findest Du es nicht hart, sein Lebelang daran zu tragen?

<276>

Antwort: Nein; denn diese Erinnerung gemahnt mich immerfort an die edlen Handlungen meiner Freunde. Das Andenken ihres hochherzigen Benehmens ist mir dauernd gegenwärtig; nur für Beleidigungen habe ich ein kurzes Gedächtnis. Es gibt keine Tugend ohne Dankbarkeit; sie ist die Seele der Freundschaft, der holde Trost des Lebens. Sie verknüpft uns mit unsren Eltern, mit dem Vaterlande, mit unsren Wohltätern. Nein, nie werde ich das Land vergessen, in dem ich zur Welt kam, die Brust, an der ich getrunken, den Vater, der mich erzogen, den Weisen, der mich belehrt, die Sprache, die mich verteidigt, den Arm, der mich gestützt hat!

Frage: Die Dienste, die man Dir geleistet, waren Dir sehr nützlich, das gebe ich zu. Doch welcher eigne Vorteil verpflichtet Dich zur Dankbarkeit?

Antwort: Der allergrößte, nämlich der, mir Freunde in der Not zu bewahren und durch meine Dankbarkeit den Beistand wohlwollender Herzen zu verdienen, well kein Mensch der Hilfe entbehren kann und man sich ihrer würdig erweisen muß, endlich, weil ein jeder die Undankbaren verabscheut, weil er sie als Zerstörer der holdesten gesellschaftlichen Bande ansieht, weil sie die Freundschaft zur Gefahr machen und alle, die ihnen HUfe leisten, schädigen, kurz, weil sie Gutes mit Bösem vergelten. Zur Undankbarkeit gehört ein fühlloses, verderbtes, rohes Herz. Wäre ich solcher Schändlichkeit fähig? Soll ich mich des Umgangs mit ehrenwerten Menschen unwürdig machen? Soll ich gegen den geheimen Trieb meines Herzens handeln, der mir zuruft: „Stehe Deinen Wohltätern nicht nach! Vergilt ihnen, wenn Du kannst, hundertfältig die Dienste, die Du von ihrer Großmut empfangen hast!“ Ach, lieber ende der Tod mein Leben, als daß ich es durch solche Schändlichkeit besteckte! Um froh und befriedigt zu leben, muß ich mit mir selber zufrieden sein, muß ich am Abend, wenn ich meine Handlungen überdenke, etwas finden, was meiner Eigenliebe schmeichelt, aber nichts, was sie demütigt. Je mehr Spuren von Gerechtigkeit, Großmut, Edelsinn, Dankbarkeit und Seelengröße ich in mir finde, um so befriedigter bin ich.

Frage: Aber wenn Du Deine Dankbarkeit auf das Vaterland erstreckst, was schuldest Du ihm?

Antwort: Alles; meine schwachen Talente, mein Hab und Gut, meine Liebe, mein Leben.

Frage: Allerdings hat die Liebe zum Vaterland in Griechenland und in Rom die schönsten Taten erzeugt. Durch diesen Grundsatz behauptete Sparta seine Macht, solange Lykurgs Gesetze befolgt wurden. Infolge dieser unerschütterlichen Anhänglichkeit an das Vaterland erzog die römische Republik Bürger, die sie zur Herrscherin der Welt machten. Wie verbindest Du jedoch Deinen Votteil mit dem des Vaterlandes?

<277>

Antwort: Ich verbinde beide leicht; denn jede schöne Tat zieht ihren Lohn nach sich. Was ich an eignem Vorteil opfere, gewinne ich an Ruhm wieder. Zudem ist mein Vaterland als gute Mutter selbst verpflichtet, die ihm geleisteten Dienste zu belohnen.

Frage: Worin können solche Dienste bestehen?

Antwort: Sie sind unzählig. Man kann seinem Vaterlande nützen, indem man seine Kinder nach den Grundsätzen des guten Bürgers und Ehrenmannes erzieht, indem man den Ackerbau auf seinen Gütern vervollkommnet, die Rechtspflege billig und unparteiisch übt, die öffentlichen Gelder uneigennützig verwaltet, durch Tugend oder Geist sein Zeitalter zu verherrlichen sucht, indem man aus reinem Ehrgefühl das Waffenhandwerk ergreift, zugunsten der Wachsamkeit und Tatkraft auf träge Weichlichkeit verzichtet, zugunsten des guten Rufes auf den eignen VorteU, zugunsten des Ruhmes auf das Leben, indem man alle Kenntnisse erwirbt, durch die man sich in dieser schweren Kunst auszeichnet, und indem man den Vorteil des Vaterlandes mit Gefahr des eignen Lebens verteidigt. Das sind meine Pflichten.

Frage: Das heißt, sich mit vielen Sorgen und Mühen beladen!

Antwort: Das Vaterland verwirft die unnützen Bürger. Sie sind ihm eine drückende Last. Durch schweigende Übereinkunft muß jedes Mitglied zum Wohle der großen Familie, die der Staat ist, beitragen. Wie man in den Baumpflanzungen die schlechten Zweige wegschneidet, die keine Frucht tragen, so verwirft man auch die Genußsüchtigen und Faullenzer und das ganze, meist verderbte Geschlecht der Müßiggänger, das nur an sich selbst denkt und die Vorteile der Gesellschaft genießt, ohne irgendwie zu ihrem Nutzen beizutragen. Ich für mein Teil möchte, wenn es mir gelänge, weit über meine Pflichten hinausgehen. Ein edler Wetteifer treibt mich zur Nachahmung großer Vorbilder an. Warum schätzest Du mich so gering ein, daß Du mich des Aufschwunges zur Tugend für unfähig hältst, für den andre uns Beispiele geliefert haben? Bin ich nicht mit den gleichen Organen begabt wie sie? Ist mein Herz nicht zu denselben Gefühlen fähig? Soll ich meinem Zeitalter Schande machen und durch feiges Betragen den Argwohn rechtfertigen, daß unser Geschlecht hinter den Tugenden seiner Vorfahren weit zurücksieht? Kurzum, bin ich nicht sterblich? Weiß ich, wann meiner Laufbahn ein Ziel gesetzt ist? Und wenn ich doch sterben muß, ist es da nicht besser, mich im letzten Augenblick mit Ruhm zu bedecken und meinen Namen bis ans Ende der Zeiten zu verewigen, als nach einem müßigen, unbeachteten Leben an Krankheiten hinzusterben, die weit grausamer sind als die Geschosse des Feindes, und das Andenken meiner Person, meiner Handlungen und meines Namens mit mir ins Grab zu nehmen? Ich will es verdienen, daß man mich kenne. Ich will tugendhaft sein, meinem Vaterlande dienen und meinen kleinen Winkel im Tempel des Ruhmes haben.

<278>

Frage: Da Du so denkst, wirst Du ihn sicherlich einnehmen. Plato sagt, die letzte Leidenschaft des Weisen sei die Liebe zum Ruhm. Ich bin hocherfreut, so edle Neigungen bei Dir zu finden. Du weißt, das wahre Glück des Menschen liegt in der Tugend. Bewahre Dir diese hohe Gesinnung, und es wird Dir im Leben nicht an Freunden fehlen und nach Deinem Tode nicht an Ruhm.

<279>

Briefe über die Vaterlandsliebe
(1779)

1. Brief des Anapistemon

Gerührt von der freundlichen Aufnahme, die ich auf Ihrem Landsitze fand, drängt es mich, Ihnen meinen Dank dafür auszudrücken. In Ihrer Gesellschaft fand ich die größten Güter, die Menschen zuteil werden können: Freundschaft und Freiheit. Aus Furcht, Ihre Güte zu mißbrauchen, verließ ich Sie mit tiefem Bedauern. Die Erinnerung an die glücklichen Tage, die ich bei Ihnen verbrachte, wird mir unauslöschlich bleiben. Das Gute, das uns begegnet, geht vorüber, aber das Üble hält an. Jedoch die Erinnerung an das genossene Glück verlängert seine Dauer. Mein Gedächtnis ist noch ganz erfüllt von allem, was ich sah und hörte, besonders aber von jener letzten Unterhaltung, die wir am Abend nach Tisch führten. Ich bedaure nur, daß Sie sich in der Erörterung der Bürgerpflichten auf allgemeine Ideen beschränkten und nicht auf Einzelheiten eingingen. Sie würden mir eine große Freude bereiten, wenn Sie sich über diesen wichtigen Gegenstand weiter auslassen wollten. Er geht alle Menschen an und verdient darum gründliche Erörterung. Wie ich Ihnen gestehen muß, habe ich in meinem stillen, mehr dem Genuß als der Betrachtung zugewandten Leben über die gesellschaftlichen Bande und die bürgerlichen Pflichten garnicht nachgedacht. Ich hielt es für hinreichend, ein ehrlicher Mensch zu sein und die Gesetze zu achten. Weiter, glaubte ich, sei nichts nötig. Mein Vertrauen zu Ihnen ist jedoch so groß, daß ich niemanden für befähigter halte, mich über diesen Gegenstand zu belehren. Es gäbe noch so vieles, worüber Sie mich aufklären könnten, doch ich begnüge mich hiermit. Haben Sie also die Güte, mir alle die Kenntnisse mitzuteilen, die Sie sich durch Ihre Studien und Ihr Nachdenken über diesen Gegenstand erworben haben. Jedermann handelt, wenige denken. Sie gehören nicht zu den Gedankenlosen; Sie prüfen die Dinge aufmerksam, erwägen das Für und Wider und geben sich nur mit offenbaren Wahrheiten zufrieden. Sie leben sozusagen mit den alten und neuen Schriftstellern, haben sich alle ihre Kennt<280>nisse angeeignet, und das macht Ihre Unterhaltung so reizvoll und fesselnd, daß man, von Ihnen getrennt und Ihren Worten entrückt, wenigstens den Trost haben möchte, Sie zu lesen. Wenn Sie die Güte haben wollten, meine Wißbegier zu befriedigen und mir Ihre Anschauungen mitzuteilen, so würden Sie den Gefühlen der Achtung und Freundschaft, die ich für Sie hege, noch das der Dankbarkeit Hins zufügen. Vale!

2. Brief des Philopatros

Die liebenswürdigen Ausdrücke, mit denen Sie mich bedenken, waren mir äußerst schmeichelhaft. Ich verdanke sie allein Ihrer Höflichkeit und nicht der Aufnahme, die ich Ihnen bereitete. Sie erkennen meine gute Absicht an, obwohl die Taten ihr nicht so entsprachen, wie ich es gewünscht hätte. Ich hätte Sie durch muntere und aufgeräumte Plaudereien erheitern sollen. Statt dessin lenkte ich die Unterhaltung auf ernste und wichtige Gegenstände. Ich allein trage die Schuld daran. Ich führe eine sitzende Lebensweise, bin von Krankheit geplagt und dem Treiben der großen Welt entrückt. Durch die Lektüre hat sich mein Geist allmählich dem Nachsinnen zugewandt; mein Frohsinn ist dahin und die trübe Vernunft hat ihn ersetzt.

Unwillkürlich sprach ich mit Ihnen so, wie ich denke, wenn ich in meinem Arbeitszimmer allein bin. Ich hatte den Kopf voll von der Republik von Sparta und Athen, deren Geschichte ich gelesen hatte, und von den Bürgerpflichten, über die Sie eine ausführlichere Erklärung wünschen. Sie tun mir zuviel Ehre an. Sie halten mich für einen Lykurg, einen Solon, mich, der nie Gesetze gegeben, sich nie mit einer andren Regierung befaßt hat als der meiner Güter, auf denen ich nun schon seit Jahren in tiefster Zurückgezogenheit lebe. Da Sie indes zu erfahren wünschen, worin nach meiner Meinung die Pflichten eines guten Bürgers bestehen, so seien Sie überzeugt, daß ich diesem Wunsche nur willfahre, um Ihnen zu gehorchen, nicht aber, um Sie zu belehren.

Die neuere PHUosophie verlangt mit Recht, daß man Begriff und Sache zuerst definiere, um Mißverständnissen vorzubeugen und die Gedanken auf bestimmte Gegenstände zu richten. Ich definiere also den guten Bürger, wie folgt. Er ist ein Mann, der es sich zur unverbrüchlichen Regel gemacht hat, der Gesellschaft, deren Mitglied er ist, nach besten Kräften zu nützen, und zwar aus folgendem Grunde. Der Mensch kann als Einzelwesen nicht bestehen. Selbst die barbarischsten Völker bilden kleine Gemeinwesen. Die gesitteten Nationen, die ein Gesellschaftsvertrag280-1<281> bindet, sind sich gegenseitigen Beistand schuldig. Ihr eigner Vorteil, das Gemeinwohl verlangt es. Sobald sie aufhören würden, sich gegenseitig zu helfen und beizustehen, entstände so oder so eine allgemeine Verwirrung, die den Untergang jedes Einzelnen nach sich zöge. Diese Grundsätze sind nicht neu. Sie bildeten die Grundlage aller Republiken, von denen das Altertum uns Kunde gibt. Auf solchen Gesetzen beruhten die griechischen Freistaaten. Auch die römische Republik hatte die gleiche Grundlage. Wurden sie späterhin zerstört, so kommt dies daher, weil die Griechen durch ihren unruhigen Geist und die Eifersucht aufeinander sich selbst das Unglück zuzogen, das über sie hereinbrach, und weil einige römische Bürger, die für Republikaner zu mächtig geworden waren, ihre Regierung in zügellosem Ehrgeiz stürzten, schließlich auch, weil auf der Welt nichts beständig ist. Fassen Sie alles zusammen, was die Geschichte hierüber berichtet, so werden Sie finden, daß der Fall der Republiken nur einigen, durch Leidenschaft verblendeten Bürgern zuzuschreiben ist, die ihren Eigennutz dem Vorteil des Vaterlandes vorzogen, den Gesellschaftsvertrag brachen und wie Feinde des Gemeinwesens handelten, dem sie angehörten.

Ich entsinne mich, daß Sie der Meinung waren, es ließen sich wohl Bürger in den Republiken, nicht aber in den Monarchien finden. Gestatten Sie mir, Sie über diesen Irrtum aufzuklären. Gute Monarchien, die mit Weisheit und Milde regiert werden, kommen durch ihre Regierungsform heutzutage der Oligarchie näher als der Tyrannis; die Gesetze allein herrschen. Gehen wir auf Einzelheiten ein. Stellen Sie sich die Menge von Personen vor, die im Staatsrat, in der Justiz, im Finanzwesen, bei auswärtigen Gesandtschaften, im Handel, in den Heeren, bei der inneren Verwaltung angestellt sind. Rechnen Sie dazu noch die, welche Sitz und Stimme in den Landständen haben: sie alle nehmen an der Regierung teil. Der Fürst ist also kein Despot, der allein seinen Launen frönt. Man muß ihn als den Mittelpunkt betrachten, in dem sich alle Linien der Peripherie vereinigen. Diese Regierungsform sichert die Geheimhaltung bei den Beratungen, die in Republiken fehlt. Da die verschiedenen Verwaltungszweige vereinigt sind, so werden sie Stirn an Stirn in der gleichen Bahn gelenkt, wie die Quadriga der Römer281-1, und wirken gemeinsam zum Wohle des Ganzen. Außerdem finden Sie in Monarchien, wenn ein entschlossener Fürst an ihrer Spitze sieht, immer weniger Parteigeist, wogegen die Republiken oft von den Ränken der Bürger zerrissen werden, die einander zu verdrängen suchen. Die einzige Ausnahme davon dürfte in Europa das Türkische Reich bilden oder irgend eine andre Regierung, die unter Verkennung ihrer wahren Interessen den Vorteil der Untertanen nicht eng genug mit dem des Herrschers verknüpft hat. Ein gut regiertes Königreich muß wie eine Familie sein, deren Vater der Fürst und deren Kinder die Bürger sind. Glück und Unglück werden geteilt; denn der Herrscher könnte nicht glücklich sein, wenn sein Volk elend ist. Ist diese Einheit gut<282> befestigt, so bringt die Dankespfiicht gute Bürger hervor; denn ihre Verbindung mit dem Staate ist zu innig, als daß sie sich von ihm losreißen könnten. Dabei hätten sie alles zu verlieren, aber nichts zu gewinnen. Wollen Sie Beispiele? Die Regierung von Sparta war oligarchisch und hat eine Menge großer, dem Vaterland ergebener Bürger hervorgebracht. Rom lieferte nach dem Verlust seiner Freiheit noch einen Agrippa, einen Paetus Thrasea, einen Helvidius Priscus, einen Corbulo und Agricola282-1, Kaiser wie Titus, Mark Aurel, Trajan, Julian, kurz eine Fülle männlicher und mannhafter Seelen, die die öffentliche Wohlfahrt dem eignen Vorteil vorzogen.

Aber ich weiß nicht, wie ich unmerklich abschweife. Ich wollte Ihnen einen Brief schreiben, und wenn ich so fortfahre, wird eine Abhandlung daraus. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Das Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, reißt mich fort, und ich fürchte, Ihnen zur Last zu fallen. Seien Sie jedoch versichert, daß ich unter allen Gliedern des Staatskörpers, dem ich angehöre, keinem so gern diene als Ihnen, lieber Freund. Ich bin mit größter Achtung usw.

3. Brief des Anapistemon

Tausend Dank für die Mühe, die Sie sich geben, mich über einen Gegenstand aufzuklären, den ich nur wenig untersucht und über den ich nur sehr unbestimmte Begriffe habe! Ihr Brief erschien mir nicht nur nicht zu lang, sondern vielmehr zu kurz; denn ich ahne schon, Sie werden mir noch mancherlei erklären müssen. Inzwischen wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich einige Einwendungen mache. Klären Sie meine Unwissenheit auf, zerstören Sie meine Vorurteile oder bestärken Sie mich in meinen Ansichten, wenn sie richtig sind!

Kann man sein Vaterland wirklich lieben? Ist diese sogenannte Liebe nicht die Erfindung irgend eines PHUosophen oder eines grüblerischen Gesetzgebers, die von den Menschen eine Vollkommenheit fordern, die ihre Kräfte übersteigt? Wie soll man das Volk lieben? Wie kann man sich für das Wohl irgend einer Provinz unsrer Monarchie aufopfern, auch wenn man sie nie gesehen hat? Das alles läuft für mich auf die Frage hinaus, wie man mit Inbrunst und Begeisterung etwas lieben kann, was man garnicht kennt? Solche Betrachtungen, die sich dem Geiste schier von selbst<283> aufdrängen, haben mich überzeugt, daß es für einen verständigen Menschen das klügste ist, ein ruhiges, sorgloses und müheloses Pflanzendasein zu führen und sich so wenig wie möglich anzustrengen, bis wir ins Grab sinken, das uns allen beschieden ist.

Nach diesem Plane habe ich stets gelebt. Da begegnete mir eines Tages Professor Garbojos, dessen Verdienste Sie kennen. Wir unterhielten uns über diesen Gegenstand, und er erwiderte mir mit der ihm eignen Lebhaftigkeit: „Ich gratuliere Ihnen, Herr Baron, daß Sie ein so großer Philosoph sind!“ — „Ich? Durchaus nicht!“ entgegnete ich. „Ich kenne diese Art von Leuten garnicht und habe nichts von ihren Machwerken gelesen. Meine ganze Bibliothek besieht nur aus sehr wenigen Büchern; Sie finden darin nur den 'Perfekten Landwirt', die Zeitungen und den laufenden Kalender; das genügt.“ — „Trotzdem“, fuhr er fort, „sind Sie voll von den Grundsätzen Epikurs. Wenn man Sie so hört, sollte man glauben, Sie wären in seinem Garten heimisch.“ — „Ich kenne weder Epikur noch seinen Garten“, erwiderte ich; „aber was lehrt denn dieser Epikur? Bitte, unterrichten Sie mich doch darüber.“ Da nahm mein Professor eine würdevolle Miene an und sprach also: „Ich sehe, daß die schönen Geister sich berühren, da der Herr Baron ebenso denkt wie ein großer Philosoph. Epikur lehrte, sich nie in Geschäfte noch in die Regierung zu mischen, und zwar aus folgenden Gründen. Um sich jene Seelenruhe zu bewahren, worin nach seiner Lehre das Glück besieht, darf der Weise seine Seele nicht der Gefahr aussetzen, von Verdruß, Zorn und andren Leidenschaften erregt zu werden, die die Sorgen und Geschäfte notwendig mit sich bringen. Es sei also besser, jede Verlegenheit, jede unangenehme Tätigkeit zu meiden, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und alle Kräfte zur Selbsterhaltung zusammenzunehmen.“ — „Guter Gott“, rief ich aus, „wie entzückt bin ich von diesem Epikur! Bitte leihen Sie mir sein Buch.“ — „Wir besitzen von ihm“, erwiderte jener, „kein vollständiges Lehrgebäude, sondern nur verstreute Bruchstücke. Lukrez hat einen Teil seines Systems in schöne Verse gebracht. Einzelne Brocken finden wir in den Werken von Cicero, der einer andren Sekte angehörte und alle seine Behauptungen widerlegt und vernichtet.“

Sie können sich nicht vorstellen, wie stolz ich war, in mir selbst das gefunden zu haben, was ein alter griechischer Philosoph vor fast dreitausend Jahren gedacht hat! Das bestärkt mich mehr und mehr in meinen Ansichten. Ich beglückwünsche mich zu meiner Unabhängigkeit; ich bin frei, bin mein eigner Herr, Fürst und König. Ich überlasse ungestümen Toren den trügerischen Traum von Größe, dem sie nachjagen. Ich lache über die Habgier der Geizigen, die eitle Schätze sammeln, die sie im Tode verlassen müssen, und stolz auf die Vorzüge, die ich besitze, erhebe ich mich über die ganze Welt.

Ich hoffe auf Ihren Beifall; denn ich denke wie ein Philosoph, den ich weder gesehen noch gelesen habe. Die Natur allein muß diese Übereinstimmung der Meinungen erzeugt haben; sie müssen also Wahrheit enthalten. Haben Sie die Güte,<284> mir zu sagen, was Sie darüber denken. Vielleicht stimmen wir überein. Wie dem aber auch sei, nichts wird die Gefühle der Achtung und Freundschaft vermindern, mit denen ich bin usw.

4. Brief des Philopatros

Ich glaubte, lieber Freund, mit der zusammenhängenden Darlegung meiner Ansichten über die bürgerlichen Pflichten Ihre Wißbegier befriedigt zu haben, aber da kommen Sie mir mit einer neuen Frage. Ich sehe, Sie wollen mich mit Epikur in Streit bringen. Das ist kein unsanfter Gegner; ich schlage den Kampf also nicht aus. Und da Sie mich nun einmal in die Schranken geführt haben, so will ich mein möglichstes tun, um die Bahn zu durchlaufen. Um aber die Dinge nicht zu verwirren, werde ich Ihren Einwendungen in der Ordnung folgen, die Ihr Brief enthält.

Ich weise Sie zunächst darauf hin, daß es für einen Ehrenmann nicht genügt, keine Verbrechen zu begehen; er muß auch tugendhaft sein. Wenn er die Gesetze nicht übertritt, so vermeidet er nur Strafen. Ist er aber weder gefällig noch dienstfertig, noch nützlich, so ist er ohne alles Verdienst und muß folglich auf die öffentliche Achtung verzichten. Sie werden also zugeben, daß Ihr eigner Vorteil Ihnen anrät, sich nicht von der Gesellschaft loszulösen, vielmehr eifrig an allem mitzuwirken, was ihr ersprießlich sein kann. Wie? Sie halten die Vaterlandsliebe für eine abstrakte Tugend, wo so viele geschichtliche Beispiele beweisen, wieviel Großes sie vollbracht hat, indem sie die Menschen hoch über alles Menschliche erhob und ihnen die Kraft zu den edelsten und ruhmvollsten Taten einhauchte! Das Wohl der Gesellschaft ist auch das Ihre. Ohne es zu wissen, sind Sie mit so starken Banden an Ihr Vaterland geknüpft, daß Sie sich weder absondern, noch von ihm lossagen können, ohne diesen Fehler schwer zu büßen. Ist die Regierung glücklich, so werden Sie selbst gedeihen. Leidet sie, so fällt ihr Mißgeschick auf Sie zurück. Erfreuen die Bürger sich ehrbaren Wohlstands, so wird es auch dem Fürsien wohl ergehen. Werden aber die Bürger vom Elend bedrückt, so ist die Lage des Fürsien bedauernswert. Die Vaterlandsliebe ist also nicht etwas rein Ideelles, sie ist sehr real. Nicht diese Häuser, Mauern, Wälder und Felder nenne ich Ihr Vaterland, sondern Ihre Eltern, Ihr Weib, Ihre Kinder und Freunde, die, welche in den verschiedenen Zweigen der Staatsverwaltung für Ihr Wohl arbeiten und Ihnen tägliche Dienste leisten, ohne daß Sie sich nur die Mühe geben, von ihrem Wirken Notiz zu nehmen. Das sind die Bande, die Sie an die Gesellschaft ketten: der Vorteil der Menschen, denen Sie Liebe schulden, Ihr eigner und der Vorteil der Regierung, die, unlöslich verknüpft, das sogenannte Ge- meinwohl der Gesamtheit bilden.

<285>

Sie sagen, man könne weder das Volk noch die Bewohner einer Provinz lieben, die man garnicht kennt. Wenn Sie darunter einen Bund vertrauter Freunde verstehen, so haben Sie recht; es handelt sich hier aber nur um jenes Wohlwollen gegen das Volk, das wir aller Welt schuldig sind und erst recht denen, die mit uns denselben Boden bewohnen und uns beigesellt sind. Und was die Provinzen unsrer Monarchie betrifft — müssen wir gegen sie nicht wenigstens die Pflichten erfüllen, die man Bundesgenossen schuldet? Angenommen, vor Ihren Augen fiele ein Unbekannter in einen Fluß. Würden Sie ihn nicht vor dem Ertrinken retten? Und wenn Sie einem Wandrer begegneten, den ein Mörder erschlagen will, würden Sie ihm nicht zu Hilfe eilen und ihn zu retten versuchen? Das Gefühl des Mitleids ward von der Natur in uns gelegt. Es treibt uns unwillkürlich an, einander beizustehen und die Pflichten gegen unsre Nächsten zu erfüllen. Sind wir also selbst Unbekannten Beistand schuldig, so schließe ich daraus, daß wir ihn erst recht unsren Mitbürgern schulden, mit denen wir durch den Gesellschaftsvertrag verbunden sind. Gestatten Sie mir noch ein Wort über die Provinzen unsrer Monarchie, gegen die Sie mir so lau scheinen. Sehen Sie nicht ein, daß der Verlust dieser Provinzen die Regierung schwächen würde? Also wäre sie, wenn ihr die aus diesen Provinzen gezogenen Hilfsmittel fehlten, weniger als jetzt imstande, Ihnen beizustehen, wenn Sie dessen bedürften. Sie ersehen aus meinen Darlegungen, lieber Freund, daß die staatlichen Beziehungen sehr ausgedehnt sind und daß man nur durch tieferes Eingehen einen rechten Begriff davon erhält.

Aber nun zu einer andern Behauptung, die ich Ihnen nicht hingehen lassen kann. Wie? Ein Mann von Talent und Geist wie Sie wagen zu behaupten, daß das Vegetieren der Pflanzen den Vorzug vor der tierischen Bewegungsfreiheit habe? Ist es möglich, daß ein verständiger Mann schlaffe Ruhe der ehrbaren Arbeit und ein weichliches, weibisches, nutzloses Dasein tugendhaften Handlungen vorzieht, die den Namen dessen, der sie vollbracht hat, unsterblich machen? Jawohl, wir gehen alle unsrem Grabe entgegen, das ist ein allgemeines Gesetz! Aber selbst unter den Toten macht man einen Unterschied. Sind die einen, kaum begraben, schon vergessen und hinterlassen die mit Verbrechen Befleckten ein schmähliches Andenken, so werden die Tugendhaften, die dem Vaterlande nützliche Dienste geleistet haben, mit Lob und Segen überhäuft und der Nachwelt als Vorbilder hingestellt, ja ihr Andenken geht niemals unter. Zu welcher von diesen drei Klassen möchten Sie gehören? Ohne Zweifel zur letzten.

Nachdem ich so viele irrige Schlüsse zerstört habe, dürfen Sie wirklich nicht erwarten, daß Ihr Epikur, obwohl ein Grieche, mir imponiert. Gestatten Sie, daß ich seine eignen Worte erläutere, um ihn gründlich zu widerlegen. „Der Weise soll sich weder in Geschäfte noch in die Regierung mischen.“ Ja, wenn er auf einer wüsten Insel haust. „Seine unempfindliche Seele soll keiner Leidenschaft, weder schlechter Laune noch der Eifersucht noch dem Zorn ausgesetzt sein.“ Das ist also Epikur, der Lehrer<286> des Wohlbehagens, der die stoische Unempfindlichkeit predigt! Nicht dies mußte er sagen, sondern das Gegenteil. Das edelste Trachten des Weisen besteht nicht darin, die Gelegenheiten zu vermeiden, sondern wenn sie sich darbieten, die Seelenruhe zu bewahren — in den Augenblicken, wo alles ringsum seine Leidenschaften erregt und aufreizt. Es ist kein Verdienst, wenn ein Steuermann sein Schiff auf ruhiger See lenkt, wohl aber, wenn er es den Stürmen und widrigen Winden zum Trotz glücklich in den Hafen bringt. Leichte und bequeme Dinge achtet niemand; nur Überwindung von Schwierigkeiten wird anerkannt. „Es ist also besser, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und nur an sich zu denken.“ Oh, Herr Epikur, sind das eines Philosophen würdige Gefühle? Ist nicht das erste, woran Sie denken sollten, das Wohl der Menschheit? Sie wagen zu verkünden, daß ein jeder nur sich selbst lieben soll? Würde ein Mensch, der das Unglück hat, Ihren Grundsätzen zu folgen, nicht mit Recht allgemein verabscheut werden? Wenn ich niemanden liebe, wie kann ich da Liebe beanspruchen? Sehen Sie nicht ein, daß man mich dann als gefährliches Ungeheuer ansehen würde, dessen Beseitigung im Interesse der öffentlichen Sicherheit statthaft wäre? Wenn die Freundschaft verschwände, welcher Trost bliebe dann unsrem armen Geschlecht?

Nehmen wir ein Gleichnis zu Hilfe, um uns noch verständlicher zu machen! Vergleichen wir den Staat mit dem menschlichen Körper. Aus der Tätigkeit und dem einmütigen Zusammenwirken aller seiner Teile entsieht seine Gesundheit, Kraft und Stärke. Venen, Schlagadern, ja die feinsten Nerven wirken an seinem animalischen Dasein mit. Wenn der Magen seine Verdauungsarbeit verlangsamte, die Gedärme ihre wurmförmige Bewegung nicht kräftig ausführten, die Lunge zu schwach atmete, das Herz sich nicht rechtzeitig erweiterte und zusammenzöge, die Pulse sich nicht nach den Bedürfnissen des Blutumlaufs öffneten und schlössen, der Nervensaft nicht nach den Muskeln strömte, die sich zur Ausführung der Bewegungen zusammenziehen müssen, so würde der Körper erschlaffen, unmerklich hinsiechen, und die Untätigkeit seiner Glieder würde seine völlige Zerstörung herbeiführen. Dieser Körper ist der Staat. Seine Glieder sind Sie und alle Bürger, die ihm angehören. Sie sehen also, daß jeder einzelne seine Aufgabe erfüllen muß, damit die Gesamtheit gedeiht. Was wird nun aus der glücklichen Unabhängigkeit, die Sie so preisen, wenn nicht dies, daß sie Sie zu einem gelähmten Gliede des Körpers macht, dem Sie angehören?

Bemerken Sie doch gütigst, daß Ihre Philosophie die klarsten Begriffe verwirrt. Sie empfiehlt Trägheit und Müßiggang als Tugend, während doch jeder zugibt, daß sie Lasier sind. Ist es eines Philosophen würdig, uns anzuspornen, unsre Zeit zu verlieren, die das Kostbarste ist, was wir haben, da sie stets entflieht und nie zurückkehrt? Soll man uns ermutigen, ein müßiges Leben zu führen, unsre Pflichten zu verabsäumen, für alle andren unnütz und uns selbst zur Last zu werden? Ein altes Sprichwort sagt: Müßiggang ist aller Lasier Anfang. Man könnte hinzufügen:<287> Fleiß ist aller Tugenden Beginn. Das ist eine feststehende Wahrheit, bestätigt durch die Erfahrung aller Zeiten und Länder.

Soviel von Epikur; ich glaube, es genügt. Wenden wir uns nun Ihren eignen Meinungen zu. Verurteilen Sie die Ehrsüchtigen; das ist mir recht. Tadeln Sie die Geizigen; ich stimme Ihnen bei. Aber dürfen Sie sich deshalb durch unverdaute Begriffe und armselige Vorurteile verleiten lassen, Ihre Mitarbeit am allgemeinen Wohl zu verweigern? Sie besitzen alles, was zu solcher Arbeit erforderlich ist, Geist, Rechtschaffenheit, Talente. Da die Natur Ihnen nichts versagt hat, was Ihnen guten Ruf verschaffen könnte, so sind Sie unentschuldbar, wenn Sie die Gaben, mit denen Sie überhäuft sind, unbenutzt lassen. Sie übertreiben Ihre Unabhängigkeit, Ihr angebliches Königtum, die Freiheit, die Sie zu genießen vorgeben und die Sie über die ganze Welt erhebt. Ja, ich zolle Ihnen Beifall, wenn Sie unter Ihrer Unabhängigkeit Selbstbeherrschung, unter Ihrem Königtum Gewalt über Ihre Leidenschaften verstehen. Sie können sich über viele Ihres Geschlechts erheben, wenn glühende Liebe zur Tugend Sie beseelt, wenn Sie ihr alle Tage, was sage ich, alle Augenblicke Ihres Daseins weihen. Ohne diese Berichtigung aber ist die Unabhängigkeit, deren Sie sich rühmen, nichts als Neigung zum Müßiggang, mit schönen Worten verbrämt; und die Trägheit, die Sie beständig preisen und die Sie zu allem und jedem unbrauchbar macht, erzeugt als natürliche Folge Langeweile. Fügen Sie das boshafte Urteil der Welt hinzu, die stets zu übler Nachrede bereit ist. Man wird Ihren Müßiggang beim rechten Namen nennen und Gott weiß welche Spöttereien gegen Sie loslassen, um sich an Ihrer Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wohl zu rächen.

Genügt das alles noch nicht, um Sie zu überzeugen, so muß ich wohl noch eine Stelle aus der Bibel anführen: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen.“ Wir sind auf der Welt, um zu arbeiten. Das ist so wahr, daß auf hundert Menschen achtundneunzig kommen, die arbeiten, und zwei, die mit ihrer Untätigkeit prahlen. Wenn es so törichte Menschen gibt, die ihre Eitelkeit dareinsetzen, nichts zu tun und den ganzen Tag die Arme zu verschränken, so sind die Arbeitsamen doch weit besser dran; denn der Geist braucht etwas, das ihn beschäftigt und zerstreut; er bedarf der Gegenstände, die seine Aufmerksamkeit fesseln; sonst ergreift ihn Überdruß und macht ihm sein Dasein zur unerträglichen Last.

Ich rede hier ohne Rückhalt zu Ihnen; denn Sie sind für die Wahrheit geschaffen, Sie sind wert, sie zu hören, und ich liebe Sie zu sehr, um Ihnen etwas zu verhehlen. Mein einziges Ziel ist, Sie dem Vaterlande wiederzugewinnen und ihm in Ihrer Person ein nützliches Werkzeug zu geben, aus dem es Nutzen ziehen kann. Das allein leitet meine Feder und bewegt mich, Ihnen alles darzulegen, was die Vaterlandsliebe mir eingibt. Der Eifer für das allgemeine Wohl war der Grundsatz aller guten Regierungen in alter und neuer Zeit, die Grundlage ihrer Größe und ihres Gedeihens. Die unbestreitbaren Wirkungen davon brachten gute Bürger hervor und<288> jene hochherzigen und tugendhaften Seelen, die den Ruhm und die Stütze ihrer Landsleute bildeten.

Entschuldigen Sie die Länge dieses Briefes! Die Fülle des Stoffes könnte viele Bände liefern, ohne daß man ihn erschöpfte. Doch es genügt, Ihnen die Wahrheit zu zeigen, um den Irrtum und die Vorurteile zu vernichten, die einem Geist wie dem Ihren ftemd sind. Ich bin usw.

5. Brief des Anapistemon

Ich habe Ihren Brief mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit gelesen. Ich war überrascht von der Menge der Gründe, mit denen Sie mich niederschlagen. Sie sind entschlossen, mich zu besiegen und meine Meinungen, an Ihren Wagen gefesselt, im Triumph dahinzuführen. Ich gesiehe, es liegt viel Überzeugungstraft in den Motiven, mit denen Sie mich zu bekehren suchen, und sie gründlich zu wider, legen, wird mir viel Mühe kosten. Um mich rascher niederzuwerfen, sagen Sie, mein Verstand habe mein Herz irregeführt, ich redete der Trägheit das Wort und veredelte dies Lasier durch den verführerischen Schein der Mäßigung oder ähnlicher Tugenden. Nun wohl, ich gebe Ihnen zu: Müßiggang ist ein Lasier, man soll dienstfertig und gefällig gegen jedermann sein, soll das Volk zwar nicht wie seine Nächsien lieben, wohl aber sich um sein Wohlergehen kümmern, mehr noch, ihm so nützlich wie möglich sein. Ich sehe ein, daß der Allgemeinheit, der ich angehöre, kein Unglück zustoßen kann, ohne daß ich dessen Wirkungen verspüre, und daß, wenn die Bürger leiden, der Staat dadurch verliert.

In allen diesen Punkten gebe ich klein bei. Ferner gebe ich zu, daß alle, die in der Staatsverwaltung tätig sind, an der höchsten Gewalt teilhaben. Aber was geht mich das alles an? Ich bin weder eitel noch ehrgeizig. Aus welchem Grunde könnte ich mir eine Last aufladen wollen, die ich nicht tragen mag, und mich in Geschäfte stürzen, wenn ich glücklich lebe, ohne daß der Gedanke an solche Tätigkeit mir in den Sinn käme? Sie räumen ein, daß maßloser Ehrgeiz ein Lasier ist. Sie müssen mir also beipflichten, wenn ich nicht in dies Lasier verfalle, und dürfen nicht verlangen, daß ich meine süße Gemütsruhe aufgebe, um mich nach Herzenslust allen Launen Fortunas auszusetzen. Ach, lieber Freund, woran denken Sie bei solchen Ratschlägen! Machen Sie sich doch eine lebhafte Vorstellung von dem harten Joche, das Sie mir aufbürden wollen, welche Beschwerden es mit sich bringt und welche leidigen Folgen es hat! In meiner jetzigen Lage schulde ich mir allein Rechenschaft über mein Benehmen. Ich bin der einzige Richter meiner Handlungen, genieße ein<289> anständiges Einkommen und brauche mein Brot nicht im Schweiße meines Angesichts zu verdienen, wie es nach Ihrer Versicherung unsren Voreltern anbefohlen ward. Ich genieße meine Freiheit. Welche Torheit sollte mich dazu bringen, mich für mein Benehmen gegen andre verantwortlich zumachen? Die Eitelkeit? Ich kenne sie nicht. Der Wunsch, Gehalt zu beziehen? Das brauche ich nicht. Ich soll mich also ohne irgend einen Grund in Geschäfte mischen, die mich nichts angehen, Geschäfte, die unbequem, peinlich, ermüdend sind und angestrengte Tätigkeit erfordern? Weswegen sollte ich all diese Mühen auf mich nehmen? Um mich dem Urteil irgend eines Vorgesetzten zu unterwerfen, von dem ich nicht abhängen will noch mag? Sehen Sie nicht, wie viele Menschen sich schon um Ämter bewerben? Warum soll ich ihre Zahl vermehren? Ob ich Diensie nehme oder nicht, es geht doch alles seinen Gang.

Aber gestatten Sie mir, diesen Gründen noch einen stärkeren hinzuzufügen. Zeigen Sie mir das Land in Europa, wo das Verdienst seines Lohnes stets sicher ist! Nennen Sie mir den Staat, wo das Verdienst anerkannt wird und ihm Gerechtigkeit widerfährt! Ach, wie ärgerlich ist es, wenn man Zeit, Ruhe und Gesundheit seinem Amt aufgeopfert hat und dann beiseite geschoben wird oder noch empörenderen Undank erdulden muß! Beispiele solchen Mißgeschicks fallen mir in Menge ein. Wenn Ihr Sporn mich zur Arbeit antreibt, hält dieser Zügel mich auf der Stelle zurück.

Meine offene Sprache zeigt Ihnen, daß ich Ihnen nichts verhehle. Ich öffne Ihnen mein Herz als Freund, lege Ihnen all die Gründe dar, die Eindruck auf mich gemacht haben, zumal wir uns ja nicht streiten, sondern jeder nur seine Meinung auseinandersetzt und die triftigste siegen muß. Ich erwarte, daß Sie mir nichts schuldig bleiben und mir in kurzem Stoff zu neuen Betrachtungen geben. Das wird Ihnen dann wieder eine neue Antwort von mir eintragen. Ich bin mit herzlicher Hochachtung usw.

6. Brief des Philopatros

Ich bin stolz darauf, lieber Freund, einige Ihrer Vorurteile untergraben zu haben. Sie sind alle gleich schädlich, und man kann sie nicht genug zerstören. Sie sagen mit Recht, der Streit herrsche in Wirklichkeit nicht zwischen uns, sondern zwischen den Gründen, von denen die stärksten und triftigsten über die schwächeren siegen muffen. Wir tun ja auch nichts, als einen Gegenstand zu erörtern, um zu entdecken, wo die Wahrheit liegt, und uns auf feiten des Augenscheins zu stellen. Glauben Sie indes nicht, meine Gründe seien erschöpft. Bei nochmaliger Durchsicht Ihrer<290> Briefe stellte sich in meinem Geiste eine Fülle neuer Gedanken ein. Es erübrigt nur, sie Ihnen möglichst klar und bündig darzulegen.

Wenn Sie gestatten, beginne ich mit der Erklärung, was ich unter dem Gesellschaftsvertrage versiehe. Er ist eigentlich eine stillschweigende Übereinkunft aller Staatsbürger, mit gleichem Eifer an der allgemeinen Wohlfahrt mitzuwirken. Hieraus entspringt für jeden Einzelnen die Pflicht, nach Maßgabe seiner Mittel, seiner Talente und seines Standes zum Wohl des gemeinsamen Vaterlandes beizutragen. Die Notwendigkeit der Selbsierhaltung und der eigne Vorteil wirken auf den Geist des Volkes und treiben es an, um des eignen Nutzens willen für das Wohl seiner Mitbürger zu arbeiten. Daher der Land-, Wein- und Gartenbau, die Viehzucht, die Manufakturen, der Handel; daher die vielen tapferen Vaterlandsverteidiger, die dem Staat ihre Ruhe, ihre Gesundheit und ihr ganzes Dasein weihen. Ist aber auch der Eigennutz zum Teil die Triebfeder dieser edlen Tätigkeit, so gibt es doch noch mächtigere Motive, sie zu wecken und anzuregen, besonders bei denen, die durch edlere Geburt und höhere Gesinnungen mit ihrem Vaterlande enger verknüpft sein sollen. Pflichttreue, Ehr- und Ruhmliebe sind die stärksten Triebfedern, die in wahrhaft tugendhaften Seelen wirken.

Wie kann man sich vorstellen, daß Reichtum dem Müßiggang zum Schild dienen könnte und daß man der Regierung um so weniger anhinge, je mehr man besäße? Solche irrigen Behauptungen sind unhaltbar; sie können nur aus einem ehernen Herzen, einer fühllosen, in sich verschlossenen Seele entspringen, die nichts als Eigenliebe kennt und sich nach Kräften von allen absondert, an die Pflicht, Vorteil und Ehre sie bindet. Herkules allein ist, so sehr die Sage ihn auch als Herkules darstellt, nicht furchtbar; er wird es erst, wenn seine Genossen ihm helfen und beistehen.

Aber vielleicht ermüdet Sie die abstrakte Beweisführung. Nehmen wir Beispiele zu Hilfe. Ich will Ihnen einige aus dem Altertum, besonders aus den Republiken anführen, für die Sie, wie ich bemerkt habe, besondere Vorliebe hegen. Ich mache also den Anfang mit einigen Zitaten aus den Reden des Demosthenes, die unter dem Namen „Philippika“ bekannt sind. „Man sagt, Athener, Philipp sei gestorben. Aber was liegt daran, ob er tot oder lebendig ist? Ich sage Euch, Athener, ja ich sage Euch, Ihr werdet Euch durch Eure Nachlässigkeit, Eure Trägheit und Eure Achtlosigkeit bei den wichtigsten Geschäften bald einen andren Philipp schaffen.“ Nun werden Sie wenigstens überzeugt sein, daß dieser Schriftsteller so wie ich dachte. Doch ich begnüge mich nicht mit der einen Stelle. Hier eine zweite. Demosihenes sagt vom König von Mazedonien: „Man hält es stets mit dem, bei dem man Eifer und Tätigkeit findet.“ Dann fährt er fort: „Wenn Ihr also ebenso denkt, Athener, wenigstens jetzt, denn bisher tatet Ihr es nicht, wenn Jeder von Euch, sobald es nötig sein wird und er sich nützlich machen kann, jeden schlechten Vorwand beiseite läßt und bereit ist, der Republik zu dienen, die Reichen mit ihrem Vermögen, die Jugend mit ihrem Leben, wenn jeder handeln will wie für sich selbst und sich nicht mehr darauf verläßt,<291> daß andre für ihn tätig sind, wahrend er müßig geht, so werdet Ihr mit Hilfe der Götter Eure Sache wiederherstellen und das zurückgewinnen, was Ihr durch Nachlässigkeit verloren habt.“ Noch eine andre, fast gleichlautende Stelle aus einer Rede für die Regierung: „Hört, Athener! Die öffentlichen Gelder, die in überflüssigen Ausgaben verloren gehen, sollt Ihr gleichmäßig und nutzbringend verteilen. Das heißt, die unter Euch, die im waffenfähigen Alter sind, durch Kriegsdienste, die über dies Alter hinaus sind, durch Ämter beim Gericht oder in der Verwaltung oder sonstwie. Ihr sollt selbst dienen, keinem andren diese Bürgerpflicht abtreten und selbst ein Heer bilden, das man das Volk in Waffen nennen kann. Dadurch werdet Ihr leisten, was das Vaterland von Euch fordert.“ Das verlangte Demosthenes von den athenischen Bürgern.

Ebenso dachte man in Sparta, obwohl die Regierungsform dort oligarchisch war. Der Grund dieser gleichen Gesinnung war ganz einfach: kein Staat, welche Verfassung er auch habe, kann bestehen, wenn nicht alle Bürger übereinstimmend zur Erhaltung ihres gemeinsamen Vaterlandes beitragen.

Gehen wir nun die Beispiele durch, die uns die römische Republik liefert. Ihre große Zahl bringt mich in Verlegenheit um die Auswahl. Ich will Ihnen nicht von Mucius Scävola, Decius291-1 und dem alteren Brutus291-2 reden, der das Todesurteil seines eignen Sohnes unterschrieb, um die Freiheit der Republik zu retten. Aber wie könnte ich die Hochherzigkeit des Atilius Regulus vergessen, der seinen eignen Vorteil dem der Republik opferte und nach Karthago zurückkehrte, um dort einen quälvollen Tod zu erleiden? Nach ihm kommt Scipio Africanus, der den Krieg, den Hannibal in Italien führte, nach Afrika verlegte und ihn durch einen entscheidenden Sieg über die Karthager ruhmvoll beendete. Dann erscheint Cato, der Zensor, Ämilius Paullus, der Besieger des Königs Perseus, dann Cato von Utica, der eifrige Verfechter der alten Verfassung. Soll ich Cicero vergessen, der sein Vaterland vor den Mordanschlägen Catilinas rettete, Cicero, der die sterbende Freiheit der Republik verteidigte und mit ihr unterging? Soviel vermag die Vaterlandsliebe über die energische, hochherzige Seele eines guten Bürgers. Dem von dieser glücklichen Begeisterung erfüllten Geiste erscheint nichts unmöglich; er schwingt sich rasch zum Heldentum empor. Das Andenken jener großen Männer wurde mit Lob überschüttet; alle Jahrhunderte bis auf unsre Zeit haben es nicht zu schwächen vermocht: ihre Namen werden noch heute mit Verehrung genannt. Das sind Vorbilder, würdig der Nachahmung bei allen Völkern und in allen Verfassungen. Aber das Geschlecht dieser männlichen Seelen, dieser Männer voller Nero und Tugend, scheint ausgestorben. Weichlichkeit ist an Stelle der Ruhmesliebe getreten. Müßiggang hat die Wachsamkeit ersetzt, und elender Eigennutz zerstört die Vaterlandsliebe.

<292>

Glauben Sie nicht, ich beschränke mich auf Beispiele aus den Republiken. Ich muß Ihnen auch solche aus den Annalen der Monarchien anführen. Frankreich darf sich rühmen, große Männer hervorgebracht zu haben: Bayard, Bertrand du Guesclin292-1, Kardinal d'Amboise292-2, den Herzog von Guise, der die Picardie rettete292-3, Heinrich IV., Kardinal Richelieu, Sully, kurz vorher den Kanzler L'Hôpital292-4, einen trefflichen, tugendhaften Bürger, dann Turenne, Conde, Colbert, die Marschälle von Luxemburg und Villars, kurz, eine Fülle berühmter Namen, die sich in einem Briefe nicht alle aufzählen lassen.

Wenden wir uns nun nach England und übergehen wir Alfred den Großen und eine Menge berühmter Männer aus vergangenen Jahrhunderten, um gleich auf die neuere Zeit zu kommen. Da finde ich einen Marlborough, Stanhope Ehesterfield292-5, Bolingbroke und Pitt292-6, deren Namen nie untergehen werden.

Deutschland hat im Dreißigjährigen Krieg Energie entfaltet; ein Bernhard von Weimar, ein Herzog von Braunschweig292-7 und andre Fürsten taten sich durch ihren Mut hervor, eine Landgräfin von Hessen, die Regentin des Landes292-8, bewies hohe Standhaftigkeit.

Man muß gestehen, wir leben in einem kleinen Jahrhundert; die Epochen großer und tugendhafter Geister sind vorüber. Wenn aber in jenen für die Menschheit so ruhmreichen Zeiten verdienstvolle Männer, von edlem Wetteifer getrieben, sich ihrem Vaterlande nützlich machten, warum folgen Sie dann nicht ihrem glorreichen Beispiel, Sie, der Sie gleichfalls Verdienste haben? Entsagen Sie hochherzig den abstoßenden Ausreden, die Ihnen die Trägheit einflüstert, und ist Ihr Herz nicht fühllos, so beweisen Sie durch Ihre Dienste Ihre Liebe zum Vaterland, dem Sie Dank schulden. Sie sind nicht ehrgeizig, sagen Sie. Das billige ich, aber ich tadle es, wenn Sie ohne Wetteifer sind; denn es ist eine Tugend, unsre Mitbewerber in unsrer Laufbahn in edlen Taten zu überholen. Ein Mensch, der aus Trägheit nicht handelt, gleicht einer Statue von Erz oder Marmor, die stets die gleiche Stellung bewahrt, die der Künstler ihr gab. Tätigkeit unterscheidet uns und erhebt uns über das Pflanzenreich; Müßiggang aber bringt uns ihm näher.

Doch kommen wir der Sache noch näher und greifen wir unmittelbar die Beweggründe an, mit denen Sie Ihre Nutzlosigkeit und Ihre Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wohl zu rechtfertigen wähnen. Sie fürchten sich, sagen Sie, sich für irgend ein Amt verantwortlich zu machen. Wahrhaftig, diese Entschuldigung sieht<293> Ihnen nicht an! Sie gehörte eher in den Mund eines, der seinen geringen Talenten mißtraut, sich seiner Unfähigkeit bewußt ist oder fürchtet, daß sein Mangel an Zuverlässigkeit ihn um seinen Ruf bringen möchte. Dürfen Sie so reden, Sie, ein Mann von Geist, Kenntnissen und guten Sitten? Welch schlimmes Urteil würde die Welt fällen, wenn sie solche üblen Ausreden erführe? Sie sagen ferner, jetzt wären Sie niemandem Rechenschaft über Ihr Tun und Lassen schuldig. Sind Sie denn nicht verantwortlich vor der Öffentlichkeit, deren durchdringendem Blick nichts entgeht? Sie wird Sie entweder der Trägheit oder der Fühllosigkeit zeihen, wird sagen, daß Sie Ihre Fähigkeiten brach liegen lassen, daß Sie Ihre Talente vergraben, daß Sie, gleichgültig gegen Ihre Mitmenschen, nichts als Eigenliebe kennen. Sie fügen hinzu, Sie brauchten sich nicht zu Diensten zu bequemen, da Sie reich wären. Ich gebe zu, Sie brauchen kein Tagelöhner zu sein, um Ihr Dasein zu fristen. Aber gerade weil Sie reich sind, haben Sie mehr als irgend jemand die Pflicht, Ihrem Vaterlande Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu beweisen, indem Sie ihm mit Liebe und Eifer dienen. Je weniger Sie es nötig haben, um so größer ist Ihr Verdienst. Die Leistungen der einen entspringen aus ihrer Dürftigkeit, die der andren sind unentgeltlich.

Ferner füllen Sie mir die Ohren mit alten, abgedroschenen Redensarten, daß Verdienst wenig Anerkennung und noch seltener Lohn fände, daß Sie nach langem Aufwand von Sorgen und Mühen in Ihrem Amte doch Gefahr liefen, zurückgesetzt zu werden, ja wohl gar schuldlos in Ungnade zu fallen. Hierauf wird mir die Antwort sehr leicht. Ich bin überzeugt. Sie besitzen Verdiensie: machen Sie sie bekannt! Vernehmen Sie, daß edle Taten in unsrem Jahrhundert so gut Beifall finden, wie in früheren Zeiten. Die ganze Welt stimmt in das Lob des Prinzen Eugen ein; noch heute bewundert man seine Talente, seine Tugenden und Großtaten. Als der Marschall von Sachsen den ruhmreichen Feldzug von Laveld (1747) beendet hatte293-1, bezeigte ihm ganz Paris seine Dankbarkeit. Nie vergißt Frankreich, was es dem Kriegsminster Colbert verdankt. Das Andenken dieses großen Mannes wird länger bestehen als das Louvre. England rühmt sich eines Newton, Deutschland eines Leibniz. Wollen Sie neuere Beispiele? Preußen achtet und ehrt den Namen seines Großkanzlers Cocceji, der seine Gesetze so weise erneuert hat293-2. Und was soll ich erst von so vielen großen Männern sagen, deren Verdiensten man Denkmäler auf öffentlichen Plätzen in Berlin errichtet hat293-3? Hätten diese berühmten Toten so gedacht wie Sie, die Nachwelt hätte nie von ihrem Dasein erfahren.

Sie setzen hinzu, es bewürben sich so viele um Ämter, daß es unnütz wäre, in ihre Reihen zu treten. Hier liegt der Fehler Ihrer Beweisführung. Dächte alle Welt wie Sie, so blieben notwendig alle Stellen leer und folglich alle Ämter unbesetzt.<294> Ihre Grundsätze würden also bei allgemeiner Befolgung unerträgliche Mißstände in der Gesellschaft hervorrufen. Nehmen wir schließlich an, Sie hätten treulich Ihres Amtes gewaltet und fielen durch eine schreiende Ungerechtigkeit in Ungnade. Bliebe Ihnen da nicht ein großer Trost im Zeugnis Ihres guten Gewissens, das Ihnen für alles andre Ersatz zu bieten vermag, ganz abgesehen davon, daß die öffentliche Meinung Ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließe?

Wenn Sie wollen, führe ich Ihnen eine Menge von Beispielen großer Männer an, deren Ruhm durch ihr Unglück nicht geschmälert, sondern vielmehr gesteigert wurde. Hier einige Beispiele aus Republiken. Im Kriege des Xerxes gegen die Griechen rettete Themistokles zweimal die Athener, indem er sie bewog, ihre Mauern zu verlassen, und indem er die berühmte Seeschlacht von Salamis gewann. Dann erneuerte er die Mauern seiner Vaterstadt und legte den Piräushafen an. Trotzdem ward er durch das Scherbengericht verbannt. Er ertrug sein Mißgeschick mit Seelengröße, und sein Ruf litt darunter nicht nur nicht, sondern nahm noch zu, und sein Name wird in der Geschichte oft neben denen der größten Männer genannt, die Griechenland hervorbrachte. Aristides, mit dem Beinamen der Gerechte, erfuhr fast das gleiche Schicksal. Er wurde verbannt, dann zurückgerufen, aber stets wegen seiner Weisheit geschätzt. Ja, nach seinem Tode setzten die Athener seinen unbemittelten Töchtern einJahresgehalt aus. Soll ich Sie noch an den unsterblichen Cicero erinnern, der durch Ränke verbannt wurde, nachdem er das Vaterland gerettet hatte? Soll ich Sie an all die Gewalttaten erinnern, die sein Feind Clodius gegen ihn und seine Angehörigen verübte? Trotzdem rief ihn das römische Volk einstimmig zurück. Er selbst spricht sich folgendermaßen darüber aus: „Ich wurde nicht allein zurückgerufen; meine Mitbürger trugen mich gleichsam auf ihren Schultern nach Rom zurück, und meine Heimkehr in die Vaterstadt war ein wahrer Triumph.“294-1

Unglück kann den Weisen nicht erniedrigen; denn es kann ebenso leicht gute wie schlechte Bürger treffen. Nur Verbrechen, die wir begehen, entehren uns. Also, statt Beispiele verfolgter Tugend als Zügel zu brauchen und sich durch sie abhalten zulassen, sich auszuzeichnen, lassen Sie sich lieber durch meinen Sporn dazu antreiben! Ich ermuntere Sie, Ihre Pflichten zu erfüllen, Ihre guten Eigenschaften an den Tag zu legen, durch Taten zu beweisen, daß Sie für das Vaterland ein dankbares Herz haben, kurz, die Laufbahn des Ruhmes einzuschlagen, die Sie zu betreten würdig sind. Ich verlöre Zeit und Mühe, überzeugte ich Sie nicht, daß meine Ansichten richtiger sind als die Ihren und allein einem Manne Ihrer Herkunft geziemen. Ich liebe mein Vaterland mit Herz und Seele. Meine Erziehung, mein Hab und Gut, mein Dasein — alles verdanke ich ihm. Hätte ich tausend Leben, ich würde sie alle mit Freuden opfern, wenn ich ihm dadurch einen Dienst erweisen oder meine Dankbarkeit bezeigen könnte. Mein Freund Cicero sagt in einem seiner Brefe: „Ich glaube niemals dankbar<295> genug sein zu können.“ Ich gestatte mir, wie er zu denken und zu fühlen, und ich wage zu hoffen, Sie werden nach reiflicher Erwägung aller dargelegten Gründe einer Meinung mit mir über das Verhalten eines Ehrenmannes sein und wir werden einander ermuntern, die Pflichten eines guten Bürgers zu erfüllen, der mit zärtlicher Liebe an seinem Vaterland hängt und von patriotischem Eifer erglüht.

Sie haben mir Einwendungen gemacht, die ich widerlegen mußte. Ich war außerstande, so viele Dinge in weniger Worte zu fassen. Finden Sie meinen Brief zu lang, so bitte ich um Entschuldigung. Sie werden mir hoffentlich Verzeihung gewähren in Anbetracht der aufrichtigen Freundschaft, mit der ich bin usw.

7. Brief des Anapistemon

Ich muß gestehen, lieber Freund, daß Sie mir stark zusetzen. Nicht die geringste Kleinigkeit lassen Sie mir durchgehen. Zur Zerstörung einiger kleiner Schlußfolgerungen, die ich nach Kräften zu verteidigen suche, fahren Sie schweres Geschütz auf, das in meine armen Beweisgründe Bresche schießt, und stellen das Feuer nicht eher ein, als bis meine zerstörten und eingestürzten Verteidigungswerke Ihnen kein Ziel mehr bieten. Ja, Sie haben es beschlossen, ich soll mit aller Gewalt mein Vaterland lieben, ihm dienen und anhängen, und Sie bedrängen mich derart, daß ich fast nicht mehr weiß, wie ich Ihnen entkommen soll.

Indes hat man mir von irgend einem Enzyklopädisten erzählt, nach dessen Worten die Erde der gemeinsame Wohnsitz aller Menschen ist und der Weise ein Weltbürger, der sich überall wohl befindet295-1. Vor einiger Zeit hörte ich einen Gelehrten dies Thema erörtern. Alles, was er sagte, nahm mein Geist mit solcher Leichtigkeit auf, als hätte ich es selber gedacht. Diese Ideen erhoben meine Seele. Meine Eitelkeit gefiel sich in dem Gedanken, daß ich mich nicht mehr als unbekannten Untertan eines kleinen Staates, sondern fortan als Weltbürger betrachten könnte. Ich wurde alsbald Chinese, Engländer, Türke, Franzose und Grieche, wie es meiner Laune gefiel. Ich versetzte mich im Geiste bald in das eine, bald in das andre Volk und verweilte bei dem, das mir am meisten zusagte.

Aber mir ist, als hörte ich Sie schon. Sie möchten auch diesen holden Traum zerstören. Er ist leicht zu verscheuchen, allein was gewinne ich dabei? Ist schöner Trug nicht besser als traurige Wahrheiten, die uns anwidern? Ich weiß, wie schwer man Sie von Ihren Meinungen abbringt. Sie wurzeln in so festen Gründen,<296> sind durch so viele Beweise in Ihrem Geiste verankert, daß ich umsonst versuchen würde, sie zu entwurzeln. Ihr Leben ist eine beständige Betrachtung; das meine stießt sanft dahin. Ich begnüge mich mit dem Genießen, überlasse das Nachdenken andren und bin zufrieden, wenn es mir gelingt, mich zu unterhalten und zu zerstreuen. Eben dadurch haben Sie soviel vor mir voraus, besonders bei der Erörterung schwieriger Fragen, die viele Gedankenverknüpfungen erfordern. Ich bin also darauf gefaßt, daß Sie mit Ihrem ganzen Rüstzeug gegen meine letzten Verschanzungen vorgehen werden. Ich sehe voraus, daß ich mein Unabhängigkeitssystem werde aufgeben müssen, in dem ich mich so bequem eingerichtet hatte. Ihre zwingenden Beweise werden mich nötigen, einen neuen Lebensplan zu entwerfen, der besser als der bisher von mir verfolgte den Pflichten meines Standes entspricht.

Allein es entstehen immerfort neue Zweifel in meinem Geiste. Sie sind der Arzt, dem ich die Leiden meiner Seele anvertraue; Ihr Amt ist es, sie zu heilen. Sie sprachen mir von einem Gesellschaftsvertrag; niemand hat mich davon unterrichtet. Wenn dieser Vertrag besieht, ich habe ihn nicht unterschrieben. Nach Ihrer Ansicht habe ich Pflichten gegen die Gesellschaft; ich weiß nichts davon. Ich soll eine Schuld abzutragen haben: an wen? An das Vaterland. Für welches Kapital? Ich ahne es nicht. Wer hat mir dies Kapital geliehen? Wann? Wo ist es? Indes gebe ich Ihnen zu, wenn alle Welt müßig ginge und nichts täte, müßte unser Geschlecht notwendig zugrunde gehen. Allein das ist nicht zu befürchten; denn die Not zwingt den Armen zur Arbeit, und es hat nichts weiter auf sich, wenn ein Reicher sich ihr entzieht. Nach Ihren Grundsätzen wäre in der Gesellschaft alles tätig, jeder handelte, jeder arbeitete. Ein solcher Staat gliche einem Bienenkorbe, wo jede Biene ihre Beschäftigung hat. Die eine gewinnt den Saft aus den Blumen, die andre knetet Wachs in den Zellen, eine dritte dient der Fortpflanzung der Art, und es gibt keine unsühnbare Sünde außer dem Müßiggang.

Sie sehen, ich gehe ehrlich zu Werke. Ich verhehle Ihnen nichts, ich gestehe Ihnen alle meine Zweifel. Es fällt mir schwer, mich so rasch von meinen Vorurteilen zu trennen, wenn es welche sind. Die Gewohnheit, die Tyrannin der Menschen, hat mir eine gewisse Lebensart beigebracht, an der ich hänge. Vielleicht müßte ich mich erst mit den neuen Ideen vertrauter machen, die Sie mir darlegen. Ich gestehe, mir widerstrebt es noch etwas, mich unter das Joch zu beugen, das Sie mir aufbürden wollen. Der Verzicht auf meine Ruhe, die Überwindung meiner Trägheit kostet mir schwere Anstrengungen. Die unaufhörliche Beschäftigung mit fremden Angelegenheiten, die Plackerei um das öffentliche Wohl schreckt mich ab. Aristides, Themistokles, Cicero und Regulus sind freilich Beispiele von Seelengröße und Hochherzigkeit, die die Welt anerkannt hat. Aber wieviel Mühe ist nötig, um ein wenig Ruhm zu erkaufen! Man erzählt, Alexander der Große habe nach einem seiner Siege ausgerufen: „O Athener, wenn Ihr wüßtet, was es kostet, von Euch gelobt zu werden!“296-1

<297>

Sie werden mir diese Betrachtungen nicht hingehen lassen, werden sie zu weichlich und weibisch finden. Sie verlangen eine Regierung, in der alle Bürger nur Nerv und Energie sind, alle nur Tatkraft zeigen. Ich glaube, Sie dulden Ruhe nur bei Schwachsinnigen, Kranken, Blinden und Greisen. Da ich zu diesen nicht gehöre, so bin ich auf meine Verdammung gefaßt.

Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß der Gegenstand, den wir erörtern, weit umfangreicher ist, als ich mir gedacht hatte. Wie viele ineinander verschlungene Zweige, wie unendlich viele Verknüpfungen sind nötig, um einen so vielgliedrigen Körper wie eine regelrechte Regierung zu bilden! Bücher gibt es nur wenige über dies Thema, und die sind auch noch von tätlicher Pedanterie. Sie haben alles ergründet und machen mir Ihre Kenntnisse zugänglich. Ihnen verdanke ich es, daß Sie mich bis auf die angedeuteten Schwierigkeiten belehrt haben. Fahren Sie bitte fort, wie Sie angefangen haben. Ich betrachte Sie als meinen Lehrer und rechne es mir zur Ehre an, Ihr Schüler zu sein.

Die Beziehungen der Bürger zueinander, die verschiedenen gesellschaftlichen Bande, die Forderungen unsrer Pfiichten — all diese Gedanken kochen und gären unaufhörlich in meinem Kopfe. Ich denke an fast weiter nichts mehr. Begegne ich einem Landmann, so segne ich ihn für die Beschwerden, die er erträgt, um mich zu ernähren. Sehe ich einen Schuhmacher, so danke ich ihm im Herzen für die Mühe, die er sich gibt, mir Schuhe zu machen. Geht ein Soldat vorüber, so bete ich für den tapferen Vaterlandsverteidiger. Sie haben mein Herz mitfühlend gemacht. Nun schließe ich alle meine Mitbürger dankerfüllt hinein, besonders aber Sie, der mir die Natur meiner Pfiichten erklärt und mir dadurch ein neues Vergnügen verschafft hat. Sie haben gesprochen, und die Nächstenliebe erfüllt meine Seele mit einem göttlichen Gefühl. Ich bin mit der größten Hochachtung und der vollkommensten Dankbarkeit Ihr usw.

8. Brief des Philopatros

Nein, lieber Freund, ich bekriege Sie nicht, ich ehre und achte Sie. Ich trenne Ihre Person von dem Gegenstand, der uns beschäftigt, und greife lediglich die Vorurteile und Irrtümer an, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen würden, gäben die Freunde der Wahrheit sich nicht die Mühe, sie zu enthüllen und der Welt die Augen zu öffnen. Ich sehe mit größter Genugtuung, daß Sie sich mit einigen meiner Meinungen vertraut zu machen beginnen. Mein System zielt einzig und allein auf das Allgemeinwohl ab; es will die Bande zwischen den Bürgern nur enger knüpfen, um sie dauerhafter zu machen. Ihr wohlverstandener Vorteil soll<298> einen wie den andren dazu anspornen, ihrem Vaterlande aufrichtig zu dienen. Sie sollen mit gleichem Eifer zum Wohle der Gesellschaft beitragen; denn je mehr sie daran arbeiten, um so besser gelingt es ihnen.

Bevor ich aber in dem fortfahre, was ich Ihnen noch zu sagen habe, muß ich erst eine neue Schwierigkeit beseitigen, die Sie über den Gegenstand unsrer Erörterung erheben.

Sie sagen, Sie wüßten nicht, worin der Gesellschaftsvertrag besiehe. Hören Sie: er entstand durch das gegenseitige HUfsbedürfnis der Menschen. Da aber keine Gemeinschaft ohne Tugend und gute Sitten bestehen kann, so mußte jeder Bürger einen Teil seines Eigennutzes dem seiner Nächsien opfern. Daraus folgt: wenn Sie nicht betrogen werden wollen, dürfen Sie selbst nicht betrügen. Wollen Sie nicht bestohlen werden, so müssen Sie selbst nicht stehlen. Verlangen Sie Hilfe in der Not, so müssen Sie selbst stets hilfsbereit sein. Wollen Sie nicht, daß jemand unnütz sei, so arbeiten Sie selbst. Soll der Staat Sie verteidigen, so tragen Sie mit Ihrem Gelde dazu bei, besser noch, durch Ihre eigne Person. Wünschen Sie die öffentliche Sicherheit, so gefährden Sie sie selbst nicht. Soll Ihr Vaterland gedeihen, so ermannen Sie sich und dienen Sie ihm mit allen Kräften!

Sie sagen ferner, niemand habe Sie über den Gesellschaftsoertrag belehrt. Das ist die Schuld Ihrer Eltern und Erzieher, die einen so wichtigen Gegenstand nicht hätten außer acht lassen dürfen. Hätten Sie jedoch nur ein wenig nachgedacht, so hätten Sie ihn leicht selbst erraten.

Sie sagen weiter: Ich weiß nicht, welche Schuld ich der Gesellschaft abzutragen habe, noch wo das Kapital ist, dessen Zinsen sie fordert. Das Kapital sind Sie, Ihre Erziehung, Ihre Eltern, Ihr Vermögen. Dies Kapital ist in Ihrem Besitz. Die Zinsen, die Sie entrichten sollen, sind, daß Sie Ihr Vaterland wie Ihre Mutter lieben und ihm Ihre Talente weihen. Indem Sie sich nützlich machen, zahlen Sie alles heim, was das Vaterland von Ihnen zu fordern das Recht hat. Ich setze hinzu: es ist gleichgültig, welche Regierungsform Ihr Vaterland hat. Alle Verfassungen sind Menschenwerk, und vollkommen ist keine. Ihre Pflichten bleiben also die gleichen; ob Monarchie oder Republik, ist einerlei.

Gehen wir weiter. Wie ich mich erinnere, erwähnt Ihr Brief den Ausspruch eines Enzyklopädisten, den man Ihnen berichtet hat. Seit einigen Jahren werden wir von solchen Werken überschwemmt. Man findet darin eine kleine Anzahl guter Dinge und einige wenige Wahrheiten; der Rest scheint mir ein Haufen von Aberwitzigkeiten und leichtfertig vorgebrachten Ideen, die man erst hätte prüfen und verbessern müssen, ehe man sie dem Urteil der Öffentlichkeit unterbreitete. In gewissem Sinne trifft es zu, daß die Erde der Wohnsitz der Menschen ist, wie die Luft den Vögeln, das Wasser den Fischen gehört und das Feuer den Salamandern — wenn es welche gäbe. Aber es verlohnte sich nicht, einen solchen Gemeinplatz mit so großer Emphase zu verkünden.

<299>

Sie sagen ferner, nach den Enzyklopädisten sei der Weise ein Weltbürger. Zugegeben, wenn der Verfasser damit meint, alle Menschen seien Brüder und müßten einander lieben. Aber ich höre auf, seine Meinung zu teilen, wenn es seine Absicht ist, Landstreicher heranzubilden, Menschen, die an nichts hängen, die aus Langeweile die Welt durchstreifen, aus Not Spitzbuben werden und schließlich hier oder dort für ihr zügelloses Leben bestraft werden. Dergleichen Ideen finden leicht Aufnahme und setzen sich in leichtfertigen Köpfen fest. Ihre Folgen sind dem Wohl der Gesellschaft stets zuwider. Sie führen zur Auflösung des gesellschaftlichen Verbandes; denn sie entwurzeln im Herzen der Bürger unmerklich den Eifer und die Anhänglichkeit, die sie ihrem Vaterlande schulden.

Dieselben Enzyklopädisten haben sogar die Vaterlandsliebe, zu der das Altertum uns so sehr mahnt und die jederzeit die Quelle der edelsten Handlungen war, so lächerlich gemacht, wie sie konnten. Über diesen Gegenstand urteilen sie ebenso kläglich, wie über viele andre. Sie dozieren, es gäbe kein Ding, das sich Vaterland nennt. Das sei der hohle Begriff irgend eines Gesetzgebers, der das Wort geschaffen habe, um die Bürger zu regieren. Was aber in Wirklichkeit nicht vorhanden sei, könne unsre Liebe nicht verdienen. Das nenne ich eine erbärmliche Beweisführung! Sie machen keinen Unterschied zwischen dem, was die Schulweisheit ens per se und ens per aggregationem nennt. Das eine bedeutet ein einzelnes Ding für sich, wie Mensch, Pferd, Elefant; das andre faßt mehrere zu einem Ganzen zusammen, z. B. die Stadt Paris, worunter man ihre Einwohner versieht, ein Heer, das heißt eine Menge Soldaten, ein Reich, das heißt eine zahlreiche Gesellschaft von Menschen. So heißt das Land, in dem wir zur Welt kamen, das Vaterland. Es ist also wirklich vorhanden und kein abstraktes Wesen. Es besieht aus einer Menge von Bürgern, die im selben Gesellschaftsverbande, unter den gleichen Gesetzen und Sitten leben. Da unsre Interessen mit den ihren eng verknüpft sind, schulden wir ihm Anhänglichkeit, Liebe und Dienstleistungen. Was könnten diese lauen und schlaffen Seelen antworten, was könnten alle Enzyklopädisten der Welt erwidern, wenn das Vaterland plötzlich in Person vor sie träte und sie etwa so anredete:

„Ihr entarteten, undankbaren Kinder, denen ich das Leben gab, werdet Ihr denn stets fühllos gegen die Wohltaten sein, mit denen ich Euch überhäufe? Woher stammen Eure Voreltern? Ich habe sie erzeugt. Woher nahmen sie ihre Nahrung? Aus meiner unerschöpflichen Fruchtbarkeit. Ihre Erziehung? Sie verdanken sie mir. Ihr Hab und Gut? Mein Boden hat sie geliefert. Ihr selbst seid meinem Schoß entsprossen. Kurz, Ihr, Eure Eltern, Eure Freunde, alles, was Euch aus Erden teuer ist — ich gab ihm das Dasein. Meine Gerichtshöfe schützen Euch vor Unbill, verteidigen Eure Rechte, verbürgen Euer Eigentum. Meine Polizei wacht über Eure Sicherheit. Ihr zieht durch Land und Stadt ebenso sicher vor dem Überfall von Räubern wie vor dem Dolche der Mörder. Meine Truppen schützen Euch vor den Gewalttaten, der Raubgier und den Einfällen unsrer gemeinsamen Feinde. Ich befriedige nicht nur<300> Eure unmittelbarsten Bedürfnisse, sondern verschaffe Euch auch alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens. Wollt Ihr Euch unterrichten, so findet Ihr Lehrer aller Art. Wollt Ihr Euch nützlich machen, so harren Eurer die Ämter. Seid Ihr krank oder unglücklich, so hält meine Zärtlichkeit Hilfe für Euch in Bereitschaft. Und für alle die Wohltaten, die ich Euch täglich spende, verlange ich von Euch keinen andren Dank, als daß Ihr Eure Mitbürger von Herzen liebt und mit aufrichtiger Hingabe für alles eintretet, was ihnen ersprießlich ist. Sie sind meine Glieder, sie sind ich selbst. Ihr könnt sie nicht lieben, ohne Euer Vaterland zu lieben. Aber Eure verhärteten und ungeselligen Herzen wissen meine Wohltaten nicht zu schätzen. Ein zügelloser Wahn hat Eure Sinne umwölkt und lenkt Euch. Ihr wollt Euch von der Gesellschaft trennen, Euch absondern, alle Bande zerreißen, die Euch an mich fesseln sollen. Wo das Vaterland alles für Euch tut, wollt Ihr nichts für das Vaterland tun. Ihr seid widerspenstig gegen alle meine Liebesmühe, taub gegen alle meine Vorstellungen. Kann denn nichts Euer ehernes Herz beugen und erweichen? Geht in Euch! Laßt Euch durch den Vorteil Eurer Verwandten, Euer eignes wahres Interesse rühren! Möge Pflicht und Dankbarkeit sich dazugesellen und mögt Ihr fortan so gegen mich verfahren, wie Tugend und der Sinn für Ehre und Ruhm es von Euch fordern.“

Ich für mein Teil würde dem Vaterlande mit diesen Worten entgegeneilen: „Mein Herz ist von Liebe und Dankbarkeit durchdrungen. Ich brauchte Dich nicht zu sehen und zu hören, um Dich zu lieben! Ja, ich gestehe, daß ich Dir alles verdanke. Darum hänge ich zärtlich und unlöslich an Dir. Meine Liebe und Dankbarkeit werden erst mit meinem Tode enden. Mein Leben selbst ist Dein Eigentum. Wenn Du es zurückforderst, werde ich es Dir mit Freuden opfern. Für Dich sterben, heißt ewig im Gedächtnis der Menschen leben. Ich kann Dir nicht dienen, ohne mich mit Ruhm zu bedecken!“

Verzeihen Sie, lieber Freund, die Begeisterung, zu der mich der Eifer hinreißt. Sie sehen meine Seele unverhüllt. Wie könnte ich Ihnen auch verbergen, was ich so lebhaft fühle? Wägen Sie meine Worte, prüfen Sie alles, was ich Ihnen gesagt habe, und ich glaube, Sie werden mir zustimmen, daß nichts verständiger und tugendhafter ist als die echte Vaterlandsliebe. Lassen wir die Schwachsinnigen und Blinden aus dem Spiel: ihre Ohnmacht springt in die Augen. Was die Greise und Kranken betrifft, so können sie für das Wohl der Gesellschaft zwar nicht wirken, müssen aber für ihr Vaterland doch die gleiche zärtliche Anhänglichkeit hegen, wie Söhne für ihre Väter, an seinem Glück und Unglück teilnehmen und wenigstens für sein Wohl beten. Haben wir schon als Menschen die Pflicht, jedermann Gutes zu tun, so sind wir als Bürger erst recht gehalten, unsren Landsleuten nach besten Kräften beizustehen. Sie sind uns näher als fremde Völker, von denen wir keine oder nur geringe Kenntnis haben. Wir leben mit unsren Landsleuten. Unsre Sitten, Gesetze und Bräuche sind die gleichen. Wir atmen nicht nur die gleiche Luft, sondern teilen mit ihnen auch Glück und Unglück. Kann das Vaterland das Opfer unsres<301> Lebens von uns fordern, so kann es erst recht verlangen, daß wir uns ihm durch unsre Dienste nützlich machen: der Gelehrte durch Unterricht, der Philosoph durch Enthüllung der Wahrheit, der Finanzmann durch treue Verwaltung der Einkünfte, der Jurist, indem er der Sache die Form zum Opfer bringt, der Soldat, indem er sein Vaterland eifrig und tapfer verteidigt, der Staatsmann durch kluges Komdinieren und richtiges Schlußfolgern, der Geistliche durch Predigen der reinen Sittenlehre, der Landmann, der Handwerker, der Fabrikant, der Kaufmann durch Vervollkommnung des erwählten Berufes. Jeder Bürger, der so denkt, arbeitet für das Allgemeinwohl. Diese verschiedenen Zweige vereint und auf das gleiche Ziel gerichtet, bringen das Gedeihen der Staaten, ihr Glück, ihre Dauer und ihren Ruhm hervor. Das, lieber Freund, hat mein Herz mir in die Feder diktiert. Ich habe nicht wie ein Professor über diesen Gegenstand geschrieben; denn ich habe nicht die Ehre, ein Gelehrter zu sein, und unterhalte mich mit Ihnen einzig und allein, um Ihnen auseinanderzusetzen, was ich unter den Pflichten eines redlichen und treuen Bürgers gegen sein Vaterland versiehe. Diese flüchtige Skizze genügt für Sie, da Sie die Dinge rasch erfassen und durchdringen. Ich versichere Ihnen, ich hätte nicht so viel Papier bekritzelt, ohne die Absicht, Ihnen gefällig und dienstbar zu sein. Ich bin mit aufrichtiger Zuneigung usw.

9. Brief des Anapistemon

Ihr letzter Brief, lieber Freund, bringt mich zum Schweigen; ich bin gezwungen, mich zu ergeben. Von nun an schwöre ich meine Trägheit und Gleichgültigkeit ab. Ich entsage den Enzyklopädisten wie der Lehre Epikurs und weihe alle Tage meines Daseins dem Vaterlande. Ich will künftig Bürger sein und Ihrem löblichen Vorbild in allen Stücken folgen. Meine Fehler gestehe ich Ihnen offen ein. Ich habe mich mit unbestimmten Begriffen begnügt, habe über den Gegenstand nicht genügend nachgedacht und ihn nicht reiflich erwogen. Meine sträfliche Unwissenheit hat mich bisher an der Erfüllung meiner Pflichten gehindert. Sie leuchten mir mit der Fackel der Wahrheit ins Gesicht, und meine Irrtümer verschwinden. Ich will die verlorene Zeit nachholen, indem ich jeden durch meinen Eifer für das allgemeine Wohl übertreffe. Zum Vorbild nehme ich mir die größten Männer des Altertums, die sich im Dienste des Vaterlands ausgezeichnet haben, und nie werde ich vergessen, daß Ihr tugendsiarker Arm es war, der mir die Laufbahn erschloß, in der ich Ihren Schritten folge. Wie und wodurch könnte ich Ihnen meinen Dank für alles heimzahlen, was ich Ihnen schulde? Seien Sie wenigstens versichert, wenn etwas die Gefühle der Hochschätzung und Freundschaft, die ich für Sie hege, übertreffen kann, so ist es meine tiefe Dankbarkeit, mit der ich zeitlebens bin usw.

<302>

10. Brief des Philopatros

Sie überschütten mich mit Freude, lieber Freund! Ihr letzter Brief versetzt mich in Entzücken. Ich habe nie gezweifelt, daß eine so redliche Seele wie die Ihre der rechte Boden sei, um den Samen aller Tugenden aufzunehmen. Ich bin gewiß, das Vaterland wird die reichsten Ernten einsammeln. Die Natur hatte alles in Sie gelegt; Ihre Gefühle mußten nur aufkeimen. Wenn ich dazu beitragen durfte, bin ich stolz; denn die Bereicherung des Vaterlandes um einen guten Bürger ist mehr wert als eine Erweiterung seiner Grenzen. Ich bin usw.

<303>

Anhang

<304><305>

1. Zur Abhandlung „Über die deutsche Literatur“305-1

Kronprinz Friedrich an Voltaire
(6. Juli 1737)

Das Wiederaufleben der Wissenschaften danken wir den Franzosen. Blutige Kriege, die Heraufkunft des Christentums und häufige Barbareneinfälle hatten den Künsten, die aus Hellas nach Italien geflohen waren, einen tötlichen Schlag versetzt. Noch verstrichen Jahrhunderte voller Unwissenheit, bis endlich die Fackel von den Franzosen neu entzündet wurde. Sie entfernten das Dorngestrüpp von dem Wege des Ruhmes, den man durch die Pflege der schönen Literatur beschreitet und der bis dahin völlig ungangbar war. Ist es da nicht recht und billig, wenn die andren Völker Frankreich dankbar bleiben für den Dienst, den es ganz Europa geleistet hat? Schulden wir nicht gleichen Dank denen, die uns das Leben schenken, wie denen, die uns die Mittel geben, uns zu bilden?

Den Deutschen fehlt es nicht an Geist. Der gesunde Menschenverstand ist ihr Erbteil; ihr Charakter kommt dem englischen ziemlich nahe. Die Deutschen sind fleißig und tief. Haben sie mal einen Gegenstand ergriffen, so erschöpfen sie ihn gründlich. Ihre Bücher sind von erdrückender Weitschweifigkeit. Könnte man ihnen ihre Schwerfälligkeit abgewöhnen und sie etwas mehr mit den Grazien befreunden, ich würde nicht daran verzweifeln, daß meine Nation große Männer hervorbringt.

Trotzdem wird es stets ein Hindernis für die Entstehung guter Bücher in unsrer Sprache geben, nämlich den Umstand, daß der Wortgebrauch nicht feststeht305-2. Da Deutschland in eine Unzahl von Staaten zerfällt, wird man ihre Herrscher nie dazu bewegen, sich den Entscheidungen einer Akademie zu unterwerfen. Unsren Gelehrten bleibt also nichts andres übrig, als in fremden Sprachen zu schreiben, und bei der großen Schwierigkeit ihrer völligen Beherrschung sieht sehr zu befürchten, daß unsre Literatur nie große Fortschritte machen wird.

<306>

Nicht geringer ist eine zweite Schwierigkeit: die Fürsten verachten die Gelehrten insgemein. Ihre nachlässige Kleidung, mit Bibliothekssiaub bedeckt, und das Miß, Verhältnis zwischen einem mit guten Kenntnissen ausgestatteten Him und dem leeren Schädel der hohen Herrschaften führt dahin, daß diese sich über das Äußere der Gelehrten lustig machen, während die bedeutende Persönlichkeit ihnen entgeht. Für die Höflinge ist die Meinung der Fürsten zu sehr Gesetz, als daß sie anders zu denken wagten, und so verachten sie gleichfalls die Leute, die tausendmal mehr wert sind als sie. O tempora, o mores

Der König an die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth
(16. November 1746)

Ich glaube, Du bist jetzt in Bayreuth im Mittelpunkt der Künste und Vergnügungen. Auch hier haben wir einige. Aber ich bin weit entfernt zu glauben, daß die Künste in Frankreich dahinsiechen. Dort finden sie mehr Ermunterung als im ganzen übrigen Europa. Zur Hochzeit des Dauphins306-1 sind in Paris zwanzig neue Komödien und Tragödien geschrieben worden, wogegen wir in Deutschland keine einzige haben. Wir kommen eben erst aus der Barbarei heraus, und die Künste liegen noch in den Windeln, aber die Franzosen haben schon ein Stück Wegs zurückgelegt und sind uns vor allem in jeder Art von Erfolg um ein Jahrhundert voraus. Ich habe in Berlin einen geschickten Kupferstecher306-2 der schöne Pasiellbilder malt. Ich werde mir erlauben, Dir eins zu schicken, um zu sehen, ob es Dich befriedigt. Aus Paris erwarte ich Maler und BUdhauer für die Akademie; sie sind noch nicht angelangt, und die Maler sind nur Historienmaler. Wir haben einen vorzüglichen Dekorationskünstler namens Bellavita306-3 bekommen und erwarten noch die Astrua306-4, eine ausgezeichnete Sängerin. Das sind lauter Ausländer. Wenn sie bei uns keine Schule machen, wird es sein wie in Frankreich zur Zeit Franz' I. Der ließ Künstler aus Italien kommen, aber sie zeitigten keine Früchte.

<307>

Der König an d'Alembert
(28. Januar 1773)

Ihre Bestimmung zu meinem Urteil über den Patriarchen von Ferney war mir sehr schmeichelhaft. Die aufgeklärte Nachwelt wird die Franzosen um diesen Wundermann beneiden und sie schelten, daß sie seinen Wert nicht genug erkannt haben.

Solche Genies bringt die Natur nur in weiten Abständen hervor. Die griechische Antike bietet uns Homer, den Vater der epischen Dichtung, Aristoteles, der, wenn auch hier und da dunkel, universelles Wissen besaß, Epikur, der eines Dolmetschers wie Newton bedurfte, um voll gewürdigt zu werden. Die Lateiner gaben uns Cicero, der ebenso beredt war wie Demosthcnes und viel mehr Wissensgebiete umfaßte, Virgil, den ich für den größten Dichter halte. Dann klafft eine weite Lücke bis zu Bayle, Leibniz, Newton und Voltaire; denn eine Unzahl von Schöngeistern und talentvollen Leuten gehört nicht in diese höchste Klasse. Vielleicht bedarf es einer Kraftansirengung der Natur, um so erhabne Geister zu gebären; vielleicht sind viele durch die Zufälle der Geburt erstickt und durch das Spiel des Schicksals ihrer Besiimmung entfremdet. Vielleicht gibt es auch für den Geist unfruchtbare Jahre, genau wie für das Getreide und den Weinbau. Wie Sie sagen, spürt man diese Sterilität in Frankreich. Man sieht Talente, aber wenige Genies. Diese Sterilität wird zwar auch von den Nachbarn bemerkt, aber sie sind darum nicht besser dran. England und Italien versiegen. Ein Hume, ein Metastasio307-1 halten keinen Vergleich mit Bolingbroke noch gar mit Ariost aus.

Unsre biedren Deutschen haben zwanzig Mundarten und keine Sprache mit festen Regeln307-2. Das Fehlen dieses wesentlichen Werkzeuges schadet der Pflege der schönen Literatur. Der Sinn für gesunde Kritik ist bei ihnen noch nicht recht heimisch. Ich suche die Schulen in diesem so wesentlichen Zweig der humanistischen Studien zu verbessern, aber vielleicht bin ich ein Einäugiger, der Blinden den Weg weisen will. In den Wissenschaften fehlt es uns weder an Physikern noch an Mechanikern, aber für die Mathematik ist noch wenig Sinn vorhanden. Umsonst sage ich meinen Landsleuten, Leibniz brauche Nachfolger: er findet keine. Wenn Genies zur Welt kommen, wird sich das alles geben. Diesen Glücksfall haben Sie, glaube ich, nicht in Rechnung gesetzt307-3. Man muß abwarten, bis die Natur, die sich keine Vorschriften machen läßt, von selbst handelt. Wir armen Geschöpfe können weder Anstrengungen von ihr fordern noch den Maßregeln vorgreifen, die sie zu treffen gedenkt, um die so<308> erwünschten großen Geister hervorzubringen. Es gibt zwar noch Gelehrte, aber was glauben Sie: ich muß das Studium des Griechischen aufmuntern; denn ohne meine Bemühungen ginge die Kenntnis dieser Sprache ganz verloren308-1.

Sie werden aus meiner ehrlichen Darlegung selbst sehen, daß Ihr Vaterland noch nicht zu fürchten hat, von den andren Völkern überflügelt zu werden. Ich für mein Teil danke dem Himmel, daß ich noch in der guten Zeit zur Welt kam. Ich habe die letzten Zeiten dieses für den menschlichen Geist ewig denkwürdigen Jahrhunderts gesehen. Heute verfällt alles, aber die nächste Generation wird noch schlechter sein als die unsre. Anscheinend wird es immer weiter bergab gehen, bis eines Tages ein großes Genie auftritt, das die Welt aus ihrer Erstarrung aufrüttelt und ihr den stimulus wiedergibt, der sie zu allem antreibt, was für die ganze Menschheit schätzbar und nützlich ist.

Unterredung des Königs mit dem österreichischen Gesandten Freiherrn Gottfried van Swieten
(23. Juli 1774)

Swieten berichtet an Fürst Kaunitz am 26. Juli 1774 über eine Audienz bei König Friedrich: „Wir sprachen auch über die deutsche Literatur. Der König fängt an, eine gute Meinung davon zu bekommen, und sieht große Fortschritte voraus. Er zitierte die Fabeln von Gellert, die er mit denen von Äsop und La Fontaine verglich308-2. Ich erwähnte Geßner, den er nicht kennt308-3. Auch Klopstock passierte Revue, aber der König fand ihn — mit Recht — zu schwülstig, obgleich ich zweifle, daß er ihn gelesen hat. Die Form der Hexameter, die Klopsiock angewandt hat, führte uns darauf, die deutsche Sprache zu loben, weil sie feste Versmaße hat308-4. Hierbei erzählte mir der König, Gottsched habe ihm einst, als er ihn in Leipzig sah308-5, einen Begriff von jenem Rhythmus geben wollen. Der Pedant hätte ihm mit dröhnender Stimme vordeklamiert: ,Der Donner, das Wetter, der Hagel/ Dabei suchte er Gottscheds Sprache und Betonung nachzuahmen. Der König sprach so laut, daß ich unwillkürlich lächeln mußte bei dem Gedanken, daß die Leute im Nebenzimmer glauben könnten, er wäre sehr böse, da sie ihn so grimmig fluchen hörten.“

<309>

Der König an Voltaire
(28. Dezember 1774)

Die Zeitalter, wo die Völker einen Turenne, Conde, Colbert, Bossuet, Bayle und Corneille hervorbringen, folgen nicht dicht aufeinander. Von solcher Fruchtbarkeit war die Zeit des Perikles, des Cicero, Ludwigs XIV. Zu derartigem Aufschwung müssen die Geister durch alles vorbereitet werden. Er ist gewissermaßen eine Kraftanstrengung der Natur, eine Vergeudung ihrer Fruchtbarkeit wie ihres Überflusses, von der sie sich wieder erholen muß. Kein Herrscher kann zur Heraufkunft einer so glänzenden Epoche etwas beitragen. Die Natur selbst muß den Genies ihren Platz in der Welt derart anweisen, daß sie ihre Begabung in ihrer Lebensstellung auswirken können. Oft stehen sie am verkehrten Fleck, und ihr Same erstickt und bleibt fruchtlos.

Der König an Voltaire
(24. Juli 1775)

Die Deutschen haben den Ehrgeiz, auch ihrerseits die Segnungen der schönen Künste zu genießen. Sie streben danach, Athen, Rom, Florenz und Paris gleichzukommen. Bei aller Vaterlandsliebe wage ich doch nicht zu behaupten, daß es ihnen bisher gelingt. Zweierlei fehlt: die Sprache309-1 und der Geschmack. Die Sprache krankt am Wortschwall. Die vornehme Welt spricht Französisch, und die paar Schulfüchse und Professoren vermögen ihrer Muttersprache nicht die Glatte und die leichte Beweglichkeit zu geben, die sie nur in der guten Gesellschaft erwerben kann. Dazu kommt die Verschiedenheit der Mundarten. Jede Provinz behauptet die ihre, und bisher hat keine den Vorrang erlangt. An Geschmack fehlt es den Deutschen in allem. Die Nachahmung der Schriftsteller des Augusteischen Zeitalters ist ihnen noch nicht gelungen. Ihr Geschmack ist ein Mischmasch von römischem, englischem, französischem und deutschem Geschmack. Noch fehlt ihnen das kritische Urteil, das uns das Schöne ergreifen heißt, wo es sich findet, und uns zwischen dem Mittelmäßigen und Vollkommenen, dem Edlen und Erhabenen unterscheiden lehrt, um jedes an den rechten Fleck zu setzen. Kommt nur das Wort Gold recht oft in ihrer Poesie vor, so halten sie ihre Verse für<310> wohllautend. Gewöhnlich ist es aber nichts als ein schwülstiges Geschreibsel. In der Geschichte würden sie nicht die geringfügigste Kleinigkeit auslassen, selbst wenn sie ganz nutzlos wäre. Am besten sind ihre Schriften über das Völkerrecht. Mit Philosophie hat sich seit dem genialen Leibniz und der dicken Monade Wolff310-1 niemand mehr befaßt. Sie bilden sich ein, gute Theaterstücke zu haben, aber bisher ist nichts Vollkommenes erschienen.

Deutschland sieht heute auf der gleichen Stufe wie Frankreich unter Franz I. Der Kunstgeschmack beginnt sich zu verbreiten. Man muß abwarten, bis die Natur wirkliche Genies hervorbringt, wie unter Richelieus und Mazarins Regierung. Der Boden, der einen Leibniz hervorbrachte, kann auch andre erzeugen.

Diese schönen Tage meines Vaterlandes werde ich nicht mehr erleben, aber daß sie kommen können, sehe ich voraus. Sie werden mir sagen, das ließe Sie völlig kalt und ich spielte ganz nach Lust und Laune den Propheten, indem ich den Zeitpunkt meiner Prophezeiung nach Kräften hinausschöbe. Doch das ist nun meine Art zu prophezeien, und zwar die allersichersie, da mich niemand Lügen strafen kann.

Der König an Voltaire
(8. September 1775)

Sie haben Recht: unsre biedren Germanen stehen erst im Morgenrot der Bildung. Deutschland ist heute auf der gleichen Stufe, auf der sich die Künste zur Zeit Franz' I. befanden. Man liebt sie und verlangt nach ihnen; Fremde verpflanzen sie zu uns, aber der Boden ist noch nicht hinreichend vorbereitet, um sie selber hervorzubringen. Der Dreißigjährige Krieg hat Deutschland mehr geschadet, als das Ausland glaubt. Wir mußten zunächst wieder die Felder bestellen, dann Gewerbfleiß schassen, schließlich etwas Handel treiben. In dem Maße, wie wir darin weiterkommen, entstehen Wohlstand und Luxus, ohne den die Künste nicht gedeihen können. Die Musen wollen, daß die Fluten des Paktolos den Fuß des Parnaß netzen. Man muß sein Auskommen haben, um sich bilden und frei denken zu können. In der Bildung und den schönen Künsten hat Athen denn auch Sparta überflügelt. Geschmack wird sich in Deutschland nur durch besonnenes Studium des klassischen Schrifttums verbreiten, sowohl des griechischen wie des lateinischen und französischen. Zwei oder drei Genies werden die Sprache berichtigen, ihre Barbarei mildern und die Meisterwerke des Auslands bei uns heimisch machen.<311> Meine Laufbahn geht zu Ende. Ich werde diese glücklichen Zeiten nicht mehr erleben. Gern hätte ich zu ihrer Heraufkunft beigetragen. Aber was vermag ein Mensch, der zwei Drittel seines Daseins von steten Kriegen geplagt wird, der die Wunden heilen muß, die sie geschlagen haben, und dessen allzu mäßige Begabung für so große Dinge nicht ausreicht? Unsre Philosophie stammt von Epikur. Gassend311-1, Newton und Locke haben sie berichtigt; ich rechne es mir zur Ehre an, ihr Schüler zu sein — aber nicht mehr.

Der König an d'Alembert
(6. Januar 1781)

Um Ihnen einen Beweis meiner Seelenruhe zu geben, sende ich Ihnen eine kleine Schrift311-2, deren Zweck ist, die Fehler der deutschen Literatur und die Mittel zu ihrer Verbesserung anzugeben. Grimm311-3, ein geborener Deutscher, kann Sie über die deutsche Sprache informieren. Sie haben sie nicht gelernt, und bisher lohnte sich das auch nicht; denn eine Sprache verdient nur wegen der guten Schriftsteller er, lernt zu werden, die ihr zur Zierde gereichen, und daran fehlt es uns völlig. Aber vielleicht werden sie eines Tages erscheinen, wenn ich im Elysium herumspaziere, wo ich dem Schwan von Mantua311-4 die Idyllen eines Deutschen namens Geßner und Gellerts Fabeln 311-5 darbringen werde. Sie werden mich auslachen, well ich mich bemüht habe, einem Volke, das sich bisher auf nichts verstanden hat als aufs Essen, Trinken, Lieben und Kämpfen, einige Begriffe von Geschmack und attischem Salz beizubringen. Trotzdem wünscht man sich nützlich zu machen. Oft treibt ein Wort, das in fruchtbares Erdreich fällt, Keime und trägt unverhoffte Früchte.

Der König an d'Alembert
(24. Februar 1781)

Die Schrift, die ich Ihnen übersandte, ist das Wert eines dilettante311-6, dem der Ruhm seines Volkes am Herzen liegt und der wünscht, daß es sich in der Literatur ebenso vervollkommne, wie die Nachbarvölker es seit einigen Jahrhunderten getan<312> haben. Ich war nicht streng, sondem habe es nur mit Rosen gegeißelt. Will man jemand ermutigen, so darf man ihn nicht herabsetzen. Im Gegenteil! Man muß ihm zeigen, daß er Talent hat und daß es ihm nur am guten Willen zu seiner Ausbildung fehlt. Insofern sind grobe Pedanterie und Ungeschmack die größten Hindernisse der deutschen Literatur. Ich gebe zu: das Genie kommt nicht so häufig vor, wie man wähnt, und viele Menschen stehen nicht am rechten Fleck. Auf einem bestimmten Gebiet würden sie Wunder vollbracht haben, auf andren gelingt es ihnen weniger. In den Schulen und Universitäten meines Landes habe ich die in meiner Schrift vorgeschlagene Unterrichtsmethode eingeführt312-1 und verspreche mir gute Erfolge davon. Gern unterschreibe ich Ihre Rüge betreffend Mark Aurel und Epiktet312-2. Immerhin werden Sie wissen, daß die Kenntnis des Lateinischen in Deutschland verbreiteter ist als die des Griechischen. Geben unsre Gelehrten sich also nur Mühe, jene Schriftsteller gut zu verdeutschen, so werden sie ihrer Muttersprache mehr Kraft und Energie verleihen. Denn daran fehlt es ihr noch.

<313>

2. Kabinettserlaß über das Unterrichtswesen
an den Minister Freiherrn von Zedlitz313-1
(5. September 1779)

Da ich gewahr geworden, daß bei den Schulansialten noch viele Fehler sind, und daß besonders in den kleinen Schulen die Rhetorik und Logik nur sehr schlecht oder garnicht gelehrt wird, dieses aber eine vorzügliche und höchst nothwendige Sache ist, die ein jeder Mensch in jedem Stande wissen muß und das erste Fundament bei Erziehung junger Leute sein soll, denn wer zum besten raisonniret, wird immer weiter kommen als Einer, der falsche Conséquences zieht; so habe Euch hierdurch meine eigentliche Willensmeinung dahin bekannt machen wollen.

Wegen der Rhetorik ist der Quintilian313-2, der muß verdeutschet und darnach in allen Schulen infomiret werden. Sie müssen die jungen Leute Traductions und Discours selbst machen lassen, daß sie die Sache recht begreifen, nach der Methode des Quintilian. Man kann auch ein Abrégé daraus machen, daß die jungen Leute in den Schulen alles desto leichter lernen; denn wenn sie nachher auf Universitäten sind, so lernen sie davon nichts, wenn sie es aus der Schule nicht schon mit dahin bringen. Zum Unterricht in der Logik ist die beste im Deutschen von Wolff313-3: solche ist wohl ein bischen weitläuftig, aber man kann sie abrégiren lassen.

Die ersten Schulen sind immer Schuld daran, wenn die jungen Leute nichts lernen: die Lehrer lassen die jungen Leute nicht selbst arbeiten, sondern sie herumlaufen, und halten sie nicht genug zum Lernen an. Lateinisch müssen die jungen Leute auch absolut lernen, davon gehe ich nicht ab; es muß nur darauf raffiniret werden, auf die leichteste und beste Methode, wie es den jungen Leuten am leichtesten beizubringen. Wenn sie auch Kaufleute werden oder sich zu was andrem widmen, wie es auf das Genie immer ankommt, so ist ihnen das doch allezeit nützlich, und kommt schon eine Zeit, wo sie es anwenden können. Im Ioachimstal und in den andren großen Schulen muß die Logik durchgehends gründlich gelehret werden, auch in den Schulen<314> der kleinen Städte, damit ein jeder lernt, einen vernünftigen Schluß machen in seinen eignen Sachen; das muß sein. Die Lehrer müssen sich auch mehr Mühe geben mit dem Unterricht der jungen Leute und darauf mehr Fleiß wenden und mit wahrem Attachement der Sache sich widmen; dafür werden sie bezahlet, und wenn sie das nicht gebührend thun und nicht ordentlich in den Sachen sind und die jungen Leute negligiren, so muß man ihnen auf die Finger klopfen, daß sie besser attent werden.

Die Rhetorik nach dem Quintilian und die Logik nach dem Wolff, aber ein bischen abgekürzet, und das Lateinische nach den Autoribus classicis muß mit den jungen Leuten durchgegangen werden, und so müssen sie unterrichtet werden, und die Lehrer und Professores müssen das Lateinische durchaus wissen, sowie auch das Griechische. Das sind die wesentlichsten Stücke mit, daß sie das den jungen Leuten recht gründlich beibringen können und die leichteste Methode dazu ausfindig zu machen wissen.

Ihr müsset daher mit der Schulverbesserung in den großen Städten, als Königsberg, Stettin, Berlin, Breslau, Magdeburg etc., zuerst anfangen. Auch ist die Elisabeth-Schule zu Breslau, wo gute Leute gezogen werden, die hernach zu Schulmeistern genommen werden können. Bei den kleinen Schulen muß erst angefangen werden; denn da wird der Grund gelegt. Die jungen Leute mögen hiernächst auf einen Juristen, Professor, Secretär, oder was es ist, studieren, so müssen sie das alles, auch Lateinisch, wissen. Eine gute deutsche Grammatik, die die beste ist, muß auch bei den Schulen gebraucht werden, es sei nun die Gottschedsche314-1 oder eine andre, die zum besten ist.

Von großem Nutzen würde es sein, wenn die jungen Leute so in einem Schulhause beständig beisammen wären, wofür die Eltern was gewisses bezahlten; so würden sie weit mehr lernen, als wenn sie zu Hause sind, wo sie die Eltern nur herumlaufen lassen; wie im Ioachimstal, da können sie gut studieren, da sind sie immer bei einander.

Die Rhetorik und Logik ist für alle Stände, alle Menschen haben sie gleich nöthig; nur muß die Methode des Unterrichts ein bischen reformiret werden, damit die jungen Leute besser lernen. Und wenn ein Lehrer oder Professor darin sich hervorthut, so muß man denn sehen, wie man dergleichen Lehrer auf eine Art avantagiret, daß sie aufgemuntert und die andren gereizet werden, sich auch zu befleißigen, daß sie nicht so grob sind.

Die Auctores classici müssen auch alle ins Deutsche übersetzet werden314-2, damit die jungen Leute eine ldée davon kriegen, was es eigentlich ist: sonsten lernen sie die Worte wohl, aber die Sache nicht. Die guten Auctores müssen vor allen übersetzet werden ins Deutsche, als im Griechschen und Lateinischen der Xenophon, Demosthenes, Sallust, Tacitus, Livius, und vom Cicero alle seine Werke und Schriften, die sind<315> alle sehr gut; desgleichen der Horatius und VirgU, wenn es auch nur in Prosa ist. Im Französischen sind auch ercellente Sachen, die müssen ebenfalls übersetzet werden. Und wenn denn die jungen Leute was gearbeitet haben, so muß das gegen die deutsche Übersetzung gehalten und ihnen gewiesen werden, wo sie unrechte Wörter angebracht und gefehlet haben.

Gegenwärtig geschiehst der Unterricht nur schlecht, und es wird nicht genug Attention auf die Erziehung in den Schulen gewandt, drum lernen die Kinder auch nicht viel. Die ersten Fundamente sind nicht nutze. Wer zum besten raiaonniren kann, wird immer zum weitesten kommen, besser als der, der nur falsche Schlüsse ziehet. Für junge Leute, die beim Commerce gehen wollen, sind so ein Haufen gute Bücher, woraus sie das Commerce einer jeden Nation in der ganzen Welt kennen lernen können. Für Leute, die Officiers werden, ist die Historie nöthig, auch für andre Leute, und zwar muß solche gleich zum Anfange gelehret werden; denn es sind Abrégés genug davon da. Anfänglich muß man sie nur kurz unterrichten und bei den alten Zeiten nicht zu lange sich aufhalten, doch so, daß sie eine Kenntniß von der alten Geschichte kriegen. Aber in den neuern Zeiten, da muß man schon etwas genauer damit gehen, damit die jungen Leute solche gründlich kennen lernen, und das gehet auch spielend an. In Ansehung der Geometrie, da sind schon andre Mittel, um ihnen solche zu lehren.

Und was die Philosophie betrifft, die muß von keinem Geistlichen gelehrt werden, sondern von Weltlichen: sonsien ist es ebenso, als wenn ein Jurist einem Officier die Kriegskunst lehren soll. Er muß aber alle Systèmes mit den jungen Leuten durchgehen und durchaus keine neue machen. Von der Metaphysik müssen sie auch was durchgehen.

Aber vom Griechischen und Lateinischen gehe ich durchaus nicht ab bei dem Unterrichte in den Schulen. Und die Logik ist das Allervernünftigste; denn ein jeder Bauer muß seine Sachen überlegen, und wenn ein jeder richtig dächte, das wäre sehr gut. Die Rhetorik muß den jungen Leuten, wie schon gesagt, ebenfalls gründlich beigebracht werden. Man muß auch darauf Acht geben, daß die Kinder fleißig in die Schulen kommen, und wenn das nicht geschieht, muß das den Vätern und Eltern gemeldet werden, daß sie sie dafür strafen; denn warum schicken sie sonst die Kinder in die Schule, als daß sie was lernen sollen? sonst können sie sie ja nur zu Hause behalten.

Daß die Schulmeister auf dem Lande die Religion und die Moral den jungen Leuten lehren, ist recht gut, und müssen sie davon nicht abgehen, damit die Leute bei ihrer Religion hübsch bleiben und nicht zur katholischen übergehen; denn die evangelische Religion ist die beste und weit besser wie die katholische. Darum müssen die Schulmeister sich Mühe geben, daß die Leute Attachement zur Religion behalten, und sie so weit bringen, daß sie nicht stehlen und nicht morden. Diebereien werden indessen nicht aufhören, das liegt in der menschlichen Natur; denn natürlicher Weise ist alles<316> Volk diebisch, auch andre Leute und solche, die bei den Kassen sind und sonst Gelegenheit dazu haben.

Im Lauenburgischen und Bütowschen ist es noch mehr wie an andren Orten nöthig, die éducation der Kinder in eine bessere Ordnung zu bringen; denn da fehlet es noch sehr daran. Im Altenburgischen ist eine sehr gute Erziehung, die Leute sind da alle so ordentlich und vernünftig. Wenn man von daher könnte Schulmeister kriegen, die nicht so theuer wären, so würde das sehr gut sein. Ihr werdet sehen, wie das zu machen stehet. Sonsten ist es auf dem platten Lande genug, wenn sie ein bischen lesen und schreiben lernen. Wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Secretärs und sowas werden. Deshalb muß man auf dem platten Lande den Unterricht der jungen Leute so einrichten, daß sie das Nothwendige, was zu ihrem Wissen nothwendig ist, lernen, aber auch in der Art, daß die Leute nicht aus den Dörfern weglaufen, sondern hübsch da bleiben.

Nach dieser meiner Willensmeinung und Vorschrift werdet Ihr daher bemühet sein, alles in den Schulen besser einzurichten und zu regulieren, damit meine landest väterliche Intention bestens erreicht wird.


V-1 Vgl. dazu die gegen Baron Holbach gerichteten Streitschriften von 1770: „Kritik der Abhandlung »Über die Vorurteile« “ und „Kritik des »Systems der Natur« “ (Bd. VII) und das „Totengespräch zwischen Prinz Eugen, lord Marlborough und Fürst Liechtenstein“ von 1773 (Bd. IX), in dem König Friedrich die Enzyklopädisten verspottet.

V-2 Vgl. S. 227 ff.

VI-1 Vgl. die entsprechende Stelle der Ausgabe von 1775 (Bd. II, S. 46f.), die auf der Fassung von 1746 beruht.

VI-2 Vgl. Bd. I.

VII-1 Vgl. S. 76 f. und 88.

VII-2 Vgl. S. 79.

VII-3 Vgl. S. 95.

VII-4 Vgl. S. 305.

VII-5 Die Akademie erhielt daher auch den Namen „Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres“.

VIII-1 Vgl. S.306.

VIII-2 Vgl. S. 54 ff.

VIII-3 Vgl. Bd. VII, S.187ff., 204ff. und 208 ff.

VIII-4 Vgl. S.82.

3-1 Die obige Vorrede ist im August 1739 verfaßt. Sie war für eine Prachtausgabe der „Henriade“ bestimmt, die Friedrich zu veranstalten beabsichtigte und für die u. a. Knobelsdorff Vignetten zeichnen sollte. Vgl. auch die „Gedächtnisrede auf Voltaire“.

3-2 „La Ligue“, Paris 1723.

4-1 Die französische Akademie zählt vierzig Mitglieder.

4-2 Bernard le Bovier de Fontenelle (1657 bis 1757).

4-3 Zum Katholizismus (1593).

5-1 Odyssee, XI. Gesang.

5-2 In der Bartholomäusnacht am 23. August 1572 (II. Gesang, Vers 207).

5-3 König Heinrich III., der letzte des Hauses Valois, wurde am 1. August 1589 von dem fanatischen Mönche Jakob Clement ermordet (V. Gesang, Vers 279).

5-4 VIII. Gesang, Vers 207; IX, 339; X, 148.

6-1 Nicolas Poussin († 1665); Lodovico Caracci († 1619): Annibale Caracci († 1609).

6-2 Henri de la Tour d'Auvergne, Vicomte de Turenne, der Vater des berühmten Feldherrn (X. Gesang, Vers 107).

6-3 VIII. Gesang, Vers 322—324.

6-4 Philipp de Mornay Duplessis († 1623), Führer der Protestanten und Freund Heinrichs IV.

6-5 VIII. Gesang, Vers 180—204.

7-1 Achille de Harlay, Präsident des Pariser Parlaments (IV. Gesang, Vers 439).

7-2 IV. Gesang, Vers 467. 468.

7-3 Nicolas Polier de Blancmesnil, Präsident des Pariser Parlaments (VI. Gesang, Vers 83—134).

7-4 Heinrich IV.

8-1 Die Witwe König Heinrichs II. und Mutter der Könige Karl IX. und Heinrich III.

10-1 Zu dieser Abhandlung wurde Friedrich durch Voltaires Schrift „Eléments de la philosophie de Newton“ angeregt. Wie er am 30. September 1738 an Voltaire schreibt, beabsichtigte er zu beweisen, „daß philosophische oder religiöse Meinungsverschiedenheiten niemals die Bande der Freundschaft und Menschlichkeit bei den Menschen lockern dürfen. Daher mußte ich beweisen, daß der Irrtum unschuldig war, und das habe ich getan.“

14-1 Glücklich preis' ich den Mann, der den Grund der Dinge erkannt hat. (Der Vers stammt nicht von Lukrez, sondern von Virgil, Georgica II, 490.)

17-1 Pyrrhon, griechischer Philosoph, Begründer der älteren skeptischen Schule (um 360—270 v. Chr.). Pyrrhonismus gleichbedeutend mit Skepsis.

17-2 Die Lehrstätte des Aristoteles in Athen.

17-3 Ursprünglich die Lehrstätte des Plato, dann die von ihm gestiftete Schule. Hier ist die sogenannte mittlere Akademie gemeint, die eine skeptische Tendenz verfolgte, wenn auch nicht mit der Entschiedenheit Pyrrhons.

18-1 Vgl. Bd. VII, S. 241.

19-1 Gandalin ist der Schildknappe des Amadis von Gallien in dem gleichnamigen Ritterroman, Pharamund, der sagenhafte erste König der Franlen, Held des einst berühmten gleichnamigen Romans von La Calprenède († 1661), einer sagenhaften Geschichte Frankreichs.

22-1 Die obige Abhandlung entstand ungefähr gleichzeitig mit Coccejis Entwurf eines Landrechts und bald nach Montesquieus Schrift „Esprit des Iois“, durch die Friedrichs Auffassung mehrfach beeinflußt erscheint. Der Aussatz wurde nach dem am Schluß angegebenen Vermerk am I. Dezember 1749 beendet und am 22. Januar 1750 in der Akademie verlesen.

23-1 Der ägyptische Totengott Osiris, Bruder und Gatte der Isis, wurde von einer ägyptischen Volkssage, die Plutarch berichtet, zum Herrscher und Gesetzgeber der Ägypter gemacht.

25-1 Als Quellen nennt der König: Livius, Plutarch, Cicero, Dionys von Halikarnaß, „Antiquitates romanae“.

26-1 Fußnote des Königs: „Es gab nur zwei Arten von Intestaterben: Kinder und männliche Verwandte.“

33-1 Das römische Jus talionis.

34-1 Am 17. August 1756 erging das grundlegende „Edikt zur Verhütung des Kindesmordes“, sowie am 8. Februar 1765 ein weiteres Edikt, das u. a. die bisherigen entehrenden Strafen aufhob.

34-2 Der König erklärt in einer Fußnote unter Berufung auf Rapin,Thoyras: „Bei der Feuerprobe gab man dem Angeklagten ein glühendes Eisen in die Hand. War er so glücklich, sich nicht zu verbrennen, so ward er freigesprochen, im andren Falle als schuldig bestraft. Bei der Wasserprobe warf man den An, geklagten gebunden ins Wasser. Schwamm er obenauf, so war er unschuldig.“ Bekanntlich waren solche und andre Gottesurteile, wie der Zweikampf, der mittelalterlichen Justiz in allen tändern geläufig.

35-1 Sofort nach Antritt seiner Regierung, durch Kabinettsorder vom 3. Juni 1740, schaffte der König die Folter ab; doch blieb sie für einige Ausnahmefälle zunächst noch bestehen und wurde dann 1754 bzw. 1756 ganz beseitigt. Da man aber, statt den modernen Indizienbeweis zuzulassen, den alten Grundsatz des Inquisitionsverfahrens beibehielt, wonach entweder das Zeugnis zweier Nassischer Zeugen oder das Geständnis des Schuldigen zur Verurteilung nötig war, entstanden nun, falls die Zeugen fehlten, allerlei Unzuträglichleiten. So brauchte der zweifellos festgestellte Mörder nur nicht zu gestehen, um der Verurteilung zu entgehen.

35-2 „Lettres sur les Anglais et Ies Français et sur d'autres sujets.“ Nouvelle édition 1728, I, 148.

36-1 Für die Justizreform und die gesetzgeberische Tätigkeit des Freiherrn Samuel von Cocceji, um derentwillen ihn Friedlich auch als neuen Tribonian feierte, vgl. Bd. III, S. 7 f. und VII, S. 118.

37-1 Das 1598 erlassene Edikt von Nantes wurde 1685 von Ludwig XIV. widerrufen.

37-2 Das Edikt vom 22. März 1717 verhängte die Todesstrafe über den, der im Duell den Gegner tötete oder so verwundete, daß dieser den neunten Tag nicht überlebte. Das Duell galt als Verbrechen am Staatskörper, den es seiner Bürger beraubt.

38-1 St. Pierre war der Verfasser der Schrift „Projet de la paix perpétuelle“ (vgl. Bd. VII, S.248).

40-1 Der von dem König veranstaltete Auszug aus dem „Dictionnaire historique et critique“ von Pierre Bayle (1647—1706) erschien 1765 in zwei Bänden mit der obigen, 1764 verfaßten Vorrede; zwei Jahre später folgte eine neue Ausgabe.

40-2 Nicolas Malebranche (1638—1715).

41-1 Vgl. Bd. VII, S.75.239.

44-1 Die obige Abhandlung wurde am II. Januar 1770 in der Akademie verlesen.

46-1 „Pensées, maximes et réflexions“ , Paris 1665.

47-1 Valerius Maximus, Buch VII, Kapitel 2.

49-1 Das französische Wort libertin ist doppelsinnig. Es umfaßt die Ungebundenheit des Denkens und der Sitten.

50-1 Publius Decius Mus opferte sich als Konsul freiwillig für das Vaterland, um den Sieg in der Schlacht am Vesuv (340 v. Chr.) zu erringen. Sein gleichnamiger Sohn tat dasselbe in der Schlacht bei Sentinum (295 v. Chr.). Nur dessen Opfertod ist historisch beglaubigt.

50-2 Wie Valerius Maximus (Buch IV, Kapitel 3) berichtet, trug sich der Vorgang im Jahre 210 nach der Eroberung von Neu-Karthago in Spanien durch den älteren Scipio Africanus zu.

54-1 Die Abhandlung wurde am 27. Januar 1772 in der Berliner Akademie verlesen. Sie richtet sich gegen die bekannte, 1750 von der Akademie zu Dijon preisgekrönte Abhandlung von Jean Jacques Rousseau: „Le progrès des arts et des sciences a-t-il contribué à amélioer ou a corrompre les mœurs“

55-1 Jean Jacques Rousseau.

58-1 Toiricelli, vgl. Bd. II, S. 44.

58-2 Newton, vgl. Bd. II. S. 44.

58-3 Anspielung auf die 1682 von Bayle veröffentlichte Schrift über den großen Kometen von 1680.

59-1 Pro Archia poeta, Kap. 7.

60-1 Varro hat weder ein Gedicht über den Bürgerkrieg noch ein Werk „Origines“ verfaßt. Das letztere, heute verlorene Werk, stammt von Cato. Aber Varro war einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, insbesondere ein großer Altertumsforscher.

60-2 Katharina II. von Rußland.

61-1 Descartes war auf Einladung der Königin Christine 1649 nach Schweden gegangen, wo er 1650 starb, nachdem er noch einen Plan für die Stockholmer Akademie entworfen hatte.

61-2 Königin Ulrike von Schweden, die Schwester Friedrichs des Großen und Mutter König Gustavs III. Sie weilte seit Ende des Jahres 1771 zum Besuch am Berliner Hofe und wohnte der Akademiesitzung bei.

62-1 Der obige, im April 1762 verfaßte Aufsatz richtet sich gegen die 1760 von d'Alembert in der Pariser Akademie verlesene Abhandlung: „Réflexions sur la poésie, écrites à l'occasion des pièces que L'Académie a reçues cette année pour le concours.“ Der Aussatz führt daher auch den Untertitel: „Zweifel über t/Alemberts Betrachtungen über die Dichtkunst.“ Jean le Rond d'Alembert, der Freund des Königs, gehörte zu den bedeutendsten Philosophen und Mathematikern des Jahrhunderts.

63-1 Schäferinnen aus Virgils Eklogen.

63-2 Antoinette Deshoulières (1633—1694), genannt die zehnte Muse.

64-1 Pierre Varignon (1654—1722), berühmter französischer Mathematiler.

64-2 Joseph Guichard Duverney (1648—1730), berühmter französischer Anatom.

64-3 Boileau-Despréaux (1636—1711), als Verfasser der „Art poétique“ (1674) und zahlreicher Satiren und Episteln der Diktator des klassizistischen Geschmacks in Frankreich.

64-4 Leonhard Euler (1707—1783).

65-1 Pro Archia poeta, Kap. 6.

65-2 Boileau, Epistel X, Vers 26; Brief IX an Maucroir.

65-3

Et son corps désormais privé de sépulture
Des chiens dévorants deviendra la pâture.

Diese Verse, deren zweiter einen metrischen Fehler hat, kommen bei Racine nicht vor. Vielleicht liegt eine Reminiszenz an „Athalie“, II. Akt, 5. Szene vor:

Mais je n'ai plus trouvé qu'un horrible mélange
D'os et de chair meurtris et traînés dans la fange,
Des lambeaux pleins de sang et des membres afreux,
Que des chiens dévorants se disputaient entre eux.
(Doch fand ich nur noch einen grausen Klumpen
Von Fleisch und Knochen, durch den Kot gerissen.
Zermalmte Glieder sahn aus blutigen Lumpen,
Ein Fraß, um den sich gierige Hunde bissen.)

66-1

Bientôt ils défendront de peindre la Prudence,
De donner a Thémis ni bandeau, ni balance.

66-2 De Oratore II, Kap. 21.

67-1 Horaz, Ars poetica, 361: Die Poesie soll der Malerei gleichen.

67-2 Von Boileau verspottete Stümper.

67-3

Oui, Mitrane, en secret I'ordre émané du trône
Remet entre tes bras Arzace à BabyIone.

„Semiramis“, I. Akt, 1. Szene. Der Prosaiker würde sagen: „L'ordre en secret émané du trône, Mitrane.“

68-1 Claude Favre de Vaugelas (1585—1650), berühmter Grammatiker und Mitarbeiter am „Dictionnaire de I'Académie française“.

68-2 Jean Baptiste Rousseau (1671—1741).

68-3 Aus dem Griechischen übersetzt von Boileau.

69-1 Je l'aimais inconstant; qu'aurais-je fait fidèle? „Andromache“, IV. Akt, 5. Szene.

72-1 Christian Huyghens (1629—1695), holländischer Naturforscher.

72-2 Die von dem Neuplatoniler Plotin geschaffene Vorstellung von den plastischen oder geheimen Kräften, die als Emanationen der Gottheit die Welt erfüllen, wurde von den englischen Naturforschern zu Newtons Zeit übernommen, um das Kräftespiel der Natur, insbesondere die Anziehungskraft, zu erklären.

74-1 Vgl. dazu die Einleitung und Anhang (Nr. 1).

74-2 Der jüngere Scipio.

76-1 Freiherr Friedrich Rudolf von Canitz (1654—1699), dessen Poesien 1700 unter dem Titel: „Nebenstunden unterschiedener Gedichte“ erschienen.

76-2 Salomon Geßner (1730—1788). Seine „Idyllen“ erschienen 1756 und 1772.

76-3 Johann Jacob Mascov (1689—1761), Professor der Geschichte in Leipzig. Offenbar denkt der König nicht an dessen „Geschichte der Teutschen“, die schon mit dem Ausgang der Merowinger schließt, sondern an die 1747 erschienene und später erweiterte „Einleitung zu den Geschichten des Römisch, Teutschen Reichs bis zum Absterben Kaiser Karls VI.“.

76-4 Johann Jakob Quandt (1686—1772), Oberhofprediger in Königsberg. Dort hörte ihn Friedrich im August 1739 und dann im Herbst 1740, wo Quandt die Huldigungspredigt hielt.

76-5 Früher bezogen auf die Elegie „Die Mädcheninsel“ von Johann Nikolaus Goetz (1721—1781). Es handelt sich aber wahrscheinlich um Ewald Christian von Kleists Gedicht „Der Frühling“, das 1749 ohne Nennung des Verfassers erschienen war.

77-1 „Der Postzug oder die noblen Passionen“ (1769) von Cornelius Hermann von Ayrenhoff(1733 bis 1819).

77-2 Vgl. S. 60 und Anhang (Nr. 1).

77-3 Nach der Schlacht von Pavia (1525). Vgl. Bd. VII, S. 252 f.

78-1 Im Dom zu Speyer.

78-2 Vielmehr ist an Leipzig zu denken.

80-1 Diese Wendung stammt nicht von dem berühmten Juristen Heineccius, sondern von Adam Ebert, Professor zu Frankfurt a. O., der 1723 unter dem Pseudonym Aulus Apronius die Beschreibung einer Reise durch Deutschland veröffentlichte. 1724 erschien eine zweite Auflage mit einer Widmung an Königin Sophie Dorothea von Preußen, die er „Höchststrahlender Karfunkel an der Stirne der Tugendkönigin von Europa“ anredet, während er den König „den großen Diamanten an dem Finger der itzigen Zeit“ nennt.

81-1 Die Schriften von Justus Moser waren dem König jedenfalls unbekannt. In dem Hinweis auf das „Osnabrücker Gewohnheitsrecht“, auf das im folgenden erwähnte Kloster Sankt Gallen liegt bittere Ironie, verband doch die damalige Zeit mit allem Westfälischen die Vorstellung des Groben und Bäurischen und mit dem Kloster Sankt Gallen den Begriff der Einfalt und Beschränktheit.

81-2 Friedrich Hoffmann (1660—1742), Professor in Halle.

81-3 Hermann Boerhave (1668—1738), Professor der Medizin, Botanik und Chemie in leiden.

81-4 Ein alter König der Ägypter.

82-1 Jacopo Sannazaro (1458—1530), Verfasser des Gedichts „Arcadia“.

82-2 Pietro Bembo (1470 bis 1547), italienischer Humanist, schrieb in lateinischer und italienischer Sprache.

82-3 Die noch jetzt bestehende Akademie wurde 1582 in Florenz zum Zweck der Reinigung der italienischen Sprache begründet. Ihr Name Crusca (Kleie) bedeutet, daß sie das Mehl von der Kleie sondern soll. Sie bearbeitet das italienische Wörterbuch.

83-1 Nicht Clément Marot (1495—1544), dessen anmutiger Stil vorbildlich wurde, sondern dessen Vater Jean Marot (1463—1523) ist gemeint.

83-2 François Rabelais (1483-1553), Verfasser des „Gargantua und Pantagruel“.

83-3 Michel de Montaigne (1533-1592), Verfasser der „Essais“, einer ganz neuen Literaturgattung.

83-4 François de Malherbe (1555—1628).

83-5 Edme Bourfault (1636—1701), französischer Dramatiker.

83-6 Vgl. S. 68.

84-1 Epiketos, griechischer Stoiker (geb. um 50 n. Chr.), lehrte meist in Rom, hinterließ aber nichts Schriftliches. Sein Schüler Arrianos (um 100—180 n. Chr.) gab das „Enchiridion Epicteti“ in griechischer Sprache heraus. Auch die Selbsibetrachtungen Mark Aurels sind griechisch geschrieben.

84-2 François de Larochefoucauld (1613—1680). Vgl. S. 46,

85-1 „Soviel Worte, soviel Gewichte.“ Diese Vorschrift findet sich weder bei Horaz noch sonst bei einem römischen Autor.

85-2 Diesem Gedanken des Königs spricht Herder geschichtliche Berechtigung zu, indem er 1793 zum Ludwigslied und zu Otfrieds Evangelienharmonie aus dem 9. Jahrhundert bemerkt: „Flexionen hatte die Sprache damals, wie sie der unsterbliche König Friedrich für sein Ohr wünschen mochte.“

85-3 „Der Kaiser sieht nicht über den Grammatikern.“

86-1 Christian Wolff (1679—1754), Professor in Halle, 1723 von Friedrich Wilhelm I. ausgewiesen, 1740 von König Friedrich zurückberufen. Sein Werk über Logik erschien 1712 unter dem Titel: „Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes.“

86-2 Charles Batteux (1713 bis 1780), französischer Ästhetiker und Professor in Paris. Ein Handbuch der Logik gibt es von ihm nicht. Der König meint vielleicht das von Bayle, das er 1785 für sich und seinen Neffen Friedrich Wilhelm drucken ließ: „Système de philosophie, contenant la logique et la métaphysique.“

86-3 Vgl. S. 58.

86-4 Der vollständige Titel lautet: „Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ: Contrains-les d'entrer ou traité de la tolérance universelle.“ Vgl. Lukas XIV, 23. Den Anlaß für die Schrift bildete die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685).

87-1 Vgl. S. 40ff.

87-2 Nach Quintilian, „Institutio oratoria“. Buch X, 1,106. „IIIi (Demosthenes) nihil detrahi potest, huic (Cicero) nihil adijici.“

87-3 Jacques Bénigne Bossuet (1627—1704), BischofvonMeaur, Verfasser der berühmten „Oraisons funèbres“ und des „Discours sur I'histoire universelle“ (1679).

87-4 Auch Esprit Fléchier (1632—1710), Bischof von Nimes, hat „Oraisons funèbres“ veröffentlicht.

87-5 Jean Baptiste Massillon (1662—1742), französischer Kanzelredner, Verfasser der berühmten Fastenpredigten „Petit carême“ (1718).

87-6 René Aubert, Abbé de Verto (1655—1735), Verfasser der „Histoire des révolutions arrivées dans le Gouvernement de la République romaine.“

87-7 William Robertson (1721—1793), englischer Historiker, Verfasser von „History of the reign of the Emperor Charles V.“ (1769: eine französische Übersetzung erschien 1771 in Amsterdam).

87-8 Schlußfolgerung mit stillschweigend vorausgesetzter Prämisse.

87-9 Personifikation.

88-1 Die deutschen Schauspieler der Döbbelinschen Truppe spielten in Berlin 1768 „Romeo und Julia“, 1775 „Othello“, 1777 „Hamlet“, 1778 „Macbeth“ und „Lear“.

88-2 Goethes Jugenddrama wurde in Berlin zum erstenmal durch die Wandertruppe von Heinrich Gustav Koch am 12. April 1774 aufgeführt.

89-1 Die Lehre Epikurs von der Abweichung der Atome von der senkrechten Fallinie.

89-2 Von Descartes.

90-1 Vgl. S. 40f.

90-2 Vgl. S. 40.

91-1 Bartolo (1314—1357), berühmter italienischer Rechtslehrer; Jacques Cujas (Cujacius), französischer Rechtslehrer (1522—1590).

92-1 Staatsverträge.

92-2 Vgl. S. 22 ff.

92-3 Freiherr Samuel von Pufendorf (1632—1694), Begründer des Naturrechts, Verfasser des Werkes „De jure naturae et gentium“.

92-4 Hugo Grotius (1583—1645), Verfasser des grundlegenden Wertes über das Völkerrecht „De jure belli et pacis“.

92-5 Christian Thomasius (1655—1728), Rechtslehrer, Professor an der Universität Halle. Der König stellt Thomasius lediglich wegen seiner Vortragsweise als Muster hin.

93-1 Pufendorf bezichtigte in seinen „Commentarien“ zur schwedischen Geschichte den Herzog Franz Albrecht von Lauenburg des Mordes an Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632).

94-1 Das „Theatrum europaeum“ bildet eine umfangreiche Materialiensammlung für die Zeit von 1616 bis 1718 in 21 Foliobänden. König Friedrich Wilhelm I. hatte bestimmt, ihre Lektüre dem Geschichtsunterricht des Kronprinzen zugrunde zu legen.

94-2 Graf Heinrich Bünau (1697—1762), Verfasser des Werkes „Genaue und umständliche deutsche Kaiser- und Reichshisiorie“, das aber nur bis zum Jahre 918 reicht.

96-1 Vielmehr schon Aristarch von Samos, der 281 v. Chr. den Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde um die Sonne lehrte.

96-2 Georg Bernhard Bilfinger (1693—1750), Anhänger der Leibniz-Wolffschen Schule.

96-3 Albrecht von Haller (1708—1777), Schweizer Dichter und Gelehrter, Anatom, Physiologe und Botaniker, 1736—1753 Professor in Göttingen. König Friedrich machte 1749 den vergeblichen Versuch, ihn für die Berliner Akademie zu gewinnen.

96-4 Karl I. († 1649).

96-5 Der Verfasser des „Leviathan“ (London 1651) war der Philosoph Thomas Hobbes und nicht John Toland.

96-6 Vgl. S. 58.

97-1 Justus Lipsius (1547—1606), Jurist und Philologe, Professor in Jena, dann in Leiden und Löwen; Johann Freinsheim (1608—1660), Philologe, Professor in Upsala, dann in Heidelberg; Johann Friedrich Gronov (1611—1671), Philologe, Professor in Leiden; Johann Georg Graeve (1632 bis 1723), Professor der Beredsamkeit in Utrecht.

98-1 Adelungs Wörterbuch kam in den Jahren 1774 bis 1786 in Leipzig heraus, unter dem Titel: „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart.“ Andrerseits wird Friedrichs Angabe auch bezogen auf das 1741 erschienene „Teutsch-lateinische Wörterbuch“ des Rektors vom Grauen Kloster in Berlin, Johann Leonhard Frisch.

103-1 Der vom König besorgte Auszug aus der Kirchengeschichte von Claude Fleury erschien mit der obigen Vorrede 1766 in Berlin. Die Ausgabe war als Übersetzung aus dem Englischen bezeichnet, als Druckort Bern genannt. Papst Klemens XI V. setzte das Buch 1770 auf den Index.

103-2 41—54.

104-1 Vgl. Bd. VII, S. 235.

105-1 Nicht der Anfang des Johannesevangeliums ist interpoliert, sondern die Stelle über die Dreieinigkeit, I. Johannes V, 7.

105-2 2. Makkabäer, XII, 40ff.

105-3 Die Pseudo-Isidorischen Detretalien sind eine Frankreich im 9. Jahrhundert entstandene, unter dem Namen des Isidorus Mercator gehende Sammlung gefälschter päpstlicher Briefe und Verfügungen, die später für die Behauptung des Primats des Papsttums verwandt wurde.

106-1 Das sogenannte patrimonium Pein, den Kern des späteren Kirchenstaates.

106-2 Leo III.

106-3 1073—1085.

106-4 Diese Bannbulle gegen die Ketzer wurde vielmehr 1362 von Papst Urban V. erlassen.

108-1 Nur an dem Zustandekommen des Zweiten Kreuzzugs (1147—1149) war Abt Bernhard von Clairvaux beteiligt.

109-1 1414—1418.

109-2 1378—1417.

110-1 1545—1563.

113-1 Apollonios von Tyana in Kappadotien, neupythagoräischer Philosoph, Sittenlehrer und Magier starb um 100 n. Chr. in Ephesos. Er wurde u. a. von Voltaire mit Jesus zusammengestellt. Im Frühjahr 1772 ließ sich König Friedrich die englische Übersetzung des „Lebens des Apollonios von Lyana“ von Charles Blount (London 1680) mit den Anmerkungen von Lord Edward Herbert von Cherbury († 1648) aus London kommen, um, wie er sagt, „mit dieser Seltenheit seine Bibliothek zu bereichern“. Nach diesem Werke veranstaltete er darauf 1774 eine Ausgabe in französischer Übersetzung, die Professor Castillon besorgte, und schickte ihr die obige „Widmung“ vorauf.

113-2 Römischer Statt, Halter von Bithynien, dann von Alexandra (um 300 n. Chr.).

113-3 Der französische Geschichtsschreiber Sebastian Lenain de Tillemont (1637—1698), Verfasser der „Mémoires pour l'histoire ecclésiastique des six premiers siècles“ (Brüssel 1694).
VIII

114-1 Am 21. Juli I773.

115-1 Nach dem Vorbild der „Lettres persanes“ von Montesquieu gibt König Friedrich in der obigen, im Frühjahr 1760 verfaßten Flugschrift eine Kritil des Systems der römischen Kurie. Sie bedeutet nach seinen Worten „einen Tatzenhieb gegen den Papst, der die Degen unsrer Feinde segnet und Königs, Mördern in der Kutte eine Freistatt gewährt“, „einen Schrei der empörten Vernunft gegen das schmähliche Gebaren dieses Baal-Papstes“. Für die Verleihung des geweihten Hutes und Degens durch Klemens XIII. an Feldmarschall Dann und für die Aufnahme der nach dem Attentat des Paters Malagrida auf König Joseph I. aus Portugal vertriebenen Jesuiten im Kirchenstaate vgl. Bd. III, S. 153 f.

115-2 Mustapha III. war am 28. Oktober 1757 seinem Vetter Osman III. auf dem Throne gefolgt.

116-1 Der Himmel.

118-1 Vgl. S. 115, Anm. I.

119-1 Indier aus der Handelskaste, die an die Seelenwanderung glauben.

119-2 Nachkommen der alten Perser und Anhänger der Lehre Zoroasters.

120-1 „La Somme des péchés qui se commettent en tous états“, von Baptist Bauni, einem französischen Jesuiten, erschien 1634 und wurde mehrmals neu gedruckt.

120-2 „Opus morale in praecepta Decalogi, sive summa casuum conscientiae“ (Köln 1614); Consilia, seu opuscula moralia (Lyon 1635).

120-3 Anspielung auf die Tracht der Kardinale.

121-1 Auf dem Konzil in Trient. Vgl. S. 110.

122-1 Feldmarschall Dann. Vgl. S. 115, Anm. I.

123-1 Der Anspruch Frankreichs auf den einträglichen Stockfischfang in Neufundland war einer der Streitpunkte, die zum französisch-englischen Koloniallrieg geführt hatten. Mit dem Ausbruch dieses Krieges erfolgte der allgemeine europäische Systemwechsel, es bildete sich die Koalition der Kaiserhöfe und Frankreichs, gegen die König Friedrich dann im Herbste 1756 zu Felde zog.

127-1 Die obige im Frühjahr 1771 verfaßte Satire bezieht sich auf den Russisch-Türkischen Krieg, der Ende 1768 zum Ausbruch kam. In diesem Kriege standen den Russen die Türken und die vom römischkatholischen Klerus unterstützten polnischen Konföderierten gegenüber (vgl. dazu das satirische Epos „Der Konföderiertenkrieg“ in Bd. IX).

127-2 Beim Ausmarsch des Großwesirs aus Konsiantinopel im Frühiahr 1769 war der österreichische Gesandte mit seiner Familie von fanatischen Türken mißhandelt worden.

127-3 König Ludwig XV. von Frankreich.

128-1 Ehrenpunkt.

128-2 Vgl. S. 129 ff

129-1 Unter dem Druck Rußlands war auf dem Warschauer Reichstag 1768 die politische Gleichstellung der Dissidenten, d. h. der Griechisch-Katholischen und der Evangelischen, mit den Römisch-Katholischen festgesetzt worden.

129-2 Der Patriarch Photius von Konstantinopel erklärte 866 das Ausgehen des HeUigen Geistes nicht nur von Gottvater, sondern auch vom Sohne, für eine Ketzerei der Abend, länder und wurde dafür vom Papst in den Bann getan. Zur dauernden Trennung der römisch, katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche kam es jedoch erst 1084.

129-3 Die Brücke al sirât (der Pfad, der Weg), die über die Hölle führt und dünner als ein Haar und schärfer als ein Schwert ist. Während die Auserwählten sie mit Windeseile überschreiten, gleiten die Verdammten in die ewigen Flammen hinab.

130-1 Gemeint ist die Spaltung der Mohammedaner in die Sunniten, die die Sunna, die zur Ergänzung des Korans niedergeschriebene Tradition anerkannten, und in die Schiiten, die diese Tradition verwarfen.

131-1 Die Russen hatten die Häupter der Opposition auf dem Warschauer Reichstag von 1767/68, die Bischöfe von Krakau und Kiew, Soltyl und Zalusti, verhaftet und in Gefangenschaft geführt.

131-2 Kardinal Ganganelli bestieg als Klemens XIV. den päpstlichen Thron am 19. Mai 1769.

132-1 Nach dem Vorbild von Voltaires „Mandement du révérendissime père en Dieu, Alexis, archevêque de Novogorod la Grande“ verfaßte König Friedrich im Frühjahr 1766 den obigen „Hirtenbrief“, um seinen Freund Jean Baptist de Boyer, Marquis d'Argens (1704—1771), der im September 1764 in seine Heimatstadt Air in der Provence gereist war, zur Rücklehr nach Potsdam zu bestimmen. Daher sieht auch in der Überschrift statt Erzbischof Bischof von Aix, um anzudeuten, daß es sich nur um ein fingiertes Schriftstück handelt.

132-2 Nach Markus XIII, Vers 21 f., Lukas XXI, Vers 8.

132-3 Nach II. Thessalonicher II, Vers II.

134-1 Markus VII, Vers 34.

134-2 D'Argens war Verfasser der „Lettres chinoises“ (1739), „Lettres cabalistiques“ (1741), „Lettres juives“ (1742), der „Philosophie du bon sens“ (1737). Ferner gab er in Übersetzung und mit Kommentar heraus: „Ocellus Lucanus, Sur I'univers“ (1762), „Timée de Locres, Traité de la nature et I'âme du monde“ (1763) und die „Défense du par l'empereur Julien“ (1764).

136-1 4. Buch Moses, Kap. XVI.

137-1 Der König schickte den obigen, 1779 geschriebenen „Kommentar“ an d'Alembert mit den Worten: „Er ist nach den Grundsätzen von Huet, Calmet (vgl. Anm. 3), Labadie und so vielen andren Grublern verfaßt, deren irregehende Phantasie in gewissen Büchern fand, was nie darin gestanden hat.“

137-2 Jean George Lefranc Marquis de Pompignan, Bischof von Puy-en-Velay und seit 1774 Erzbischof von Vienne im Dauphine, war der Bruder des Dichters Jean Jacques Lefranc Marquis de Pompignan, der 1736 Voltaire bezichtigt hatte, in seiner „Alzire“ ein Plagiat an ihm begangen zu haben. Eine neue Fehde zwischen Jean Jacques und Voltaire entspann sich 1760 bei Lefrancs Aufnahme in die Akademie. 1763 erließ der Bischof einen Hirtenbrief gegen die PHUosophen, womit er namentlich Voltaire und Rousseau meinte. Voltaire antwortete mit der „Lettre d'un Quaker à J. G. Lefranc de Pompignan“ und einem „Hirtenbrief des demütigen Bischofs von Alethopolis“ (Wahrheitsstadt). In den Kreis dieser Satiren gehört auch die obige „Vorrede des Bischofs von Puy“.

137-3 Augustin Calmet (1672—1757), Abt von Senones in den Vogesen, Verfasser eines „Commentaire littéral sur tous les Iivres de I'ancien et du nouveau Testament“ (Paris 1727—1716).

137-4 Abbe Tamponnet, Zensor der Enzyklopädie.

137-5 Gehörte zur Diözese von Puy.

138-1 Spanischer Bischof(1471—1566), der die Mexikaner gegen die Bedrückung der Spanier in Schutz nahm.

138-2 Karl von Guise (1525—1574).

138-3 Die griechische Übersetzung des Alten Testaments durch jüdische Schriftgelehrte, die siebzig Dolmetscher.

141-1 Wörtliche Wiedergabe des Märchens von Perrault aus den „Contes de ma mère l'Oie, ou Histoire du temps passé“, Paris 1697.

148-1 Vgl. Chronika II, Kapitel XXIV. Vers 20 f.

150-1 Namen Gottes, von Luther verdeutscht: Elschaddai als allmächtiger Gott (I. Mose XVII, I), Adonai als Herr (II. Mose VI, Vers 3), Eloah (plur. Elohim) als Gott.

150-2 II. Könige II, Vers 23f.

151-1 Im Jahre 63 v. Chr.

152-1 Wörtlich Diener, eine jüdische Sekte in Ägypten.

152-2 Mit Absicht ist „Blaubart“, die theologische Ausdeutung eines Ammenmärchens, hier neben das „Hohelied“ gestellt, ein altjüdisches Liebeslied, das dle Theologen bekanntllich als Liebeslied des „himmlischen Bräutigams“ (Christus) an die Kirche ausgelegt haben.

152-3 Faustus Socinus (1539—1604) leugnete die Gottheit Christi.

154-1 Angeregt durch die Lektüre der „Oraisons funèbres“ von Bossuet und Fléchier, hat der König die obige Predigt im Herbst 1757 begonnen und im Januar 1759 vollendet.

155-1 Epistel an die Römer VII, Vers 24.

156-1 Nach Matthäus XXIII, Vers 37.

160-1 Hesekiel XVIII, Vers 23; II. Epistel Petri III, Vers 9.

161-1 Von dem König mit einem Schreiben vom 12. Dezember 1770 an Voltaire in Ferney übersandt.

161-2 L'Infâme, nach Voltaires Schlachtruf gegen die Kirche: „Écrasez l'infâme.“

162-1 In der älteren Logik gebräuchliche Formeln für Vernunftschlüsse.

162-2 Der Mönch Gottschall von Orbais († 868), Anhänger der Augustinischen Prädesiinationslehre, 848 als Ketzer zu lebenslänglichem Kerker verurteilt.

162-3 Laurentius Valla (1407—1465), Humanist und päpstlicher Sekretär, behauptete zuerst die Unechtheit der Konstantinischen Schenkung.

162-4 Berengar von Tours († 1080), Scholastiker, focht die Transsubstantiationslehre an.

162-5 Petrus Waldus oder Valdez, der Gründer des Waldenserordens (nach 1170).

162-6 Petrus de Vinea († 1249), Kanzler des Hohenstaufenkaisers Friedrich II.,. von der Kirche exkommuniziert, 1249 als Hochverräter verhaftet und geblendet.

162-7 Jean Charlier de Gerson (1363—1429), Kanzler der Universität Paris, in Pisa und Konstanz Verfechter de.- Lehre der Präeminenz der Konzile vor dem Papste.

162-8 Fra Paolo Sarpi (1552—1625), italienische: Historiker, Verfasser der „Geschichte des Tridentiner Konzils“ (1619).

162-9 Anspielung auf die Schrift Voltaires: „Instruction du gardien des Capucins de Raguse à frère Pédiculoso partant pour la terre sainte.“

163-1 Der radikale Teil der Hussiten.

163-2 Vgl. S. 166.

163-3 Anhänger des Faustus Cocinus (vgl. S. 152).

163-4 Wiedertäufer.

163-5 Vgl. Bd.VI l, S. 247 s.

163-6 Pierre Gassendi, französischer Physiker (1592—1655), Verfasser der „Institutio astronomica“, der Biographien von Tycho de Brahe und Kopernilus.

163-7 Vgl. S. 17.

163-8 John Toland (1670—1722), englischer Freidenker.

163-9 Thomas Woolsion (1679—1731), englischer Freidenker, Verfasser der Fourth Freegift to the Clergy (1724).

164-1 So hieß die Belagerungsmaschine, die Demetrios Poliorketes erfunden hatte.

165-1 Von dem König mit einem Schreiben vom 9. Juli 1777 an Voltaire überrsandt.

165-2 Josua, Kap. X, Vers 12—14.

165-3 Anspielung auf den Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer.

165-4 2. Mose, Kap. IV, Vers 9, Kap. VII, Vers 20.

165-5 2. Mose, Kap. IV, Vers 3, Kap. VII, Vers 10

165-6 2. Mose, Kap. VIII, Vers 17.

166-1 Hesekiel, Kap. I V, Vers 12.

166-2 Satirische Anwendung der scholastischen, von Aristoteles entlehnten Unterscheidung zwischen Substanz (Wesenheit) und Akzidenzien (Eigenschaften), insbesondere bei der Lehre von der Messe, in welcher durch den Priester die Substanz von Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt wird, während die Akzidenzien unverändert bleiben.

166-3 Anspielung auf die gemäßigte Partei der Hussiten, die sogenannten Utraquisten, die das Abendmahl in beiderlei Gestalt (sub, utraque specie) forderten. Auch das folgende Wortspiel von sub, in und cum (unter, in und mit) bezieht sich auf die Abendmahlslehre.

166-4 Verspottung der von Calvin wiederaufgenommenen Augustinischen Prädestinationslehre, wonach Gott durch „Gnadenwahl“, d. h. durch völlig freien Ratschluß, die Seligkeit der Auserwählten und die Verdammung der Verstoßenen bestimmt. Vgl. den Brief Pauli an die Römer, Kap. IX.

167-1 Die Hostie.

167-2 Der Calvinismus nimmt im Abendmahl nur geistigen Genuß von Christi leib und Blut an: „das bedeutet meinen Leib“, im Gegensatz zum Katholizismus und Luthertum: „das ist mein leib“.

167-3 Anspielung auf Socinus (vgl. S 163).

167-4 Vermutlich eine Satire auf die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bestehende Sekte der Quäker („Zitterer“) oder die seit 1747 von ihnen abgezweigten Shakers, die Musik und Tanz beim Gottesdienst haben.

167-5 Freiübungen.

167-6 Satire aus die Pietisten.

168-1 Vgl. S. 129.

168-2 Die Dienerinnen des mohammedanischen Paradieses.

168-3 Anspielung auf die tanzenden Derwische der Mohammedaner.

168-4 Verspottung der buddhistischen Askese.

169-1 Vgl. I. Mose, Kap. 40 und 41: Buch Daniel.

169-2 Im Buch der „Weisheit Salomonis“ werden ähnliche Lebensregeln nur den Gottlosen in den Mund gelegt. (Ähnlich auch I. Korinther XV, Vers 32.) Dagegen heißt es im „Prediger Salomo“, Kap. XI, Vers 9: „Freue Dich, Jüngling, in Deiner Jugend, und laß Dein Herz guter Dinge sein.“

173-1 Die „Lobrede“ entstand zu Beginn des Jahres 1759.

175-1 Epistel Pauli an die Hebräer, Kap. VII, Vers 1—3.

176-1 Epistel an die Römer, Kap. XI, Vers 33.

178-1 Vgl. „Antimachiavell“, Kap. XIV (Bd. VII, S. 55 ff.).

181-1 Vgl. S. 36.

182-1 Gemeint ist Ciceros Rede: Pro imperio Cu. Pompei (Pro lege Manilia).

183-1 Sprüche Salomonis XXIII, Vers 26.

184-1 1. Korinther VII, Vers 29.

186-1 I. Epistel an Timotheus V, Vers 23.

189-1 Offenbarung Johannis, Kap. IV, VII.

192-1 Für d'Argens vgl. auch S. 132 ff. Die von König Friedrich neubegründete Akademie führte den Namen „Académie Royale des siences et belles-lettre“, und zwar bildete die Schöne Lite, ratur in ihr eine besondere Klasse.

192-2 Anspielung auf das Spottwort „rois fainéants“ (Faulenzer, Könige), das auf die letzten Merowingerkönige geprägt worden ist.

194-1 Vgl. S. 138.

194-2 Vgl. S. 95. 138.

195-1 Gregor VII.

195-2 I. Samuelis XV, Vers 33.

195-3 I. Könige XXII.

195-4 2. Mose XXXII.

195-5 Jüdischer Schriftgelehrter, der 458 v. Chr. eine zweite Schaar Juden aus der babylonischen Verbannung zurückbrachte. Sein Wirken wird im biblischen Buch Esra beschrieben.

195-6 Die Inquisition.

195-7 Gemeint ist die blutige Niederwerfung der aufständischen Iren durch Cromwell (1649).

195-8 Fanatische Katholiken planten, am 5. November 1605 König Jakob I. von England und das Parlament in die Luft zu sprengen.

196-1 Vgl. dazu das Gedicht des Königs: An d'Argens' Bett (Bd. X).

196-2 Wem es gutgeht, der rühre sich nicht.

197-1 Straßenräuber. Vgl. Bd. III, S. 32.

201-1 Prinz Heinrich, der zweite Sohn des Prinzen August Wilhelm und jüngere Bruder des Thronfolgers Friedrich Wilhelm, geb. am 30. Dezember 1747, † am 26. Mai 1767 im Dorfe Protzen bei Ruppin, während des Marsches seines Kürassierregiments, dessen Chef er war, zur Revue nach Berlin.

203-1 Die Ehe der Brüder des Königs, Heinrich und Ferdinand, war kinderlos oder noch ohne männliche Nachkommenschaft. So ruhte nach dem Tode August Wilhelms (1758) die Zukunft der Monarchie nur auf dessen Söhnen Friedrich Wilhelm und dem jüngeren Heinrich.

204-1 Pierre Ricaud de Tiregale, Oberst im Ingenieurkorps.

204-2 Vgl. S. 40f. 90. 96.

206-1 Der Ehe des Prinzen Friedrich Wilhelm mit der Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel entsproß am 7. Mai 1767 die Prinzessin Friederike.

208-1 Marcus Claudius Marcellus, der Neffe und Schwiegersohn des Kaisers Augustus, starb 23 v. Chr. im Alter von 20 Jahren.

208-2 Germanicus starb 19 n. Chr., 33 Jahre alt.

211-1 Der Tag der Verlesung in der Akademie sieht nicht fest.

211-2 Mathurin Veissière la Croze (1661 bis 1739), Benediktinermönch, dann Bibliothekar in Berlin, ein Polyhistor und Sprachgenie.

213-1 Wilhelm Jakob 's Gravesande (1688—1742), Philosoph und Mathematiker; Peter van Muschenbroek (1692—1761), Naturforscher.

213-2 Jean Baptiste Dubos (1672—1742), Ästhetiker; Samuel Clarke (1675—1729), Philosoph und Theolog; Alexander Pope (1688—1744), Dichter; Abraham Moivre (1667—1754), Mathematiker.

213-3 „Histoire d'un voyage littéraire fait, en 1733, en France, en Angleterre et en Hollande“, Haag 1735.

213-4 Jordan wurde Friedrichs Sekretär und literarischer Berater.

214-1 Damals bekam Jordan die Aufsicht über das Armenhaus, das Arbeitshaus und das Irrenhaus in Berlin.

214-2 Seit 1744 gehörte Jordan auch dem für die Universitäten bestehenden Kuratorium an.

216-1 Vgl. S. 17.

217-1 Die HJansenisten, Anhänger des niederländischen Theologen Cornelius Jansen (1585—1638), wurden vom Papst 1719 in den Bann getan.

217-2 François Joseph Hunauld (1701—1742), berühmter Anatom.

217-3 Vgl. S. 81.

218-1 Traité du feu, 1734; Système sur les maladies vénériennes, 1735.

218-2 Nouveau traité des maladies vénériennes, 1739: Traité du vestige, 1737.

218-3 Aphorismes sur la connaiset la cure des maladies, 1738; Traité de la matière médicale, 1739: Abrégé de la théorie chimique, 1741; Institutions de médecine, 1740.

218-4 Thomas Sydenham (1624 bis 1689), berühmter englischer Arzt.

218-5 Traité de la petite vérole, 1740; Observations de médecine pratique, 1743.

218-6 Wohl die „lnstitutions et aphorismes, avec un commentaire“ (1743).

219-1 Histoire naturelle de l'âme, 1745.

219-2 Vgl. die Vorrede des Königs zum Auszug aus den Kommentaren des Chevalier Folard zur Geschichte des Polybios (Bd. VI).

219-3 Vgl. S. 89. 163.

219-4 Politique du médecin de Machiavel, 1746.

220-1 Der französische Armee-Intendant.

220-2 Ouvrage de Pénélope, ou le Machiavel en médecine, 1748.

220-3 L'Homme-machine, 1748.

220-4 Mémoire sur la dyssenterie, 1750; Traité de l'asthme et et de la dyssenterie, 1750.

220-5 Œvrez philosophiques, 1751.

222-1 Antoine Pesne (1683—1757), Hofmaler in Berlin.

223-1 Francesco Solimena(1657—1747), später, aber glänzender Vertreter der neapolitanischen Malerschule. Sein Hauptwerk, die Freslen der Geschichte des Heliodor in S. Gesù nuovo in Neapel, ist starl durch Raffaels Stanzen beeinflußt.

224-1 Charles le Brun (1619—1690).

224-2 Vgl. S. 6.

224-3 Jacques Blanchard (1600—1638); Louis Boullongne (1609—1674), nebst seinen Söhnen Bon und Louis.

224-4 Hyacinthe Rigaud (1659 bis 1743); Jean Raoux (1677—1734); Jean Baptiste Simon Chardin (1699—1779).

224-5 Jean François Detroy (1679—1752).

224-6 Edme Bouchardon (1698—1762); Jean Pigalle (1714—1785): lambert Sigisbert Adam (1700—1759) und Nicolas Adam (1705—1778).

224-7 Claude Perrault (1613—1688).

225-1 Gemalt von Karl Amadeas Philipp van Loo (1718 bis nach 1790), dem Neffen des oben genannten Charles van Loo (1705—1765).

225-2 Gemeint sind die Neptunsgrotte und die prächtige Marmorkolonnade, die später abgebrochen und beim Bau des Marmorpalais verwandt wurde.

227-1 Mit der obigen Schrift griff der König im November 1752 in den Streit ein, der zwischen dem Mathematiker Samuel König in Leiden und dem Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, um die Priorität der Entdeckung des „Prinzips der Neinsien Aktion“ entbrannt war. Nach diesem Gesetz sollte sich die haushälterische Natur für alle Bewegung stets mit dem kleinsten Kraftmaß begnügen. Maupertuis nahm diese Entdesung für sich in Anspruch, während Samuel König sie Leibniz zuwies. Der Leibnizbrief, auf den sich König bezog, wurde von der Berliner Akademie für eine Fälschung erklärt — wie heute feststeht, mit Unrecht. In einer anonymen Flugschrift „Réponse d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris“ nahm nun Voltaire aus persönlichen Gründen gegen Maupertuis Partei. Gegen sie wandte sich Friedrich im obigen „Brief“. Voltaires Antwort blldete das Pamphlet: „Diatribe du Docteur Akakia, médecin du Pape“, die Friedrich öffentlich verbrennen ließ. Damit war der Bruch zwischen ihm und Voltaire unvermeidlich.

230-1 Maupertuis starb erst am 27. Juli 1759 in Basel.

233-1 Voltaire war am 30. Mai 1778 gestorben.

234-1 Voltaires Vater, François Arouet († 1722), war Notar und später Sportelzahlmeister an der Pariser Rechnungskammer. Über den Ursprung des Pseudonyms Voltaire ist Sicheres nicht bekannt. Es erscheint zuerst 1719 in der Widmung des „Ödipus“ an die Herzogin von Orleans.

234-2 Der „Ödipus“, 1712 begonnen, wurde am 18. November 1718 in Paris aufgeführt.

234-3 Die „Odes philippiques“ von La Grange (vgl. Bd.VII, S. 32).

234-4 Hier liegt eine Verwechslung vor mit Voltaires erster Gefangenschaft in der Basiille (1717/1718), die aber ihren guten Grund in einem höchst anstößigen lateinischen Spottgedicht („Puero !egante“) auf den Regenten hatte.

235-1 Voltaire ging erst im Mai 1726 nach England, und zwar nach feiner zweiten Gefangenschaft in der Bastille. Sie war die Folge einer Forderung, die er dem Chevalier de Rohan wegen einer ihm öffentlich zugefügten Beschimpfung hatte zugehen lassen.

235-2 „La Ligue ou Henri le Grand“ erschien bereits 1723.

235-3 „Élements de la philosophie de Newton“, 1738.

235-4 Bekannter als „Lettres philosophiques“, 1733.

235-5 „Brutus“ wurde 1730 aufgeführt; „Mariamne“ war schon 1724 gespielt worden.

236-1 Vgl. S. 40 f. 90. 96.

236-2 „Les principes de Newton.“

236-3 Die erste Fassung des „Essai sur les mœurs et l'esprit des nations“. Das Werk erschien ohne Wissen und Wollen Voltaires 1753 in Berlin und Holland unter dem Titel „Abrégé de l'histoire universelle“. Erst 1769 gab Voltaire es in der endgültigen Gestalt unter dem Titel „Essai“ usw. heraus.

236-4 „Le Siècle de Louis XIV“, Berlin 1751, 2 Bände.

236-5 „Histoire de Charles XII“, 1731.

236-6 In Luneville residierte König Stanislaus Leszczynski, Ludwigs XV. Schwiegervater, nach seinem Verzicht auf die polnische Krone (1735).

237-1 Nach der ersten Begegnung mit dem König auf Schloß Moyland bei Kleve (11. September 1740) hatte Voltaire Ende 1742 und dann nochmals 1743 am preußischen Hofe geweilt. Vgl. Bd II, S. 149.

237-2 Am 10. Juli 1750 traf Voltaire in Potsdam ein.

237-3 Vgl. S. 227 ff.

237-4 Voltaire verließ Potsdam am 25. März 1753.

237-5 Die Übersiedlung nach Les Délices fand schon im Frühjahr 1755 statt.

237-6 „Der Genfer Bürgerkrieg. Ein Heldengedicht.“ 1767.

238-1 Vgl. S. 3 ff. und Bd. I I, S. 45.

240-1 Vgl. Bd. VII, S. 33.

240-2 Vgl. S. 182.

241-1 Vgl. S. 236.

241-2 Vgl. S. 60.

241-3 Das astronomische Lehrgedicht: Phaenomena.

241-4 Das Lehrgedicht: De rerum natura

242-1 All meinen Besitz trage ich bei mir.

243-1 Vgl. S. 162.

243-2 Vgl. S. 103 ff.

243-3 Vgl. S. 195.

243-4 Vgl. S. 163.

244-1 Jean Galas, ein protestantischer Kaufmann in Toulouse, wurde 1762 gerädert, weil die Geistlichkeit ihn beschuldigte, seinen Sohn, der Selbstmord begangen hatte, ermordet zu haben. Dank Voltaires unermüdlichen Bemühungen wurde er 1765 rehabilitiert und seine Familie entschädigt.

244-2 Sirven, ein Protestant aus Castres, wurde angeklagt, seine Tochter ertränkt zu haben, weil sie katholisch geworden war, und 1764 verurteilt. Unter persönlicher Gefahr setzte Voltaire 1771 die Freisprechung Sirvens und seiner Familie durch.

244-3 Der junge Chevalier de La Barre und zwei Freunde waren 1765 beschuldigt worden, ein Kruzifix verstümmelt zu haben. Er wurde 1766 hingerichtet. Voltaire versuchte umsonst, seinen Mitverurteilten d'Etallonde zu rehabilitieren.

245-1 D'Alembert, aus dessen Berichten der König die Darstellung von Voltaires Tobe schöpft, spricht nur von „viel Kaffee“.

246-1 Am 30. März 1778 wohnte Voltaire nach einem glanzvollen Empfang in der Akademie der Aufführung seiner „Irene“ bei, die sich für ihn zu einer beispiellosen Ovation gestaltete. Nach der Vorstellung wurde seine Büste auf der Bühne mit Lorbeer gekrönt und ihm selbst ein Lorbeerkranz aufs Haupt gedrückt.

246-2 Wie d'Alembert am 16. August 1778 dem König schrieb, hatte Katharina II. Voltaires Bibliothel angekauft und beabsichtigte, sie in einem kleinen Tempel aufzustellen und in dessen Mitte ihm ein Denkmal zu erlichten.

246-3 Taprobane, altgriechischer Name für Ceylon, nach dem Sanskritnamen Tamrapanni.

246-4 Da die Pariser Geistlichkeit verbot, daß Voltaire in der Hauptstadt begraben wurde, mußte er in der Abteikirche von Scellières in der Champagne beigesetzt werden, deren Abt, Abbe Mignot, sein Neffe war. Der Einspruch des Bischofs von Troyes gegen seine dortige Bestattung kam zu spät. 1791 wurde die Leiche auf Beschluß der Nationalversammlung nach Paris übergeführt und mit großem Pomp im Pantheon beigesetzt.

251-1 Die Akademie wurde am 1. März 1765 errichtet. Vgl. Bd. VII, S. 142.

251-2 Der Plan gelangte nicht zur Ausführung; der Unterricht erfolgte vielmehr in der Ritterakademie selbst durch besondere Lehrer.

252-1 Graf Godefroi d'Estrades, französischer Staatsmann und Feldherr († 1686). Vgl. Bd. II, S. 12.

252-2 Arnaud d'Ossat, Kardinal und französischer Staatsmann († 1604).

252-3 Laurent Echard, Histoireromaine depuis la fondation de Rome jusqu'à la translation de l'empire par Constantin (Paris, 1737).

252-4 Joseph Barre, Histoire générale d'Allemagne (Paris, 1748).

253-1 Vgl. S. 50.

253-2 Johann Hübner (1668—1731), Verfasser des 1693 zuerst erschienenen und immer wieder neu aufgelegten Lehrbuches „Kurze Fragen aus der alten und neuen Geographie“.

253-3 Vgl. S. 44 ff.

253-4 Vgl. S. 17.

254-1 Vgl. S.40ff.

254-2 Vgl. Bd. III. S. 8.

256-1 Generalmajor Johann Jobst Heinrich Wilhelm von Buddenbrock, zugleich Chef des Kadettenkorps.

257-1 Die Abhandlung wurde am 15. Dezember 1769 abgeschlossen und 1770 gedruckt. Der als Empfänger des Briefes fingierte Professor Johann Jakob Burlamaqui (1694—1748) lebte in Genf und hat zwei Werke über Völkerrecht verfaßt.

258-1 Vgl. Bd. II, S. 47.

258-2 Vgl. S. 251 ff.

258-3 Für die Kritik des Unterrichts und Lebens auf den Universitäten vgl. S. 88 ff. und das Lustspiel „Die Schule der Welt“ (Bd. IX).

259-1 Vgl. S. 79.

259-2 Vgl. S. 81.

260-1 Vgl. S. 81 und 218.

260-2 Vgl. S. 92.

260-3 Vgl. S. 86.

260-4 Vgl. S. 40 f. 90. 96. 236.

260-5 Wahrscheinlich der Philosophieprofessor Georg Friedrich Meyer in Halle, den der König bei seinem dortigen Besuche am 16. Juni 1754 lennen lernte.

261-1 General von Buddenbrock (vgl. S. 256).

262-1 Vgl. den Kabinettserlaß vom 5. September 1779 an den Staatsminister Freiherrn von Zedlitz (Anhang, Nr. 2).

268-1 Die Schrift wurde für die Académie des Nobles und das Kadettenkorps verfaßt und zugleich mit dem französischen Text in deutscher übersehung von Ramler gedruckt. Der Dialog ist eine Nutzanwendung der Abhandlung „Die Eigenliebe als Moralprinzip“ (vgl. S. 44 ff.).

273-1 Vgl. Band III, S. 120.

273-2 Vgl. dazu S. 37 f.

280-1 Diese von J. J. Rousseau in seinem „Contrat social“ (1762) gebrauchte Bezeichnung des von der Naturrechtslehre angenommenen Vertrages kommt auch in der Abhandlung über die Regierungs, formen und Herrscherpflichten (vgl. Bd. VII, S. 225 ff.) vor.

281-1 Vgl. Bd. VII, S. 165. 215 f.

282-1 Marcus Vipsanius Agrippa, Freund und Feldherr des Kaisers Augustus; Paetus Thrasea und Helvidius Priscus, römische Senatoren, die wegen ihres lauteren Charakters von Kaiser Nero verfolgt wurden; Gnäus Domikius Corbulo, Feldherr unter den Kaisern Claudius und Nero; Gnäus Julius Agricola, Feldherr unter den Kaisern Vespasian und Domitian.

291-1 Vgl. E. 50.

291-2 Lucius Junius Brutus († 509 v. Chr.). Vgl. S. 239.

292-1 Bertrand du Guesclin (1320—1380), Connetable von Frankreich.

292-2 Georg d'Amboise (1460 bis 1510), Kardinal und Minister Ludwigs XII.

292-3 Gemeint ist Franz von Lothringen, Herzog von Guise (1519—1563), und die Eroberung von Calais (1558), das den letzten englischen Besitz in Frankreich bildete.

292-4 Vgl. S. 28.

292-5 Philipp Dormer Stanhope Lord Chesterfield (1694—1773), Staatsmann und Schriftsteller.

292-6 Vgl. Bd. IV, S. 122.

292-7 August der Jüngere (1635—1666), Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Begründer der jüngeren Wolfenbüttler Linie des braunschweigischen Hauses.

292-8 Amalie Elisabeth (1602—1651), Enkelin Wilhelms I. von Oranien, Gemahlin des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, führte nach dessen Tod (1637) die Regentschaft.

293-1 Vgl. Bd. III, S. 16.

293-2 Vgl. S. 36.

293-3 Das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf der Kurfürstenbrücke wurde 1703 errichtet, die Statuen auf dem Wilhelmsplatz vom Feldmarschall Schwerin 1769, von Winterfeldt 1777. Später folgten die von Seydlitz (1784), Feldmarschall Keith (1786), Zielen (1794) und Fürst Leopold von Anhalt-Dessau (1800).

294-1 Oratio post reditum in senatu, Kap. XI, XV.

295-1 Die Erwähnung der Enzyklopädisten begründet der König in dem Schreiben an d'Alembert vom 3. Dezember 1779 mit den Worten: „Ich habe in ihren Werten gelesen, daß die Vaterlandsliebe ein Vorurteil sei.“

296-1 Plutarch, Leben Alexanders, Kap. 60.

305-1 Vgl. S.74ff.

305-2 Vgl. S.75.

306-1 Die Vermählung des Dauphins Ludwig mit Prinzessin Maria Josepha von Sachsen erfolgte am 9. Februar 1747.

306-2 Georg Friedrich Schmidt (1712—1775), 1744 nach Berlin berufen, der Illusstrator der „Œuvres du philosophe de Sanssouci“.

306-3 Innocente Bellavita.

306-4 Giovanna Astrua (†1757).

307-1 David Hume (1711—1776), englischer Philosoph: Pietro Metastasio (1698—1782), geb. in Rom, gest. als Hofdichter in Wien. Vollender der ernsten Operndichtung (opera seria) der Italiener.

307-2 Vgl. S. 305-

307-3 D'Alembert sprach von dem allgemeinen Niedergang der schönen Literatur in Europa.

308-1 Vgl. S. 258 f.

308-2 Vgl. S. 76.

308-3 Vgl. S. 76.

308-4 Vgl. S. 76.

308-5 Oktober 1757 und Januar 1761.

309-1 Vgl. S. 305.

310-1 Vgl. S. 260.

311-1 Vgl. S. 163.

311-2 Die Abhandlung „Über die deutsche Literatur“ (vgl. S. 74 ff.).

311-3 Friedrich Melchior Grimm (1723—1807), der bekannte Mitarbeiter an der Enzyklopädie und Herausgeber der „Correspondance littéraire, philosophique et critique“, die eine vollständige Geschichte der französischen Literatur in den Jahren 1753 bis 1790 bildet.

311-4 Virgil.

311-5 Vgl. S. 308.

311-6 Das italienische Wort dilettante deckt sich nicht völlig mit unsrem Lehnwort, sondern bedeutet Kunstliebhaber.

312-1 Vgl. S. 313 ff.

312-2 In seiner Antwort vom 9. Februar 1781 auf die Zusendung der Schrift über die Literatur (vgl. S. 311) hatte d'Alemoert den Irrtum des Königs berichtigt, der Marl Aurel und Epittet unter den lateinischen Schriftstellern aufgeführt hatte (vgl. S. 84).

313-1 Der obige Erlaß erging auf Grund einer Unterredung, die der König am 5. September 1779 mit dem Chef des geistlichen Departements, dem Minister Freiherrn Karl Abraham von Zedlitz gehabt hatte. Die Vorlage ist deutsch abgefaßt.

313-2 Vgl. S. 87 Anm. 2.

313-3 Vgl. S. 86.

314-1 „Grundlegung einer deutschen Sprachtunst“ (Leipzig 1748).

314-2 Vgl. S. 84.