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Vorwort

Die meisten unserer Geschichtswerke sind zusammengestoppelte Lügen, mit einigen Wahrheiten untermischt. Von der staunenswerten Fülle der uns überlieferten Tatsachen kann man allein die als erwiesen annehmen, die in der Erhebung oder in dem Sturze der Reiche Epoche gemacht haben. Es steht außer Zweifel, daß die Schlacht von Salamis geschlagen und daß die Perser von den Griechen besiegt worden sind. Es ist völlig gewiß, daß Alexander der Große das Reich des Darius bezwungen und daß die Römer die Karthager, den Antiochus und Perseus11-1 überwunden haben. Dies ist um so zuverlässiger, als sie alle diese Länder in Besitz hatten. Noch mehr Glaubwürdigkeit verdient die Geschichte da, wo authentische Berichte von Zeitgenossen vorliegen, wie über die Bürgerkriege zwischen Marius und Sulla, Pompejus und Cäsar, Augustus und Antonius. Man zweifelt nicht im mindesten am Untergange des oströmischen und weströmischen Reiches; denn aus dem zerstückelten Römerreiche sieht man neue Staaten entstehen und Form gewinnen. Treibt uns aber die Wißbegier, auf die Einzelheiten jener fernen Zeiten einzugehen, so geraten wir in ein Labyrinth voller Dunkelheit und Widersprüche, aus dem uns kein Faden hinausführt. Die Vorliebe der Verfasser für das Wunderbare, ihr Vorurteil, ihr blinder Eifer für ihr Vaterland, ihr Haß gegen die Völker, die dem eignen widerstanden, alle diese verschiedenen Leidenschaften, die ihnen die Feder führten, dazu der große zeitliche Abstand zwischen den Ereignissen und deren Niederschrift haben die Tatsachen so entstellt und verschleiert, daß man sie auch mit Luchsaugen jetzt nicht mehr zu durchschauen vermöchte.

Indes entdeckt man unter der Menge der alten Schriftsteller mit Vergnügen Xenophons Beschreibung von dem Rückzuge der Zehntausend, die er unter seiner eigenen Führung nach Griechenland zurückbrachte. Thukydides besitzt fast die gleichen Vorzüge. Mit Entzücken lesen wir in den uns gebliebenen Bruchstücken des Polybius, des Freundes und Gefährten des Scipio Africanus, von den Taten, deren Augenzeuge er gewesen ist. Ciceros Briefe an seinen Freund Atticus tragen das gleiche Gepräge: er spielte selbst eine Rolle in den großen Szenen, von denen er erzählt. Nicht vergessen will ich Cäsars Kommentarien, die mit der edlen Einfalt eines großen Mannes geschrieben sind. Was auch Hirtius gesagt hat11-2, so decken sich<12> doch die Berichte der andern Geschichtschreiber völlig mit den von Cäsar beschriebenen Ereignissen. Aber seit Cäsar enthält die Geschichte nichts als Lobreden oder Satiren. Die Barbarei der folgenden Zeiten hat aus der Geschichte des späteren Kaisertums ein wüstes Chaos gemacht, in dem nur die Aufzeichnungen der Tochter des Kaisers Alexios Comnenos12-1 einigen Wert besitzen, weil diese Prinzessin beschreibt, was sie selbst gesehen hat. Seitdem haben die Mönche, die allein einige Kenntnisse besaßen, Chroniken hinterlassen. Man hat sie in ihren Klöstern gefunden und zur deutschen Geschichte benutzt. Aber was für ein Geschichtsmaterial war das! Die Franzosen haben einen Bischof von Tours, einen Ioinville und das Tagebuch des Estoile12-2 gehabt, schwache, zusammengestoppelte Werke von Leuten, die das aufzeichneten, was der Zufall ihnen zutrug, und die schwerlich recht unterrichtet sein konnten. Seit der Wiedergeburt der Wissenschaften hat sich die Schreiblust zur Schreibwut verwandelt. Wir haben Memoiren, Anekdoten und Berichte in Fülle. Aber man muß sich lediglich an die kleine Zahl der Schriftsteller halten, die hohe Staatsämter bekleideten, die bei den Ereignissen mitwirkten, zum Hofe gehörten oder denen von den Fürsten erlaubt ward, in den Archiven zu forschen. So schrieb der einsichtsvolle Präsident de Thou12-3, so Philipp de Comines12-4, Vargas, der kaiserliche Bevollmächtigte beim Konzil zu Trient, Mademoiselle von Orleans12-5, der Kardinal von Retz12-6 usw. Dazu kämen dann die Briefe des Herrn d'Estrades12-7 und die Memoiren von de Torcy12-8, merkwürdige Denkmale, besonders das letzte, das uns die Wahrheit über jenes oft angezweifelte Testament König Karls II. von Spanien enthüllt.

Diese Betrachtungen über die Ungewißheit der Geschichtsschreibung haben mich oft beschäftigt und in mir den Gedanken angeregt, die wichtigsten Begebenheiten, an denen ich teilhatte oder deren Zeuge ich doch war, für die Nachwelt niederzuschreiben, damit die, welche den preußischen Staat künftig regieren werden, Kunde erhalten von der wahren Lage der Dinge zur Zeit meines Regierungsantritts, von den Ursachen meines Handelns, von meinen Hilfsmitteln, von den Anschlägen meiner Feinde, den Verhandlungen und Kriegen und vor allem von den Ruhmestaten unserer Offiziere, die sich gerechten Anspruch auf Unsterblichkeit erworben haben.

Seit den Umwälzungen, die zuerst das weströmische, dann das oströmische Reich zu Falle brachten, seit dem unermeßlichen Glück Karls des Großen, seit der glänzenden Epoche der Regierung Karls V., nach den dreißigjährigen Wirren, welche die<13> Reformation in Deutschland hervorrief, und endlich nach dem Kriege, der über die spanische Erbfolge ausbrach, ist nichts so merkwürdig und interessant wie der Tod Kaiser Karls VI., des letzten Habsburgers im Mannesstamm, und dessen Folgen.

Der Wiener Hof sah sich von einem Fürsten angegriffen, den er zu einem solchen Wagnis nicht für mächtig genug halten konnte. Alsbald entstand eine Verschwörung von Fürsten und Herrschern, die alle an der großen habsburgischen Erbschaft teilhaben wollten. Die Kaiserkrone kam an das Haus Bayern. Da, als schon alle Ereignisse zum Untergange der jungen Königin von Ungarn zusammenzutreffen schienen, rettete sich diese durch ihre Glaubhaftigkeit und Geschicklichkeit aus der gefährlichen Lage und erhielt sich die Monarchie durch Preisgabe Schlesiens und eines geringen Teiles der Lombardei. Dies war alles, was man von einer jungen Fürstin erwarten konnte, die, kaum auf den Thron gelangt, sogleich den Geist der Regierung erfaßte und die Seele ihres Staatsrates wurde.

Da mein Buch für die Nachwelt bestimmt ist, bin ich von dem Zwange befreit, die Lebenden zu schonen und gewisse Rücksichten zu nehmen, die mit dem Freimut der Wahrheit unvereinbar sind. Ich werde rückhaltlos und ganz laut sagen dürfen, was man sonst nur im stillen denkt. Ich werde die Fürsten schildern, wie sie sind, ohne Vorurteil für meine Verbündeten und ohne Haß gegen meine Feinde. Von mir selbst werde ich nur da reden, wo es unvermeidlich ist, und man wird mir erlauben, alles, was mich selbst betrifft, nach Cäsars Vorbild in der dritten Person zu erzählen, um den häßlichen Schein der Selbstsucht zu vermeiden. Der Nachwelt kommt es zu, uns zu richten; doch wenn wir weise sind, müssen wir ihr zuvorkommen, indem wir uns selbst streng beurteilen. Das wahre Verdienst eines guten Fürsten ist seine treue Hingabe an das allgemeine Wohl, die Liebe zum Vaterlande und zum Ruhme. Ja, zum Ruhme! Denn der glückliche Instinkt, der den Menschen drängt, sich einen Namen zu machen, treibt ihn in Wahrheit auch zu Heldentaten. Er ist die Kraft, welche die Seele aus ihrer Trägheit erweckt und sie zu nützlichen, notwendigen und edlen Taten begeistert.

Für alles, was ich in meinen Denkwürdigkeiten behaupte, es mag sich auf Verhandlungen, Briefe von Herrschern oder Verträge beziehen, liegen die Beweise in den Archiven. Für die Kriegsbegebenheiten kann der Verfasser als Augenzeuge bürgen; mancher Schlachtbericht wurde um drei, vier Tage aufgeschoben, um ihn genauer und zuverlässiger zu liefern.

In diesen Denkwürdigkeiten wird die Nachwelt vielleicht mit Erstaunen von geschlossenen und wieder gebrochenen Bündnissen lesen. Ähnliche Beispiele sind zwar in der Geschichte allgemein, aber das würde den Verfasser dieses Werkes nicht rechtfertigen, wenn er keine besseren Gründe zur Entschuldigung seines Verhaltens hätte.

Das Wohl des Staates soll die Richtschnur der Fürsten sein. Die Fälle, wo Verträge gebrochen werden dürfen, sind folgende: 1. wenn der Bundesgenosse seine Verpflichtungen nicht erfüllt, 2. wenn er uns hintergehen will und uns kein andrer<14> Ausweg bleibt, als ihm zuvorzukommen, 3. wenn eine höhere Gewalt uns niederdrückt und uns zum Bruch unsres Bündnisses zwingt, und endlich 4. wenn die Mittel zur Fortsetzung des Krieges erschöpft sind. Es ist nun einmal Schicksal, daß von dem leidigen Geld alles abhängt. Die Fürsten sind die Sklaven ihrer Mittel. Das Staatswohl ist ihr Gesetz, und zwar ein eisernes Gesetz. Ist ein Fürst verpflichtet, seine Person für seine Untertanen zu opfern, wieviel mehr muß er ihnen Bündnisse opfern, deren Fortdauer ihnen schädlich werden würde. Beispiele von solchen Vertragsbrüchen sind in der Geschichte allgemein. Ich will sie nicht alle entschuldigen, aber das behaupte ich: es gibt Fälle, wo die Not oder die Klugheit, die Überlegung oder die Wohlfahrt des Landes die Fürsten zum Vertragsbruch zwang, als ihnen kein andres Mittel blieb, den Staat vom Untergange zu retten. Hätte Franz I. den Vertrag von Madrid (1526) erfüllt, so hätte er durch Abtretung von Burgund sich einen Feind in das Herz seiner Staaten gesetzt; damit wäre Frankreich in den unglücklichen Zustand zurückgesunken, worin es sich unter Ludwig XI. und Ludwig XII. befand. Hätten die Fürsten des Schmalkaldischen Bundes nach dem Siege Karls V. bei Mühlberg14-1 sich nicht durch den Beitritt Frankreichs verstärkt, sie hätten unvermeidlich die Ketten tragen müssen, die der Kaiser ihnen seit langem schmiedete. Hätte England nicht das seinen Interessen so nachteilige Bündnis Karls II. mit Ludwig XIV. gebrochen14-2, so wäre seine eigne Machtstellung durch das Übergewicht Frankreichs im europäischen Konzert stark erschüttert worden. Der Weise, der die Folgen in den Ursachen voraussieht, muß den Ursachen, die seinem Vorteil so schroff entgegenstehen, rechtzeitig begegnen.

Ich möchte mich über diesen heiklen Gegenstand, der noch gar nicht methodisch abgehandelt worden ist, genauer auslassen. Es scheint mir klipp und klar festzustehen, daß ein Privatmann sein Wort gewissenhaft halten muß, auch wenn er es unbedachtsam verpfändet hat. Wird ihm das Wort gebrochen, so kann er Schutz bei den Gesetzen suchen, und was auch daraus entsteht, so hat doch immer nur ein einzelner zu leiden. Aber vor welchem Gericht soll ein Herrscher klagen, wenn ein andrer Fürst ihm sein Versprechen bricht? Vom Wort eines Privatmannes hängt nur das Unglück eines einzelnen ab, vom Worte der Herrscher Wohl und Wehe ganzer Völker. Die Streitfrage läßt sich so formulieren: ist es besser, wenn das Volk zugrunde geht oder wenn der Fürst seinen Vertrag bricht? Wer wäre so schwachsinnig, bei Entscheidung dieser Frage zu schwanken? Die zuvor angeführten Fälle zeigen, daß man, um über die Handlungen eines Menschen zu urteilen, vorerst reiflich erwägen muß, unter welchen Verhältnissen er sich befand, wie sich seine Bundesgenossen betrugen, welche Mittel ihm zur Erfüllung seiner Versprechungen zur Verfügung standen und welche ihm fehlten. Wie gesagt, der gute oder schlechte Zustand der Finanzen<15> ist gleichsam der Puls eines Staates und hat auf politische und militärische Geschäfte mehr Einfluß, als man glaubt und weiß. Das Publikum, das solche Einzelheiten nicht kennt, urteilt nur nach dem äußeren Schein und muß sich deshalb in seinen Entscheidungen irren. Die Klugheit verbietet, ihm die Augen zu öffnen. Denn es wäre der Gipfel der Unvernunft, aus eitler Ruhmsucht die Schwäche des Staates selbst zu verraten. Die Feinde würden sich über eine solche Entdeckung sehr freuen und sie ungesäumt ausnutzen. Die Überlegung verlangt also, dem Publikum die Freiheit seines dreisten Urteilens zu lassen; und da man sich bei Lebzeiten nicht verteidigen kann, ohne das Staatsinteresse in Gefahr zu bringen, so muß man sich mit einer Rechtfertigung vor der unparteiischen Nachwelt begnügen.

Vielleicht interessiert es, wenn ich nun noch einige allgemeine Betrachtungen über die Begebenheiten meiner Zeit hinzufüge. Ich sehe zunächst, daß kleine Staaten den größten gewachsen sind, wenn sie sich keine Mühe verdrießen lassen und ihre Geschäfte in Ordnung halten. Ich finde, daß in den großen Reichen Mißbräuche und Schlendrian die Regel sind, daß sie sich nur durch ihre gewaltigen Hilfsmittel und durch ihre innere Schwerkraft erhalten. Die Kabalen ihrer Höfe würden minder mächtige Staaten zugrunde richten; so aber richten sie wohl einigen Schaden an, heben jedoch das Gewicht zahlreicher Heere nicht auf. Ich bemerke, daß Kriege, die man fern von seinen Grenzen unternimmt, nicht den gleichen Erfolg haben wie die in der Nähe des Vaterlandes geführten. Sollte dies nicht an einem uns natürlichen Gefühl liegen, nach dem es uns rechtmäßiger dünkt, sich zu verteidigen, als seine Nachbarn anzufallen? Aber am Ende ist der physische Grund doch stärker als der moralische: die Schwierigkeit nämlich, weitab von der Landesgrenze für Lebensmittel zu sorgen, rechtzeitig Ersatz der Mannschaft, der Pferde, der Kleidungsstücke und des Kriegsbedarfs herbeizuschaffen. Dazu kommt, daß die Truppen, je weiter sie sich in fremde Länder hineinwagen, desto mehr fürchten, daß ihnen der Rückweg abgeschnitten oder doch äußerst erschwert wird.

Ich sehe, welch ausgesprochene Übermacht die englische Flotte über die vereinigte französische und spanische Flotte hat, und erstaune, daß die Seemacht Philipps II., die der englischen und holländischen einst überlegen war, ihr großes Übergewicht nicht hat behaupten können. Auch bemerke ich mit Verwunderung, daß alle diese Rüstungen zur See mehr zum Prunk als zum wirklichen Nutzen dienen und daß sie weder den Handel schützen, noch seine Zerstörung hindern. Auf der einen Seite steht der König von Spanien, Herr von Peru, aber in Europa verschuldet an seine Staats- und Hofbedienten in Madrid; auf der andern Seite der König von England, der die Guineen, die dreißigjähriger Gewerbfleiß ihm eingebracht hat, mit vollen Händen vergeudet, nur um die Königin von Ungarn und die Pragmatische Sanktion aufrechtzuerhalten. Trotzdem muß diese Königin doch einige Provinzen opfern, um das übrige zu retten. Die Hauptstadt der Christenheit steht dem ersten besten offen, und der Papst wagt nicht, gegen die, welche ihm Kriegssteuern aufbürden, seinen Bannstrahl zu schleudern;<16> vielmehr muß er sie segnen. Italien ist von Ausländern überschwemmt, die sich um seine Unterjochung schlagen. Wie ein wütender Bergstrom reißt das Beispiel Englands die Holländer mit in einen Krieg, der sie gar nichts angeht; und diese Republikaner, die zur Zeit, als Helden wie Eugen und Marlborough ihre Heere befehligten, Deputierte entsandten, um die Kriegsunternehmungen zu leiten, senden jetzt, wo ein Herzog von Cumberland an der Spitze ihrer Truppen steht, niemanden hin. Auch der Norden fängt Feuer, und es entbrennt ein für Schweden verhängnisvoller Krieg. Dänemark wird aufmerksam, gerät in Bewegung, beruhigt sich aber wieder. Sachsen wechselt zweimal die Partei, doch in beiden Fällen mit dem einzigen Erfolg, daß es die Preußen ins Land zieht und sich zugrunde richtet. Das Widerspiel der Ereignisse ändert die Ursachen des Krieges, aber die Wirkungen bleiben, obwohl die Ursachen verschwunden sind. Das Glück ist launisch und wechselt rasch die Partei; aber Ehrgeiz und Rachsucht nähren und erhalten das Feuer des Krieges. Es ist, als sähe man einen Haufen Spieler, die ihren Verlust wieder wettmachen wollen und die Partie nicht eher aufgeben, als bis sie alles verspielt haben. Fragte man einen englischen Minister: „Welcher Grund treibt euch, den Krieg so in die Länge zu ziehen?“ so würde er antworten: „Weil Frankreich die Kosten des nächsten Feldzuges nicht mehr aufbringen kann.“ Stellte man einem französischen Minister die gleiche Frage, so würde die Antwort ungefähr ebenso lauten. Das traurigste bei dieser Politik ist, daß sie mit Menschenleben ihr Spiel treibt und daß so verschwenderisch vergossenes Menschenblut umsonst geflossen ist. Denn könnten durch einen Krieg die Grenzen dauernd bestimmt, könnte durch ihn das unter den Fürsten Europas so nötige Gleichgewicht der Macht hergestellt werden, so könnte man die Gefallenen noch als Schlachtopfer zum Besten der öffentlichen Sicherheit und Ruhe ansehen. Aber man braucht sich nur Provinzen in Amerika zu mißgönnen, und sofort zerfällt Europa in entgegengesetzte Parteien, die sich zu Lande und zur See bekämpfen. Die Ehrgeizigen sollten doch vor allem bedenken, daß die Waffen und die Kriegskunst in Europa überall so ziemlich gleich sind und daß die Bündnisse gewöhnlich eine Gleichheit der Kräfte zwischen den kriegführenden Parteien herstellen, sodaß die Fürsten zu unserer Zeit von ihren größten Erfolgen nicht mehr erwarten können, als durch wiederholte Siege eine kleine Grenzstadt oder einen Landstrich zu erobern, der die Zinsen der Kriegskosten nicht einbringt und dessen ganze Bevölkerung nicht die Zahl der Bürger erreicht, die in den Feldzügen gefallen sind.

Wer noch ein Herz im Busen hat und Verstand genug, diese Dinge kaltblütig zu betrachten, den muß das Unglück rühren, das die Staatsmänner aus Mangel an Überlegung oder aus Leidenschaft über die Völker bringen. Die Vernunft schreibt uns hierfür ein Gesetz vor, von dem nach meiner Meinung kein Staatsmann abweichen darf. Es lautet: Man ergreife die günstige Gelegenheit, um ein Unternehmen auszuführen, suche sie aber nicht herbeizuzwingen, indem man alles aufs Spiel setzt. Es gibt Augenblicke, die man mit Aufbietung seiner ganzen Tatkraft<17> ausnutzen muß; aber es gibt auch andre, wo die Klugheit uns gebietet, untätig zu bleiben. Dieser Gegenstand verdient das tiefste Nachdenken; denn man muß nicht nur die Sachlage gründlich prüfen, sondern auch alle Folgen einer Unternehmung voraussehen; man muß die eignen Mittel gegen die seiner Feinde abwägen, um zu beurteilen, wohin das Übergewicht geht. Entscheidet hier nicht der Verstand allein und mischt sich Leidenschaft darein, so kann eine solche Unternehmung unmöglich von Erfolg gekrönt werden. Die Staatskunst erfordert Geduld, und der geschickte Mann muß seine Meisterschaft darin suchen, stets zur rechten und gelegenen Zeit zu handeln. Die Geschichte liefert uns nur zu viele Beispiele von leichtsinnig unternommenen Kriegen. Man braucht sich nur an das Leben Franz l. zu erinnern und an den von Brantôme berichteten Anlaß zu dem unglücklichen Feldzuge in der Lombardei, der mit der Gefangennahme des Königs bei Pavia endete17-1. Man braucht nur zu sehen, wie wenig Karl V. nach der Schlacht bei Mühlberg die gute Gelegenheit ausnutzte, Deutschland zu unterjochen. Man braucht nur die Geschichte des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zu betrachten, um einzusehen, wie übereilt er sich in eine Unternehmung einließ, die über seine Kräfte ging17-2. Und aus unserer neuesten Zeit erinnere ich an Maximilian von Bayern17-3, der im Erbfolgekriege, als sein Land von den Verbündeten gleichsam eingeschlossen war, auf die Seite der Franzosen trat und dadurch seine Staaten verlor. In noch neuerer Zeit gibt uns König Karl XII. von Schweden einen noch schlagenderen Beweis für die schlimmen Folgen, die Eigensinn und falsche Entschlüsse der Fürsten über die Untertanen bringen. Die Geschichte ist die Schule der Herrscher: sie müssen aus den Fehlern der vergangenen Jahrhunderte lernen, um sie zu vermeiden und einzusehen, daß man sich ein System entwerfen und es Schritt für Schritt befolgen muß, und daß allein der, welcher seine Schritte am richtigsten berechnet hat, denen überlegen sein kann, die weniger planmäßig verfahren als er.


11-1 König Antiochus III. von Syrien; König Perseus von Mazedonien.

11-2 Aulus Hirtius, der unter Cäsar in Gallien gefochten hatte, setzte dessen Kommentarien fort.

12-1 Anna Comnena, die Tochter des oströmischen Kaisers Alexios I. (1081—1118), beschrieb in der „Alexias“ das Leben ihres Vaters.

12-2 Gregor von Tours, Verfasser einer Kirchengeschichte Frankreichs (539—593); Jean de Joinville, Geschichtsschreiber Ludwigs IX. († 1318); Pierre de l'Estoile († 1611).

12-3 Jacques Auguste de Thou († 1617), französischer Staatsmann und Geschichtsschreiber.

12-4 Philippe de la Clite de Comines, französischer Staatsmann und Geschichtsschreiber († 1509).

12-5 Anna Maria Luise von Orleans, gewöhnlich Mademoiselle von Orleans genannt, Herzogin von Montpensier († 1693).

12-6 Jean Gondi, Kardinal von Netz, das Haupt der Fronde († 1679).

12-7 Graf Godefroi d'Estrades, französischer Staatsmann und Feldherr († 1686).

12-8 Jean Baptiste Colbert, Marquis be Torcy, französischer Staatsmann († 1746).

14-1 24. April 1547.

14-2 Im Vertrag von Dover (1670) hatte sich Karl II. mit Ludwig XIV. verbündet; im Vertrag von Wien (1689) schloß sein Nachfolger, Wilhelm III., sich den Gegnern Frankreichs an.

17-1 1525. Gemeint sind „Die Lebensbeschreibungen französischer und fremder berühmter Männer und großer Feldherren“ von Pierre de Bourdeilles, Seigneur de Brantôme († 1614).

17-2 Friedrich V. ließ sich 1620 zum König von Böhmen krönen; sein Unternehmen scheiterte durch die Niederlage in der Schlacht am Weißen Berge.

17-3 Kurfürst Maximilian II. Emanuel der im Spanischen Erbfolgekrieg an Frankreichs Seite focht.