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Denkschrift151-1
(19. Dezember 1782)

Es wird jetzt möglich, bestimmtere Mutmaßungen über die Beziehungen zwischen dem Kaiser und Rußland151-2 zu hegen. Der letzte Bericht von Görtz und Riedes 151-3 orientiert uns über die Lage der Dinge etwas besser als zuvor. Ich muß also alle Tatsachen gut verknüpfen, um in diesen kritischen Zeitläuften ein maßvolles und kluges Betragen einzuhalten. Meine Betrachtungen haben mich zu folgenden Schlüssen geführt.

Preußen muß sich ruhig verhalten und zusehen, ob die Tatsachen dem uns gemeldeten Benehmen der beiden Kaiserhöfe entsprechen. Zweitens muß man abwarten, wie Frankreich diese Schilderhebung des Kaisers aufnehmen wird, und welche Maßregeln er trifft, um die Pforte, Frankreichs Verbündete, zu erdrücken; drittens, welche Partei England ergreifen wird.

Nach alledem bleibt uns die Wahl zwischen zwei Entschlüssen. Entweder müßten wir, wenn unser Bündnis mit Rußland151-4 ganz in die Brüche geht und Frankreich sich völlig mit dem Wiener Hof überwirft, ein Bündnis mit Frankreich suchen. Oder wir müßten durch einige Demonstrationen — nicht jetzt, sondern nach dem zweiten Kriegsjahr - Vorteil aus diesem Kriege zu ziehen suchen, d. h. den Versuch machen, uns in Polen Gebietszuwachs zu verschaffen, ohne uns mit Rußland zu verfeinden, somit also am Bündnis mit Rußland festzuhalten. Dieser zweite Entschluß hätte den Vorteil, daß wir den Krieg mit Österreich vermeiden, zu dem Frankreich uns sicherlich drängen würde, und zweitens, daß trotz der großen Erwerbungen, die Rußland<152> und Österreich zweifelsohne machen werden, das Machtverhältnis ungefähr das gleiche bleibt.

Ein großes Glück für uns ist die Unterzeichnung der Friedenspräliminarien zwischen den kriegführenden Mächten152-1, der der Friede auf dem Fuße folgen wird. Ich glaube sogar, daß die Bedrängnis der Türkei zur Annäherung Frankreichs an England beigetragen haben mag.

Ich gestehe, daß diese hingeworfenen Gedanken zur Regelung unseres Verhaltens nicht hinreichen. Vielmehr wird sich bei reiflicher Erwägung der gegenwärtigen Lage zu diesen ersten Gedanken noch manches hinzufügen, manches von ihnen abstreichen lassen. Ich teile sie Ihnen frischgebacken mit; sie sollen nur als Leitsatz dienen, je nach den Gesichtspunkten, unter denen man die gegenwärtige Lage betrachten mag. Es ist klar, daß die weiteren Berichte sowohl aus Petersburg wie aus Wien zur richtigen Kombination unseres Verhaltens noch vielbeitragen können; denn in solchen Fällen darf man nicht bloß von heute auf morgen rechnen, sondern muß wie bei einer mathematischen Aufgabe vorgehen: wenn alles bestimmt ist, muß man es Punkt für Punkt befolgen, ohne Seitensprünge zu machen, wofern nicht ein unerwartetes Ereignis die gegenwärtigen Kombinationen völlig umwirft...


151-1 Dle obige Denkschrift wurde dem Kabinettsmimster Graf Finckenstein übersandt.

151-2 Im Mai 1781 hatten Katharina II. und Joseph II. ein Defensivbündnis auf 8 Jahre geschlossen. Im September 1782 eröffnete dle Zarin dem Kaiser ihren Plan der Aufteilung der Türkei; neben neuen russischen Erwerbungen handelte es sich um die Aufrichtung eines griechischen Kaisertums in Konstantinopel unter ihrem Enkel Konstantin als russischer Sekundogenitur, sowie um die Bildung eines Zwischenstaats Dacien aus Bessarabien und den Donaufürstentümern unter einem Herrscher griechischen Glaubens. Zugleich stellte sie dem Kaiser anHelm, sich selbst einen Anteil von der Türkei zu wählen.

151-3 Die preußischen Gesandten in Petersburg und Wien.

151-4 Im Jahre 1777 war das Bündnis bis 1788 verlängert worden.

152-1 Am 30. November 1782 wurden die Präliminarien zwischen England, Frankreich und Spanien zu Versailles unterzeichnet am 3. September 1783 folgte der definitive Friedensschluß.