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Die Geistlichen ihrerseits trachten, ihn abergläubisch und bigott zu machen. Sie suchen ihn zu einem Wesen heranzubilden, das den Gründern der Mönchsorden gleicht. Seine geringfügigsten Handlungen rechnen sie ihm zum Verbrechen an, damit sein geängstigtes Gewissen in steter Furcht vor der ewigen Höllenqual schwebe und sich desto williger von ihnen beherrschen lasse. Sie prägen ihm tiefe Verehrung für das Priestertum ein, heiligen Abscheu gegen jede andere Religion als die seiner geistlichen Erzieher. Kurz, indem sie ihm geschickt den Teufel an die Wand malen, gelingt es den Priestern, ihn nach ihrem Gutdünken zu beherrschen.

Zu den ehrgeizigen und selbstsüchtigen Plänen der Minister und Geistlichen treten die guten Absichten seiner Eltern, die ihn vollends verderben. Sie wollen ihren Sohn zum Musterbild machen. Die guten Leute begreifen nicht, daß er ein Trottel wäre, wenn er keine Leidenschaften hätte. Trotzdem wünschen sie sehnlichst, daß er leidenschaftslos sei. Sie wollen ihn zum Gelehrten erziehen und pfropfen ihm wahllos Gelehrsamkeit in den Kopf. Damit verleiden sie ihm die Wissenschaften für immer oder machen ihn zum vollständigen Pedanten. Um seine Sitten zu bessern, unterdrücken sie tyrannisch seine kleinsten Wünsche. Sie verlangen, daß er mit fünfzehn Jahren die Geistesbildung und die Reife des Urteils besitze, die die Franzosen nicht vor dem vierzigsten Jahre erlangen. Ja, er soll sich sogar in dem Augenblick verlieben, wo sein Vater es wünscht, in die Person, die er ausgewählt hat, und gegen die übrigen Frauen so kühl bleiben wie Priamos gegen die schöne Helena. Die Folge solcher weisen Erziehung ist, daß der Prinz nach dieser Bevormundung ein ganz gewöhnlicher Mensch wird und nach seines Vaters Tode als Herrscher unter der Last der Regierung erliegt.

Dergleichen habe ich während meines Lebens oft gesehen. Ja, mit Ausnahme der Königin von Ungarn und des Königs von Sardinien1 deren Geist über ihre schlechte Erziehung triumphiert hat, sind alle Fürsten Europas nur erlauchte Trottel.

Prüfen wir nun, auf welche Weise man einen Staatsmann heranbilden muß, der alle Pflichten der Regierung zu erfüllen vermag. Ich nehme an, daß es sich um einen Knaben handelt, der gute geistige Anlagen besitzt und kein unausrottbares Lasier auf die Welt gebracht hat. Ihm muß ein Gouverneur mit festem und mUdem Charakter ausgesucht werden, der den vorgeschriebenen Erziehungsplan genau befolgt. Die gleiche Aufmerksamkeit ist der Wahl der Bedienten zu widmen, die zu seinem persönlichen Dienste bestimmt sind, damit er in seiner Jugend nur die Eindrücke in sich aufnimmt, die er empfangen soll. Vom sechsten bis zum zwölften Jahre muß er lesen, schreiben, rechnen lernen, einen kurzen Überblick über die alte Geschichte bekommen, Geographie und die moderne Geschichte von Karl V. bis auf unsere Tage gut kennen lernen. Der Unterricht in Geographie und Geschichte darf nicht trocken und geisttötend sein. Indem man das Gedächtnis eines Kindes anfüllt, muß man


1 Karl Emanuel III. (vgl. E. 163).