<19>teilen, der beim Durchschwimmen eines sehr breiten Stromes ertrinkt, weil er nicht die Kraft gehabt hat, ans andre Ufer zu kommen? Wenn man nicht ganz fühllos ist, wird man Mitleid mit seinem traurigen Geschick haben. Man wird einen Mann beklagen, der so mutig und eines so kühnen und edlen Vorsatzes fähig war, aber von der Natur nicht genug unterstützt wurde. Seine Kühnheit scheint ein besseres Schicksal verdient zu haben, und seine Asche wird mit Tränen benetzt werden. Jeder denkende Mensch muß sich anstrengen, die Wahrheit zu erkennen. Solche Anstrengungen sind unsrer würdig, auch wenn sie unsre Kräfte übersteigen. Es ist schon schlimm genug, daß die Wahrheit für uns unerforschlich ist. Wir dürfen das Elend nicht noch durch Verachtung derer mehren, die bei der Entdeckung dieser neuen Welt Schiffbruch erleiden. Sie sind hochherzige Argonauten, die sich für das Wohl ihrer Mitbürger Gefahren aussetzen. In den Ländern der Einbildung umherzuirren ist in der Tat eine harte Arbeit. Das Klima ist uns unzuträglich, wir kennen die Sprache der Einwohner nicht und verstehen uns nicht darauf, durch den Flugsand jener Gefilde zu schreiten.

„Glauben Sie mir, Philant, wir müssen duldsam gegen den Irrtum sein. Er ist ein feines Gift, das unvermerkt in unser Herz dringt. Ich, der ich mit Ihnen rede, bin nicht sicher, eine Ausnahme zu bilden. Verfallen wir nie in den lächerlichen Dünkel jener unfehlbaren Gelehrten, deren Worte als Orakelsprüche zu gelten haben. Seien wir nachsichtig auch gegen die Handgreiflichsien Irrtümer und rücksichtsvoll gegen die Ansichten derer, mit denen wir zusammen leben. Warum sollen wir die holden Bande, die uns vereinen, einer Meinung zuliebe zerreißen, von der wir selbst nicht recht überzeugt sind? Spielen wir uns nicht als Kämpen für eine unbekannte Wahrheit auf, und überlassen wir es der Einbildungskraft eines jeden, sich aus seinen Ideen einen Roman zu spinnen. Die Zeiten der fabelhaften Recken, die Wundertaten und Schwärmereien der fahrenden Ritter sind vorüber. Einen Don Quichotte bewundert man noch bei Cervantes, aber ein Pharamund, Roland, Amadis und Gandalin1 würden sich dem Gelächter aller Vernünftigen aussetzen, und die Ritter, die in ihre Fußtapfen träten, würde das gleiche Schicksal ereilen.

„Zu bemerken ist noch: um die Irrtümer der Welt auszurotten, müßte man das ganze Menschengeschlecht vertilgen. Für das Glück der Gesellschaft macht es wenig aus, wie wir über spekulative Fragen denken, aber viel, wie wir handeln. Ob Sie Anhänger des Systems Tycho de Brahes oder des der Malabaren sind, ich verzeihe es Ihnen gern, wenn Sie nur menschlich sind. Wären Sie aber der orthodoxeste aller Weltweisen und dabei von grausamem, hartem und barbarischem Charakter, so würde ich Sie stets verabscheuen.


1 Gandalin ist der Schildknappe des Amadis von Gallien in dem gleichnamigen Ritterroman, Pharamund, der sagenhafte erste König der Franlen, Held des einst berühmten gleichnamigen Romans von La Calprenède († 1661), einer sagenhaften Geschichte Frankreichs.