Der König an Voltaire
(8. September 1775)

Sie haben Recht: unsre biedren Germanen stehen erst im Morgenrot der Bildung. Deutschland ist heute auf der gleichen Stufe, auf der sich die Künste zur Zeit Franz' I. befanden. Man liebt sie und verlangt nach ihnen; Fremde verpflanzen sie zu uns, aber der Boden ist noch nicht hinreichend vorbereitet, um sie selber hervorzubringen. Der Dreißigjährige Krieg hat Deutschland mehr geschadet, als das Ausland glaubt. Wir mußten zunächst wieder die Felder bestellen, dann Gewerbfleiß schassen, schließlich etwas Handel treiben. In dem Maße, wie wir darin weiterkommen, entstehen Wohlstand und Luxus, ohne den die Künste nicht gedeihen können. Die Musen wollen, daß die Fluten des Paktolos den Fuß des Parnaß netzen. Man muß sein Auskommen haben, um sich bilden und frei denken zu können. In der Bildung und den schönen Künsten hat Athen denn auch Sparta überflügelt. Geschmack wird sich in Deutschland nur durch besonnenes Studium des klassischen Schrifttums verbreiten, sowohl des griechischen wie des lateinischen und französischen. Zwei oder drei Genies werden die Sprache berichtigen, ihre Barbarei mildern und die Meisterwerke des Auslands bei uns heimisch machen.<311> Meine Laufbahn geht zu Ende. Ich werde diese glücklichen Zeiten nicht mehr erleben. Gern hätte ich zu ihrer Heraufkunft beigetragen. Aber was vermag ein Mensch, der zwei Drittel seines Daseins von steten Kriegen geplagt wird, der die Wunden heilen muß, die sie geschlagen haben, und dessen allzu mäßige Begabung für so große Dinge nicht ausreicht? Unsre Philosophie stammt von Epikur. Gassend311-1, Newton und Locke haben sie berichtigt; ich rechne es mir zur Ehre an, ihr Schüler zu sein — aber nicht mehr.


311-1 Vgl. S. 163.