<105>sich ein Briefwechsel, der, trotz mancher Störungen, bis an das Ende Voltaires, zweiundvierzig Jahre lang fortgesetzt wurde, indem beide Naturen fort und fort auf die gegenseitige Ergänzung hingewiesen blieben. Friedrich teilte dem Freunde seine philosophischen Studien und seine dichterischen Versuche mit, jene zur Erweiterung der eignen Ansicht, diese, um sich auf ihre Fehler aufmerksam machen zu lassen. Er erwies ihm eine bis an Schwärmerei grenzende Verehrung; Voltaires Geisteswerke waren ihm der liebste Besitz; von dem Bilde des Freundes, welches den Schmuck seiner Bibliothek ausmachte und seinem Schreibtische gegenüber hing, sagte er, es sei wie das Memnonsbild, das in den Strahlen der Sonne erklinge und den Geist dessen, der es anschaue, lebendig mache. Voltaires Heldengedicht, die Henriade, beabsichtigte er in einer großen Prachtausgabe, mit Kupferstichen, zu denen Knobelsdorff die Zeichnungen machen sollte, der Welt zu übergeben (ein Unternehmen, das nicht zur Vollendung kam); ein einzelner Gedanke der Henriade, so behauptete er, wiege Homers ganze Iliade auf u. s. w. Er sandte dem Freunde mancherlei sinnige Geschenke zu; ja er schickte in der Person Keyserlings einen eignen Gesandten an Voltaire, der diesem Friedrichs Porträt, von Knobelsdorff gemalt, überbringen mußte und dafür die neuen Schriften Voltaires, namentlich diejenigen, die zur Zeit noch aus mancherlei Gründen das Licht zu scheuen hatten, heimbrachte. Diesen Erwerb, der mit äußerster Vorsicht bewahrt wurde, nannte Friedrich sein Goldnes Vlies.
So war die Zeit, die Friedrich in Rheinsberg zubrachte, recht eigentlich die Zeit der Vorbereitung auf den hohen Beruf, der ihn erwartete. Aber auch unmittelbar schon riefen diese Jahre sehr bemerkenswerte Früchte hervor; verschiedene Schriften, in denen er seine Ansichten und Gesinnungen aussprach, sich selbst und andere klar zu machen. Von geringerer Bedeutung sind unter diesen zunächst seine Gedichte. In letzteren zeigt sich dieselbe Erscheinung wie in Friedrichs philosophischen Studien; denn auch in ihnen tritt, wenigstens in der früheren Zeit, von welcher hier die Rede ist, zumeist nur eine praktische Bezugnahme auf das Leben, zumeist nur die Darstellung moralischer Zustände hervor. Ein wahrhaft ergreifendes Gefühl atmet vornehmlich erst in denjenigen seiner Dichtungen, welche der Zeit des Siebenjährigen Krieges, als die schwere Hand des Schicksals auf ihm lag und alle geistige Spannkraft zum Widerstande hervorrief, angehören. Ungleich wichtiger und merkwürdiger als seine früheren Poesien sind zwei Abhandlungen, die er in dieser Zeit seines Aufenthaltes in Rheinsberg verfaßt hat.
Die eine derselben ist bereits im Jahre 1736 geschrieben und enthält « Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand des europäischen Staatensystems ». Friedrich