Wie schön und lehrreich ist es, die vergangenen Jahrhunderte an sich vorüberziehen zu lassen und die Bande zu sehen, durch die sie mit unserer Zeit zusammenhängen! Die Betrachtung eines Volkes vom rohen Urzustand durch alle Phasen des Fortschritts bis zur Blüte der Kultur ist wie das Studium der Metamorphosen der Seidenraupe, die zur Puppe und schließlich zum Schmetterling wird. Aber wie demütigend ist dies Studium! Nur zu deutlich erkennt man das unumstößliche Naturgesetz, das die Menschen zwingt, vielerlei Ungereimtheiten zu überwinden, ehe sie zu etwas Vernünftigem gelangen. Wenn wir auf den Ursprung der Völker zurückgehen, finden wir sie ausnahmslos im Zustande der Barbarei. Die einen haben in langsamem Trott und auf vielen Umwegen einen gewissen Grad von Vollkommenheit erreicht; die anderen sind in plötzlichem Aufschwung dahin gelangt. Alle sind verschiedene Wege gegangen. Und Bildung, Künste und Industrie haben in den verschiedenen Ländern, wo sie Eingang fanden, von der unzerstörbaren Eigenart des Volkes einen gewissen Erdgeruch angenommen. Das wird uns noch deutlicher, wenn wir Bücher lesen, die in Padua, London oder Paris geschrieben sind. Wir unterscheiden sie ohne Mühe, selbst wenn die Verfasser den gleichen Stoff behandeln. Nur die Mathematik bildet eine Ausnahme.
Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit, mit der die Natur die Charaktere der Völker und der Einzelnen ausstattet, ist ein Zeichen ihres Reichtums, aber zugleich ihrer Sparsamkeit. Denn obgleich von den unzähligen Möllern, die die Erde bedecken, jedes seine besondere Eigenart besitzt, scheinen doch gewisse große Züge, in denen sich das eine vom anderen unterscheidet, unaustilgbar zu sein. Jedes Volk hat seinen Charakter. Er kann durch das größere oder geringere Maß der Erziehung, das ihm zuteil wird, wohl verändert werden, aber niemals verschwinden seine Grundzüge. Es wäre leicht, diese Auffassung durch Belege aus der Natur zu stützen, doch wir wollen uns nicht von unserem Gegenstand entfernen. Es folgt also, daß die Fürsten die Denkart ihrer Völker nie ganz geändert haben, daß sie niemals die Natur zwingen konnten, große Männer hervorzubringen, wenn sie es verweigerte. Es ist wie bei den Bergwerken. Die Fürsten können in ihnen arbeiten lassen, aber die erzhaltigen Adern richten sich nicht nach ihrem Willen. Sie öffnen sich plötzlich und spenden unermeßliche Schätze, und sie versiegen zu Zeiten, wo man am habgierigsten nach ihnen schürft.
Wer Tacitus oder Cäsar gelesen hat, wird noch heute die Deutschen, die Franzosen und Engländer an den Farben wiedererkennen, mit denen jene sie malen. Achtzehn Jahrhunderte konnten sie nicht auslöschen. Wie könnte da eine Regierung das erreichen, was so viele Jahrhunderte nicht vermochten? Ein Bildhauer kann einem Stück Holz die Form geben, die ihm beliebt; er kann daraus einen Äsop1 oder einen Antinous gestalten2, aber nie wird er die Natur des Holzes ändern. Gewisse
1 Der griechische Fabeldichter Äsop war häßlich und bucklig.
2 Erste Fassung: „Er kann daraus ein Krutzifix, eine Venus oder einen Antinous gestalten.“