<234> Sirenentönen. Kurz, die Franzosen gewannen durch ihre Ränke und Kunstgriffe die Herzen, während die Kaiserlichen die Feiglinge erschreckten. Da es in Polen jedoch weit mehr Memmen gibt als Leute, die über Furcht erhaben sind, so nimmt es nicht wunder, daß Stanislaus unterlag.
Gleichwohl wollen wir denen nicht allzusehr mißtrauen, die zur Ausführung ihrer Pläne nur Mittel gebrauchen, die Hochmut und Dünkel ihnen einblasen. Sie schaden sich selbst, indem sie Haß erregen. Ihre Gewalttätigkeit ist ein Gegenmittel gegen das Gift, das ihre ehrgeizigen Pläne mitteilen könnten. Mißtrauen wir vielmehr denen, die uns durch heimliche Ränke, schmeichlerisches Wesen, gespielte Sanftmut in die Knechtschaft locken wollen. Sie werfen uns einen Angelhaken zu, dessen Eisen ein lockender Köder verbirgt. Läßt sich unsere Vorsicht dadurch täuschen, so haben wir unsere Freiheit verwirkt.
Fest steht, daß alles seinen Daseinsgrund haben muß und daß sich die Ursachen aller Ereignisse in früheren Ereignissen finden. So muß auch jedes politische Geschehnis die Folge eines vorhergegangenen sein, das ihm sozusagen zum Dasein verholfen hat. Suchen wir auf Grund dieses Gesetzes aus den jüngsten Begebenheiten und aus den weitschauenden Plänen des Wiener und Versailler Hofes auf das Schicksal zu schließen, das der enge Bund der beiden mächtigsten Fürsten Europas uns zu bereiten scheint.
Offenbar geht der Wiener Hof darauf aus, die Kaiserkrone im Haus Habsburg erblich zu machen. Deswegen hat er die Pragmatische Sanktion1 geschaffen, alle deutschen Fürsien um ihre Bürgschaft angegangen, einen Artikel in den Friedensschluß2 aufgenommen und eine Unmenge von Einzelverträgen abgeschlossen. Das alles zeigt, daß das Haus Österreich dem Reiche mit der Zeit das Wahlrecht nehmen, die willkürliche Macht seines Stammes befestigen und die demokratische Verfassung, die Deutschland seit Urzeiten gehabt hat, in eine monarchische verwandeln möchte. Da das System des kaiserlichen Ministeriums recht einfach ist, so fällt seine Darlegung nicht schwer.
Verwickelter ist das Programm des Versailler Hofes. Wir müssen daher weiter ausgreifen und mehr auf Einzelheiten eingehen.
Der stehende Grundsatz der Herrscher ist, sich zu vergrößern, soweit ihre Macht es gestattet. Die Art der Vergrößerung ist zwar Modifikationen unterworfen und wechselt unendlich, je nach der Lage des Staates, den Kräften der Nachbarn und der Gunst jeweiliger Umstände. Gleichwohl sieht das Prinzip als solches fest, und die Fürsten lassen es nie fallen. Ihr angeblicher Ruhm steht auf dem Spiel — kurz, sie müssen sich vergrößern.
Frankreich ist im Süden von Spanien durch die Pyrenäen getrennt, die eine Art von natürlichem Grenzwall bilden. Die Fortsetzung dieser Grenze bildet das Mittel-
1 Vgl. S. 153.
2 Frankreich erkannte im Präliminarfrieden von 1735 die Pragmatische Sanktion an (vgl. S. 157).