<236> Welcher Zeitpunkt eignete sich mehr dazu, Europa Gesetze zu geben? Welche Konjunktur könnte günstiger sein, um alles zu wagen?
Gegenwärtig sind alle Kurfürsten durch ihre Interessengegensätze entzweit. Die einen werden sich Frankreich in die Arme werfen, um Sondervorteile zu erlangen, und das allgemeine Interesse opfern. Andere werden sich um die Kaiserkrone streiten. Wieder andere werden sich um das Erbe des Kaisers die Köpfe spalten oder von Hoffnungen gebläht, die große Bündnisse in ihnen erwecken, die Fackel des Krieges, Verwirrung und Umsturz überall hintragen. Die schließlich, die sich der überlegenen Macht des gemeinsamen Feindes entgegenstellen könnten, werden nichts unternehmen und ihr Schicksal dem Zufall anheimgeben.
Außerdem hat Frankreich im letzten Friedensvertrage die Pragmatische Sanktion garantiert1. Infolgedessen wird es nach dem Tode des Kaisers unweigerlich in die deutschen Angelegenheiten eingreifen müssen. Seine Einmischung wird in diesem Falle viel gefährlicher werden als sonst, da sie einen guten Schein von Recht für sich hat, und selbst seine Gewalttaten werden einen Nimbus von Gerechtigkeit tragen.
Man beachte ferner, wie sorgfältig Frankreich die Seemächte von jener Garantie fernhält. Glaubt man, diese Ausschaltung aus den Reichsangelegenheiten geschähe ohne Grund? Könnte man wähnen, daß irgend ein oberflächlicher Gedanke des Hochmuts da mitspricht? Ließe sich denken, daß ein Minister, der bei seinen geringsten Schritten Proben von vollendeter Klugheit gegeben hat, nicht größere Absichten verfolgte? Zur Ehre der französischen Politik sei gesagt: sie ist nie so beschränkt, wie man vielleicht glaubt.
Möglicherweise wäre es den Franzosen lieb, den englischen Ministern, die durch die inneren Zwistigkeiten ihres Landes stark beschäftigt sind, etwas Ruhe zu verschaffen. Nichtsdestoweniger ist es ihnen durchaus recht, daß die Seemächte sich nicht in die Geheimverträge der beiden kontrahierenden Höft mischen, damit jene, wenn die Frage der Nachfolge eintritt, keinerlei Vorwand zum Angreifen in die deutschen Wirren haben.
Frankreich treibt seine Vorsicht noch weiter. Es zahlt Subsidien an Schweden und Dänemark, um beide Mächte entweder bloß auszuschalten oder sie gegen diejenigen auszuspielen, die den Plänen und Maßnahmen des französischen Hofes entgegentreten könnten.
So hervorragend die Politik des französischen Hofes ist, man muß doch auch gestehen, daß sie durch das Zusammentreffen der Umstände begünstigt wird. Alle Herrscher, deren Macht und Größe Frankreichs Besorgnis erregen könnten, sind miteinander verfeindet. Frankreich braucht also nur das Feuer der Zwietracht nicht erlöschen zu lassen, sondern muß es vielmehr schüren.
1 Vgl. S. 234.