38. Epistel an das Bett des Marquis d'Argens1
(7. Februar 1754)
O du, geschaffen süßer Rast zum Lohn,
Gerät, umschattet von des Morpheus Mohn,
Dem holden Schlaf als Helfer treu ergeben,
Dem herben Leid zur Sänftigung beschert,
Laß durch mein Lied ein Weilchen dich beleben
Und fühl', 0 Bette, deinen ganzen Wert.
Die Einsicht hat bis heut sich dir verschleiert,
Welch hehrem Geist dein Pfühl den Rücken deckt;
's ist d'Argens, der die Dunkelmänner schreckt,
Den ganz Paris als großen Isaak feiert,2
Der Vorurteil und Dummheit niederstreckt.
Sein fruchtbar Hirn ersinnt auf deinem Kissen
Gar manchen Plan, läßt reifen manchen Band,
Der bald darauf der ganzen Welt bekannt,
Weil die Verleger ihn zu schätzen wissen.
Doch, liebes Bett, was dir dein Glück beschied,
Wie könnte das dein stumpfer Sinn ermessen!
Denn niemals für Corinna war Ovid
Von solcher heißen Liebesglut besessen,
Nie von so wilder Leidenschaft durchdrungen,
Wie dein Marquis für deine Reize zeigt.
So oft er von dir scheidet schmerzbezwungen,
Umsonst, daß seine Qual er uns verschweigt:
Kein Liebender, der jemals treuer war!
1 Vgl. daju S. 104 und die Satire „Lob der Trägheit“ (Bd.VIII, S. 192 ff.). Nach d'Argens' Antwort vom 8. Februar 1754 wurde ihm die obige Epistel um 2 Uhr morgens durch einen Kurier überbracht.
2 Als Verfasser der „Lettres juives“ (vgl. S.104, Anm.5) wurde d'Argens von Voltaire Bruder Isaat genannt.