<115>Noch schlimmer! Meine eigene Sippe schändet
Ihr Blut — sie gibt, ob feige, ob verblendet,
Betrogen oder bösen Sinns, wer weiß!
Widernatürlich ihren Bruder preis
Und bietet, ganz der Heuchelei verfallen,
Sich meinem ärgsten Feinde zu Vasallen. 1
Wer kennt des Schicksals heimliches Gebot,
Das plötzlich unser Glück verkehrt in Not!
O falsche Göttin, deinem raschen Rade
Stürmt blinder Ehrgeiz nach auf steilstem Pfade!
Entweihung wär's der Dichtkunst, buhlt' ich hier
Um deine Gunst und drängte mich zu dir.
Ich weiß, ich bin ein Mensch, muß Leid ertragen,
Und deine Abkehr läßt mich nicht verzagen.
Doch du, mein Volk, für das mein Herz erglüht,
Um dessen Glück sich meine Seele müht,
Vor deinem Elend, unverdient und traurig
Und aussichtslos, in tiefster Brust erschaur' ich.
Der Prunk des Purpurs dünkt mich schal und hohl,
Mein Herzblut gab' ich für des Volkes Wohl.
Hör' du's, mein Volk! Ich opfre frohen Mutes
Dem Vaterland den letzten Tropfen Blutes!
Dein treuer Schirmherr, will ich vorwärts gehen.
Du sollst dem Feinde trotzig widerstehen,
Ich führe dich! Und wo nicht Sieg uns werde,
So bettet mich in der verlornen Erde!
Gerüstet schon, um in die Schlacht zu ziehn,
Welch Trauerklagen hör' ich aus Berlin!
Ertragen muß ich noch den Ruf, den herben,
Grausamen: „Deine Mutter liegt im Sterben2
„Und ist vielleicht nun schon dahin!“ — O Tag,
Du bringst des Unheils allerschwersien Schlag.
Will alles Leid auf meinem Haupt sich häufen?
1 Der Vorwurf richtet sich gegen den Markgrafen Karl Wilhelm Friedrich von Ansbach, den Schwager des Königs.
2 Die Königin-Mutter Sophie Dorothea starb am 28. Juni 1757 (vgl. Bd. III, S. 121). Die Todesnachricht erreichte den König am 1. Juli in Leitmeritz.