58. Der Geiger1
(11. November 1761)
Ein großer Künstler, Herr Vacarmini,
Tartinis würd'ger Schüler auf der Geige,
Durchzog die Welt, bald dort, bald hie,
Auf daß er seine Kunst ihr zeige.
So kam er denn in seinem Wandern
Mit seiner Geige, seinem Spiel
Auch eines schönes Tags nach Flandern,
Wo er aufs äußerste gefiel.
Man staunt ob seinen kühnen Griffen, lauscht
Mit Lust den himmlisch tönenden Akkorden;
Mit einem Wort: man ist berauscht;
Solch Beifall ist ihm nie geworden.
Einst spielt er seinem Hörerkreise vor
Und endet unter donnerndem Applaus.
Als seine Geige schweigt, da naht ein Tor
Und spricht: er bäte eine Gunst sich aus.
Der Meister fragt ihn freundlich, was es sei.
„Löst eine Saite von dem Instrument;
„Es bleiben dann noch ihrer drei:
„Ob Ihr die fehlende ersetzen könnt
„Mit Eurer Fingerfertigkeit?“
Der Künstler drauf: „Was Ihr erdacht,
„Ist neu; ich bin jedoch bereit.
„So sei denn der Versuch gemacht.“
1 Am 5. Januar 1762 schrieb der König an Marquis d'Argens: „Eure provenzalische Einbildungstraft, die stärker und lebhafter ist als die uns vom nordischen Klima verliehene, malt Euch eine lachende Zukunft und angenehme Perspektiven. Ich kann Euch nicht in dem gleichen Ton antworten. Ich überlasse Euch dem Zauber Eurer Illusionen, die Euch Trost bringen, und halte mich an die Geschichte von dem Schüler Tartinis: sie ist die wahrste Allegorie, die es je gegeben hat.“ Das Datum des Gedichts ist das der ersten Fassung, die der König am 28. Dezember 1761 nochmals umarbeitete.