<185>Seht, Not und Leid sind jedermann gemein:
Der beste Grund als Brüder uns zu achten!
Laßt uns des Nächsten Leid zu lindern trachten,
Ihm helfen, dieses Lebens Last zu tragen.
Hoch soll die Flamme unsrer Liebe schlagen:
Die Tugend ist des Seelenfriedens Pfand.
Dies höchste Gut, ein jeder kann's erjagen,
Doch wohl behüten lern' es, wer es fand ...
Je opferfreudiger des Menschen Sinn,
Um so beglückter ist er; ohne Klagen
Gibt er im heiter-männlichen Entsagen
Dem Nächsten Arbeit, Leib und Leben hin.
Mit Strenge dämpft er, wachsam gegen sich,
Den Aufruhr der Begierden in der Brust.
Mild ist der Weise, gütig, brüderlich;
Ihm ist der Menschen Bosheit wohl bewußt,
Doch übt er Duldung, sich nur schont er nicht.
Was tut's, ob Undank, Tücke und Verrat
Ihm dräun? Kein Beispiel ist's, das ihn besticht.
Nur Jähzorn führt ihn auf den gleichen Pfad!
Die Güte ward euch eingepflanzt von droben,
Stärker als Haß, die Unbill zu verzeihn.
An Freunden könntet ihr sie nicht erproben:
So müssen's Feinde denn und Frevler sein.
Den bittren Wermut wünscht ihr euch gelind?
Ertragt die Bösen, wie sie einmal sind!...
Freund, möchtest du der Weisheit Stimme hören!
Welch Ärgernis kann deinen Sinn empören?
Sprich, was an eitlem Lob und Tadel liegt —
Ein leerer Schall, der in die Luft verfliegt!
Du willst mit deinem Ruhm der Enkel Ruhe stören,
Willst, daß die Nachwelt, deiner Taten voll.
Mit dir nur ewig sich befassen soll.
Sieh schärfer zu — dein Irrtum wird dir klar!
Sprich, in der Ewigkeit, die vor dir war,
Spürtest du da, was man von dir gesagt?
Hat dich Menipp1 und Aretin2 geplagt?
1 Griechischer Philosoph, aus der Schule der Cyniler.
2 Pietro Aretino (1491—1556), der berüchtigte Schriftsteller und Pamphletist (vgl. Bd. V, S. 189 und 211).