60. Rede des Kaisers Otho an seine Freunde
nach der Niederlage bei Bedriacum1
(1. Dezember 1761)
Ihr Freunde, tretet näher! Das Geschick
War taub und fühllos gegen unser Sehnen.
Seht — denn mein Herz enthüll ich eurem Blick —
Seht euch zu Füßen tief den Abgrund gähnen!
Vitellius triumphiert, wir sind geschlagen:
Ach! selten hat die Tugend Lohn getragen!
In euren Zügen kündend Gram und Wut,
Ihr seid zu rächen meinen Schimpf gewillt.
Ich weiß, was eures Muts Versprechen gilt!
Ihr wärt bereit, mit eurem Herzensblut
Mir die gesunkne Macht emporzuheben:
Des habt ihr sichre Pfänder mir gegeben!
Doch Hab' ich noch ein Recht auf euer Leben?
Nach Herrschaft lechzt' ich, Ehrgeiz packte mich
Wie jeden Menschen — doch der Taumel wich.
Wie? Jene Macht, die andre mir bestritten,
Mit eurem Blut nur ist ihr Bau zu kitten?
Und soll sich Rom mit eigner Hand zerfetzen,
Das Vaterland wollt ihr zu Tod verletzen,
Um einen Einzigen zu beglücken? Nein!
Muß jemand fallen, soll es Otho sein!
Mein Sterben wird den Bürgerzwist beenden:
So kann ich euch dies eine Mal noch nützen,
Mit einem Streich vor Acht und Bann euch schützen,
1 Nachdem Kaiser Otho im Jahre 69 bei Bedriacum von den Legalen des zum Kaiser ausgerufenen Vitellius geschlagen war, gab er sich selbst den Tod. Vgl. S. 141. 159.