65. Epistel über das Zuwenig und Zuviel an Frau von Morrien1
(März 1765)
Du, die sie einst in meiner Jugend nannten
Den tollen kleinen Wirbelwind,
Sprich, sollen Dir Uraniens Trabanten2
Hier, wo wir höfisch-höflich sind,
Mit ihrem Zirkel regeln Weg und Ziel,
Die Mitte von Zuwenig und Zuviel?
Gedenkt' der Zeit, da ohne Grübeleien
Dein Leben nur von Spielen war ein Reihen,
Da, ob des nächsten Tages unbekümmert,
Dem hellen Heute Du vertraut.
Du wußtest wohl, wohin Dein Auge schaut,
Daß nur für Dich der Morgen schimmert,
Um volle Lust in stetigem Erneuen
Wie Blumen Dir in Deine Hand zu streuen.
Morrien, Du liebenswerte Kreatur,
Wie warst Du klug in Frohsinn und Vergnügen!
1 Freifrau Charlotte Wilhelmine Dorothea von Morrien, geb. von der Marwitz, die Witwe des 1760 verstorbenen Oberhofmeisters der Königin-Mutter. Sie wurde im Juli 1765 Oberhofmeisterin der jungen Prinzessin von Preußen. Wie König Friedrich am 17. Februar 1770 an Voltaire schreibt, bildete den Anlaß zu obigem Gedichte ein Tischgespräch, „wo sich diese Dame über die Schwierigkeit beklagte, die richtige Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig zu finden“.
2 Die Astronomen.