12. An Jordan1
(Bei Übersendung eines Schreibzeugs)
(Mai 1738)
Jordan, ein guter Maler oder Dichter
Soll glänzen durch den Reiz der Ähnlichkeit
Der kühnen Züge, der genauen Lichter
Mit jenem Urbild, dem sein Werk sich weiht.
Der Maler muß, wenn er gewissenhaft,
Im Bilde spiegeln Farben, Mienen, Haltung
Und jeden Eindruck, den Natur verschafft;
Der Dichter, frei von hohler Prunkentfaltung,
Muß auf das Beiwort sehn, damit es ganz
Ihm für die Kunst getreuer Schildrung tauge:
Des einen Urteil ist des andern Auge.
Man malt nicht Cato mit 'nem Rosenkranz,
Petrus im Wams, die Jungfrau voller Flitter;
Die Mode wechselt wie die Jahreszeit.
Ein jedes Alter trägt sein eignes Kleid;
Eins ist voll Lust, das andre trüb und bitter;
Weil jedes andre Neigungen beseelen,
Muß man für jedes andern Ausdruck wählen.
Daß ich nur keinen tollen Reimer finde,
Der faul und roh Fortuna ohne Binde
Und standhaft darzustellen sich erlaubt,
Der Zeit die Schwingen und die Sichel raubt,
Dem Tod verleiht ein frisches Mönchsgesicht,
Statt Nektar Antimon uns wagt zu reichen;
Denn sachgemäßen Zierat kennt er nicht,
1 Vgl. Bd. VII, S. 275: VIII, S. 211 ff.; IX, S. 163 ff.