13. Epistel über die Menschlichkeit
(10. Oktober 1738)
Wir finden Glück nur auf der Tugend Pfaden,
Ein Glück, dem stets das Lasier sucht zu schaden.
Ehrsucht und Liebe, Eigennutz und Ruhm,
Sie äffen uns mit Spuk- und Truggestalten;
Dem Irrwischfeuer gleich, dem dunstgeballten:
Verräterisch treibt's uns im Kreis herum!
Ihr kennt das Märchenschloß, den Sinn berückend,
Durch jeden Zauber holder Kunst entzückend,
Ein Glanzgebild, aus Wundern auferbaut.
Armida schuf's, doch Trug war all sein Prangen;
Kaum, daß ein Auge seinen Glanz erschaut,
War er erloschen, war's in Nichts zergangen.
Fürwahr, ein Abbild lebendigster Art
Des Truges, der ewig die Leidenschaft narrt!
Ein täuschend Äußres, ein lockender Schein
Wird immer aufs neue ihr Schicksal sein.
Ihr Gold ist nur Flitter, ihr Demantschimmer
Ist Fälschung; wohl spricht die Verheißung immer
Von Gütern, von lauter Herrlichkeit —
Was aber herauskommt, ist Herzeleid.
Nein, eins nur ist not, uns allen zumal:
Die Tugend! Sie ist uns Bollwerk und Wall,
Unser Schirm und Schild; in ihrer Hut
Verschränken Lorbeer und Myrte sich
Mit des Ölbaums Zweigen geschwisterlich.
Doch sagt, worin denn eigentlich
Ihr göttlich Wesen und Wirken beruht!
Erleuchte du, Gott, mich, der uns gelehrt
Menschenwürde und -Wert!