15. Epistel an Lord Baltimore1
Über die Freiheit
(Oktober 1739)
Der freie Geist, den man in England ehrt,
— In London heimisch, in Berlin ein Schrecken —
Er, der die Weisheit mannesstark bewehrt,
Betrug und Irrtum in den Staub zu strecken —
Der edle Geist, Mylord, der Sie entstammt,
Er ist's, von dem Ihr großer Fortschritt stammt!
Sonst seufzte ja, frei vom Tyrannenjoch,
Im Bann der Vorurteile London noch;
Der Künste Freistatt und der Weisheit Schule
Säh' in entweihten Hallen blöde Toren
Statt Lockes auf dem Philosophenstuhle,
Und Newtons Ruhmgestalt wär' nie geboren.
In Zeiten, deren Größe uns beschämt,
Da sich der Geist unsterblich hochgeschwungen,
Forschte der Denker kühn und unbezähmt,
Bis er zur Wahrheit sich hindurchgerungen.
Hellas, der schönen Künste Mutterschoß,
Das erste Land, darin die Weisheit blühte,
Das tastend noch um Wahrheit sich bemühte,
Zog der Gedanken hehre Freiheit groß.
Sie war es, die den Held, den Redner machte;
In ihrem Schutz errang der Weise Klarheit.
Geist stand in Ehren; jeder Grieche dachte
Und wollte schöpfen aus dem Born der Wahrheit.
1 Lord Friedrich Baltimore hatte Ende September 1739 in Rheinsberg zu Besuch geweilt.