<39>

13. Epistel über die Menschlichkeit
(10. Oktober 1738)

Wir finden Glück nur auf der Tugend Pfaden,
Ein Glück, dem stets das Lasier sucht zu schaden.
Ehrsucht und Liebe, Eigennutz und Ruhm,
Sie äffen uns mit Spuk- und Truggestalten;
Dem Irrwischfeuer gleich, dem dunstgeballten:
Verräterisch treibt's uns im Kreis herum!
Ihr kennt das Märchenschloß, den Sinn berückend,
Durch jeden Zauber holder Kunst entzückend,
Ein Glanzgebild, aus Wundern auferbaut.
Armida schuf's, doch Trug war all sein Prangen;
Kaum, daß ein Auge seinen Glanz erschaut,
War er erloschen, war's in Nichts zergangen.
Fürwahr, ein Abbild lebendigster Art
Des Truges, der ewig die Leidenschaft narrt!
Ein täuschend Äußres, ein lockender Schein
Wird immer aufs neue ihr Schicksal sein.
Ihr Gold ist nur Flitter, ihr Demantschimmer
Ist Fälschung; wohl spricht die Verheißung immer
Von Gütern, von lauter Herrlichkeit —
Was aber herauskommt, ist Herzeleid.

Nein, eins nur ist not, uns allen zumal:
Die Tugend! Sie ist uns Bollwerk und Wall,
Unser Schirm und Schild; in ihrer Hut
Verschränken Lorbeer und Myrte sich
Mit des Ölbaums Zweigen geschwisterlich.
Doch sagt, worin denn eigentlich
Ihr göttlich Wesen und Wirken beruht!
Erleuchte du, Gott, mich, der uns gelehrt
Menschenwürde und -Wert!
<40>In der Menschen Zusammenleben
Ward uns die Quelle des Glücks gegeben,
Und aus dem Geiste der Menschlichkeit stießt
Jedwedes Glück, das die Welt genießt.
Ohn' ihn ist die Tugend ein dürres Land,
Wie's auch mit Blumen allerhand
Sich schmücken mag — wertloser Putz!
Ist es doch keiner Seele nutz.
Was frommes, wenn ein unerschrockener Held
Für seinen Ruhm, seine Eitelkeit fällt?
Was macht es aus, wenn wirklich Arist —
Mag Cato auch seine Mäßigkeit feiern —
Am Tage ausgekommen ist
Mit baren fünf Dreiern?
Mehrt das mein Wohlsein etwa? Sprecht,
Kommt's mir zugute? Das Menschengeschlecht,
Die Gesellschaft hat keinen Deut davon!
Seht jenes Volk, das kaum erstanden
Aus der Drachensaat, aus der Scholle Banden,
Da erhebt es die Waffen des Krieges schon;
Vor Kadmus' staunenden Augen sofort
Rast's wider sich selber mit Haß und Mord.
Da habt ihr ein Bild,
Wie die Menschheit entartet in Wahnwitz wild,
Wo das Gebot der Natur nicht gilt;40-1
Treu bleib' es in unsrer Brust behütet!

Wär' wohl ein Reich zu denken, darinnen
Das Lasier Herrenrecht könnte gewinnen?
Müßt's nicht, in allen Tiefen zerrüttet,
An sich selber zugrunde gehn?
Wie kann es bestehn?
In seinen Eingeweiden wütet
Verderben; Gift und Galle zersetzt
Das eigne Lebensblut zuletzt;
Ein jeder wollte der Herr dort sein,
Und der Herrscherthron
Wär'' schließlich der Lohn
<41>Für straflosen Frevel und Mord allein.
Verschwörung riefe zu den Waffen
Alle Roheit verwilderter Seelen;
An hundert Mitteln sollt' es nicht fehlen,
Die ihnen trotzen, beiseite zu schaffen.
Erliegend der Faust, erliegend dem Grimme
Des mächtigen Nachbarn, erhübe der Schwache
Vergebens seine stehende Stimme,
Ein Herz, ein fühlendes Herz zu rühren.
Die Wollust der Rache —
Wie gerne stillte sie ihre Wut
Mit zügellosem Übermut
In der Unschuld Blut!
Haß! Haß, der keine Versöhnung kennt,
Allerenden wie eine Kriegsfackel brennt,
In allen Herzen gärt es von Gift.
Und wie eine unverlöschbare Schrift
Auf Marmelstein,
So bliebe die kleinste Beleidigung schon,
Vererbt vom Vater auf den Sohn,
Und müßte gerochen sein.
Wer hätte da noch der Gerechtigkeit acht?
In Staub getreten von der Gewalt,
Ihr zürnender Einspruch kraftlos verhallt
Zu Füßen des Räubers der Macht;
Vorm Frevel, den das Glück gekrönt,
Sänke sie nieder, von Frechheit verhöhnt!
Allein das Glück, eh' man's gedacht,
Hat sich's gewandt: dem Tyrannen, dem dreisten,
Mag es nicht länger Gefolgschaft leisten,
Und schon ist er selber in Not gebracht!
Ein anderer Schurke,41-1 gewandter, gewitzter,
Ein Meisterschelm, hat schnell den Sejan
Im Rausch seiner Schandtaten abgetan
Der erntet, was jener gesät; schon sitzt er
Im Reichtum, den jener so schändlich gewann,
Und tritt seiner Lasier Erbe an!
<42>Nicht wahr, euch schaudert bei diesen Worten?
Was gilt's, es beut die Unmenschlichkeit
Dergleichen Frevel allerorten.
Wohin mit eurem Weh und Herzeleid,
Wenn ihr verkannt vom eignen Vater seid?
Wenn ihr, in eurer Verdammnis und Schmach,
Trübselig eure Tage spinnt?
Wer sagt, wo die Freunde, die Helfer sind?
Ach, keine Seele fragt euch nach!
O Elend, dem kein zweites gleicht,
Wenn Krankheit leise euch beschleicht,
An eurem Leben nagt und nagt!
Wenn ihr, an Leib und Seele zerschlagen,
Zugleich bedrängt von hundert Plagen,
Dahinsiecht, trüb und unbeklagt!
Ein Elternloser, ein Entblößter
Von jedem Helfer, jedem Tröster,
Sterbt ihr vor Gram und Herzeleid
In Elend und Bedürftigkeit.

Unwürdige Menschen, deren starres Herz
Nicht zu erschüttern ist von fremdem Leide,
Ihr gleicht den Götzen, die der blinde Heide
Vergebens ansteht — sie sind Stein, sind Erz!
Ihr Niegerührten! Unglückselige Art,
Die menschlich nicht gezeugt, geboren ward,
Tisiphone und Kerberos, der wilde.
Die haben euch geformt nach ihrem Bilde!
Errötet, Sterbliche: das Tigertier
Ist menschlicher als Menschen so wie ihr,
Menschen wie Kaiser Nero, wie Tiber,
Wie Sulla, jener fürchterliche Würger,
Der sich am Blut berauscht der röm' schen Bürger!
Fürwahr, ein Schrecken der Natur war er
Und eine Geißel Roms. Und sieh, hierher
Gehörst auch du in deinen jungen Tagen,
Ottavian,42-1 von dem Ovid
Später gerühmt in seinem Lied,
<43>Wie sanft doch deine Herrschaft sei zu tragen.
Ein Ungeheuer an Undank warst du
An Cicero, ein feiger Freund dazu;
Der Ehrsucht gabst du die Ehre preis!
Und du erst, schreckliches Triumvirat,
Abscheu meiner Seele! Ein Fluch für die Stadt,
Für euer Geschlecht, für den Erdenkreis!
Entartete Verräterseelen,
Die ihr mit euren Achtbefehlen
Euer Heldentum ganz in Schatten gestellt.
Ihr Herren der Menschheit, Richter der Erden,
Erhaben wie Götter mußtet ihr werden,
Gerecht wie Götter, gnädig wie sie!
Ihr, denen der Himmel das Amt verlieh,
Glück zu bringen der ganzen Welt —
Ja ihr! Vor deren Missetaten
Die eignen Enkel ein Grauen hatten,
Wie habt ihr das Bild der Gottheit entstellt!
Soll denn der Mensch dem Frevler, dem Schuldigen,
In Andacht huldigen?
Väter euerer Untertanen?
Nein, ihre Tyrannen!
Nimmermehr soll mein Weihrauch brennen
Für Götter, die keine Tugend kennen!
Als einst im Louvre mit rasendem Sinn
Die schreckliche Medizäerin
Jenes Blutbad befahl in Paris,43-1
Unschuldiges Volk hinschlachten ließ,
Als den Vorwand für Wut und Rache
Der Glauben hergab: Gottes Sache,
Für Taten der Herrschsucht, der Grausamkeit;
Als Blut den Boden färbte weit und breit —
Sagt, welch ein Dämon, der Nacht entstammt,
Hat damals die blinde Wut entstammt?
Sagt, wäre denn das Menschenherze
Erfüllt von solcher Höllenschwärze?
Fiel's dem Verbrechen erst einmal zum Raub,
Bald ist's verhärtet, fühllos und taub
Wider den Ruf der Natur.
<44>Darum heg' ich Bewunderung nur
Für jene Fürsten, mild und gerecht,
Die einem glücklichen Geschlecht
Als Sterne der Huld sind aufgegangen.
Pompejus war im Kampfe gefällt,
Bezwungen lag vor Cäsar die Welt;
Mit Zittern und Bangen
In seine Hand gegeben waren
All seiner Feinde zersprengte Scharen,
Ihr Los seiner Gnade anheimgestellt;
Und seht, da pries man weit und breit
In Rom nur Cäsars Menschlichkeit.
Nicht durch Gewalt seiner Waffen allein
Wollt' er ein Herr über Seelen sein:
Die Gegner selbst, durch Milde nur bezwungen,
Sie nahten ihm beschämt mit Huldigungen.
So hat's auch der große Heinrich44-1 gehalten:
Wohl dürft' er als herrischer Sieger schalten,
Allein was tat er?
Mild wie ein Vater,
Mit Wohltaten hat er sie überschüttet!
Er kannte den Jammer einer Stadt,
Wo Hungersnot wütet,
Und als großmütiger Gegner hat
Er Hilfteich vor dem Ärgsten sie behütet;
Mehr als das Hochgefühl, Herr zu sein,
Galt's ihm, zu lieben, zu verzeihn.
Wie hörte man den Frankenkönig44-2 sprechen?
Ein Königswort, drin hoher Sinn sich bekundet,
Den keine Unbill versehrt und verwundet!
„Meint ihr“, sprach er, „ich wollte als König rächen
„Die Kränkung, die man mir angetan
„Als Herzog von Orleans?“
Seht Titus, dessen Ruhmgedächtnis
Die Welt als köstliches Vermächtnis
Im Herzen hegt: Beweinenswert,
Verloren deucht' ihn jedesmal
<45>Der Tag, an dem er nicht die Zahl
Der Glücklichen vermehrt!

Doch muß ich wirklich denkenden Wesen
Erst einmal die Leviten lesen
Über die Tugend, die ihnen allein
Wert und Würde kann verleihn?
Unmenschlichkeit! Schon der Name lehrt,
Wie sie hassenswert!
Sie, die uns bei andern ein Entsetzen,
Wir sollten im eigenen Innern sie schätzen?
Ja, diese Strenge, die die Last
Eurer Herrschaft so drückend macht und verhaßt,
Sie sollte nur ein andrer mal
Hochmütig üben euch zur Qual:
Die Hölle riefet ihr zu den Waffen,
Euch Rache zu schassen!

Die Welt ist einem Meere gleich,
An Stürmen und Gefahren reich,
Wo tausendfältig die Klippe ragt;
Am Ufer zu bleiben ist uns versagt.
Im Wogenaufruhr nimmst du wahr,
Wie alles Glück so wandelbar:
Der arme Teufel und der Reiche,
Der König und der Untertan —
Für alle ist die Fahrt die gleiche,
Und gleich gebrechlich jeder Kahn.
Schein's mal, dem sei das Glück gewogen —
Eh er's gedacht, ist er betrogen.
Mag dich ein Weilchen durch die Weiten
Ein Glücksstern leiten,
Ein Weilchen dir ein Glückswind wehn,
Dein Segel blähn —
Schon packt der Sturm dich, an den Klippen
Zerschellt er deines Schissleins Rippen,
Da ist's um deinen Stolz geschehn!
Schickt dann in deiner Angst und Not
Den Retter dir ein gnäd'ger Gott,
Nimmt sich ein wackrer Schiffer dann
<46>Aus warmem Herzen deiner an,
Der auf dein Schrein dir unverweilt
Zu Hilfe eilt,
Der deine Trümmer, der dein Gut
Herausfischt aus der tollen Flut —
Ob du nicht freudig immerdar
Den Tag wirst segnen, der ihn gebar,
Ihn, der dir dein Alles wiedergegeben,
Dein Hab und Gut, dein Sein und Leben?

Der Mensch, bedrängt von Not und Pein,
Wüßt' in der Welt nicht aus noch ein,
Lernt' er nicht, sich mit seinesgleichen
In seiner Schwäche die Hände zu reichen.
Wenn schließlich den Segen der helfenden Tugend
Die Menschheit nicht lernte,
Schutzlos wäre das Alter; die Jugend
Sänke dahin, schon des Todes Ernte!
Im Lebensganzen der großen Gemeinschaft
Bedeutet an seinem Teile ein jeder
Soviel wie ein Rädlein, eine Feder;
Wenn da aus Eigensinn oder Feindschaft
Ein einzelner nicht mittun mag —
Hin ist die Einheit mit einem Schlag!
Doch bleibt sie in allen Nöten bestehn,
Was kann da dem einzelnen Schlimmes geschehn?
Die Welt ist aller Menschenwesen
Großes, gemeinsames Heimatland:
Ob sie entstammt von Iberiens Strand,
Ob Lappen, Syrer oder Chinesen,
Ob Juden, in Aberglauben verrannt,
Ob götzendienerische Heiden —
Sie alle sind mir blutverwandt,
Und tief empfind' ich's, wie sie leiden,
Und zwingend mahnt's: Da hilf, da sei zur Hand!

Wohl dem, der, ganz erfüllt von Menschlichkeit,
Sich selber ehrt im Nächsten allezeit,
Und der den Leidenden, in Nacht gebannt,
Zum Lichte hebt mit treuer Helferhand,
<47>So sehr besorgt um andrer Wohl und Wehe,
Wie er nur wünscht, daß es ihm selbst geschehe!
Das Tagsgestirn auf seinen lichten Pfaden
Seht wärmespendend ihr den Stoff begnaden
Mit Lebenskraft; wenn je es schwände,
Sänk' alles hin, war' Sang und Klang zu Ende.
So waltet durch die Schöpfung allerwegen
Sorgender Weisheit väterlicher Segen,
Kommt allem Leben gleicherweis zugut:
Der liebevollen Turteltaube,
Der gift'gen Natter unterm Laube —
Alles gedeiht in ew'ger Güte Hut.


40-1 Vgl. Bd. VII, S. 98.

41-1 Kaiser Tiberius.

42-1 Vgl. Bd. VII, S. 34; IX, S. 36.

43-1 Gemeint ist Katharina von Medici und die Bartholomäusnacht (1572).

44-1 König Heinrich IV. von Frankreich bei der Belagerung von Paris (1594).

44-2 König Ludwig XII. von Frankreich, bei seiner Thronbesteigung.