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59. Der Stoiker
(15. November 1761)

Ihr Mißvergnügten, die ihr töricht klagt,
Durch eigne Schuld mit Gott und Welt entzweit,
Durch jedes Nichts bestürzt und gleich verzagt,
Rebellisch, wirr und schwankend allezeit,
Ihr, die ihr in der Hütte, im Palast
Stets nach des Glückes Truggebilden faßt —
Steht ab vom eitlen Mühn und Zeitverschwenden!
Verscheucht die Nebel, laßt euch Klarheit spenden!

Wißt, die Natur hat euch im Erdenleben
Dem Wahn, dem Traum, dem Irrtum preisgegeben,
Und euer Glück entspricht dem, was ihr denkt.
Der blinde Trieb, von Unverstand gelenkt,
Erblickt im falschen Schein der Wahrheit Licht.
Unkundig eures Wesens, wißt ihr nicht,
Warum ihr dies begehrt, vor jenem bangt.
O daß ihr nie zum Selbstverstehn gelangt!
Verblendung, Lebensrausch hält den Verstand
Stets an der Oberfläche fest gebannt.
In eures Wesens Tiefen müßt ihr steigen:
Aus Stoff und Geist ist euer Sein gemengt;
Jener ist Staub, doch dieser denkt und lenkt
Und macht des Leibes Kräfte sich zu eigen.
Die Seele ist von allen Himmelsgaben
Das Köstlichste, sie muß den Vorrang haben!
So gebt ihr denn den Leib, das Leben preis!
Doch nicht genug, ergründet auch mit Fleiß,
Warum der Himmel euch mit ihr beschenkt.
Steht wohl der Mensch in dieser Welt allein?
Ist's die Gesamtheit nicht, an der er hängt?
<185>Seht, Not und Leid sind jedermann gemein:
Der beste Grund als Brüder uns zu achten!
Laßt uns des Nächsten Leid zu lindern trachten,
Ihm helfen, dieses Lebens Last zu tragen.
Hoch soll die Flamme unsrer Liebe schlagen:
Die Tugend ist des Seelenfriedens Pfand.
Dies höchste Gut, ein jeder kann's erjagen,
Doch wohl behüten lern' es, wer es fand ...
Je opferfreudiger des Menschen Sinn,
Um so beglückter ist er; ohne Klagen
Gibt er im heiter-männlichen Entsagen
Dem Nächsten Arbeit, Leib und Leben hin.
Mit Strenge dämpft er, wachsam gegen sich,
Den Aufruhr der Begierden in der Brust.
Mild ist der Weise, gütig, brüderlich;
Ihm ist der Menschen Bosheit wohl bewußt,
Doch übt er Duldung, sich nur schont er nicht.
Was tut's, ob Undank, Tücke und Verrat
Ihm dräun? Kein Beispiel ist's, das ihn besticht.
Nur Jähzorn führt ihn auf den gleichen Pfad!
Die Güte ward euch eingepflanzt von droben,
Stärker als Haß, die Unbill zu verzeihn.
An Freunden könntet ihr sie nicht erproben:
So müssen's Feinde denn und Frevler sein.
Den bittren Wermut wünscht ihr euch gelind?
Ertragt die Bösen, wie sie einmal sind!...

Freund, möchtest du der Weisheit Stimme hören!
Welch Ärgernis kann deinen Sinn empören?
Sprich, was an eitlem Lob und Tadel liegt —
Ein leerer Schall, der in die Luft verfliegt!
Du willst mit deinem Ruhm der Enkel Ruhe stören,
Willst, daß die Nachwelt, deiner Taten voll.
Mit dir nur ewig sich befassen soll.
Sieh schärfer zu — dein Irrtum wird dir klar!
Sprich, in der Ewigkeit, die vor dir war,
Spürtest du da, was man von dir gesagt?
Hat dich Menipp185-1 und Aretin185-2 geplagt?
<186>Doch weißt du nichts von ihren Reden allen —
Von welchem Wahn ist dann dein Geist befallen,
Daß du dich sorgst, welch Urteil dir die Welt
— Ob gut, ob schlecht — nach deinem Tode fällt?

Legt er auf uns die dunklen Schwingen schwer,
Und ist des Lebens letzte Glut verglommen,
Hat uns das kühle Grab erst ausgenommen,
So ist die ganze Welt für uns nicht mehr.
Du spürst in dieser Nacht, des Volks Entsetzen,
Nicht, wie die Würmer deinen Leib zersetzen.

Todfeinde, die von Ehrsucht einst erglühten,
Die Göttern gleich zu werden heiß sich mühten,
Die grimmig um die Weltmacht rangen,
Einander unterwarfen und bezwangen —
Sie ließen, war ihr Hassen noch so wild,
Der Nachwelt kaum ein flüchtig Schattenbild!
Ihr Sorgen, Mühen, Grämen ist vergebens:
Ermiß daran, o Freund, den Wert des Lebens!
O Heldenruhm, o Ehrgeiz, Schätze, Würden,
Abbilder ihr des Glücks — o eitle Bürden,
Rasch fortgerissen in des Lebens Drang
Gleich einem Blitz zu jähem Untergang!

Es löst Natur die Bande aller Wesen,
Die sie zu manchen Zwecken auserlesen;
Doch aus Verwesung, aus des Grabes Nacht
Weckt neues Leben ihre Schöpfermacht.
Gleich einem Strome stießt die Zeit, die schnelle,
Ereignis um Ereignis zu bereiten,
Und wie sie schwillt und ebbt in rascher Welle,
Wechseln die Jahre und die Jahreszeiten.
Geburt und Grab, ein ewig Auf und Nieder;
Das Neue sprießt, verwischt des Alten Spur,
Und ewig ändert sie die Dinge wieder:
So unerschöpflich reg ist die Natur.

Und ich, ich sollte murrend widerstreben
Der großen Regel, die das Weltall treibt,
Und wider das Geschehen mich erheben,
<187>Das meinen Bitten taub und fühllos bleibt?
Du grollst vergebens, störrisches Gemüt,
Denn alles, was geschehen muß, geschieht;
Kein Wesen kann des Schicksals Kreise meiden:
So unterwirf dich, lerne dich bescheiden!...
Genieße lieber — laß die eitle Klage —
Das karge Glück, das deine Furcht erstickt,
Geliehen ward es dir für kurze Tage,
Und niemals rein: es ist mit Leid verquickt.
Doch du versetzt: „Ich fühle, bin lebendig,
„Mein Leib ist gegen Schmerzen nicht gefeit.
„Wohl weiß ich, unser Los ist Tod und Leid,
„Doch ist's kein Trost, sag' ich: es ist notwendig.“

Wie? Siehst du nicht, daß uns das Leid hienieden,
Den Guten wie den Bösen, ist beschieden,
Daß es nicht Tugend, Macht und Rang verschont —
Das einzige, was tugendhafte Herzen
Mit denen teilen, drin der Frevel wohnt?
Allein der Feigling fürchtet sich vor Schmerzen:
Standhaftigkeit und tapfrer Sinn erträgt
Das harte Schicksal, wie's ihn immer schlägt...
Es kann dem Körper Streich um Streich versetzen,
Doch unsre Ehr' und Tugend nicht verletzen.
Die Zeit heilt unsre Wunden; im Entschwinden
Stillt sie die Zähren, läßt uns Tröstung finden.
Der Weise weiß, von Zeno aufgeklärt,
Daß sein Verstand ihm Seelenglück beschert.
Oft sind ja Sorgen, Qualen nur Chimären,
Nur Vorurteile aus des Pöbels Lehren:
Der Weise muß sich ihrem Bann entwinden.

Welch Zauber kann an diese Welt euch binden?
Die Erde ist für mich ein Häuflein Staub,
Des Wechsels Spielball und des Zufalls Raub,
Ein Sandkorn nur im schrankenlosen Raum,
Und unser Sein ein Augenzwinkern kaum
Der Ewigkeit; die Gegenwart entflieht,
Das Morgen ist noch nicht, das Gestern schied.
In diesem Wirbel dürstet unser Sinn,
<188>Kaum einen Augenblick gewiß zu leben,
Unstet nach Glück, und seine Wünsche streben
Durch eine lange Flucht von Jahren hin.

Welch wunderlich Gemisch von Lust und Trauer,
Von Wonne, Reue, Ekel und Begier!
Ein Widerspruch klafft fort und fort in dir:
Du fiuchsi dem Schicksal und verlangst nach Dauer.
Was hindert euch, des Lebens überdrüssig,
Es abzukürzen: werdet endlich schlüssig!
Verlaßt dies Jammertal: wie wenig stellt
Man vor in dieser eitlen, falschen Welt?
Ein Leichnam lebt, an dem die Seele hängt,
Durch dessen Not von sich stets abgelenkt,
Zu wirrem Pfianzendasein eingeschränkt.

Blickt auf den Tod mit unverzagtem Mut!
Er ist der einz'ge Hort, der letzte Hafen ...
Wenn unser Leib in tiefem Schlummer ruht
Und ausgelöscht so Geist und Sinne schlafen,
Dann ist die Seele, gegen Schmerz und Wonnen
Empfindungslos, schon diesem Sein entronnen.
Verliert sich unser Leib nicht Tag für Tag?
Stets strömen neue Stoffe auf ihn ein;
Die Nahrung muß ihm frische Kraft verleihn:
Der Leib, der an der Mutter Busen lag,
Ist längst dahin; unmerklich schuf die Zeit
Ein neues Wesen draus; so lebt er bloß
Durch ew'gen Wechsel, stets dem Tod geweiht.
Rasch trifft den einen, andre spät das Los,
Doch eines Tages deckt das Grab uns zu:
So suchen Bach und Strom in gleichem Lauf,
Ihr Bett sich grabend, fern im Meere Ruh;
Ihr Name geht und alles in ihm auf.

Hochmütiger Geist, rebellisch ist dein Trachten!
Du, der auf trümmerreichen Klippen sitzt,
Wo dir Zerstörung rings ins Auge blitzt,
Lern' dich bescheiden und dein Schicksal achten!
Des Todes Schule sei für dich das Leben:
Muß jener unbekannte Geisteshauch,
Der dich beseelt und in dir denkt, entschweben
<189>Im letzten Seufzer, trifft der Schlag ihn auch,
Der deinen Leib zerstört — was hast du dann
Nach diesem Streich zu fürchten? Allem Leid
Enthebt der Tod dich: ist der Sinne Bann
Gebrochen erst, bist du von Schmerz befreit.

Doch überwindet durch der Götter Gnade
Dein Geist den Tod und wird emporgetragen —
Laß ab vom Fürchten: dir geschieht kein Schade!
Den Himmel segne; schäme dich zu klagen!
Gott, der Vollkommne, ist unendlich mild;
Glaub' nicht, daß grollend er im Donnersturm
Herabfährt auf den schwachen Erdenwurm;
Wir sind für ihn ein mitleidwürdig Bild,
Und nach dem Tode finden wir Erbarmen.
Der Güte Gottes sollst du stets vertrauen
Und, wenn Du stirbst, auf seine Hilfe bauen:
Er nimmt dich auf in seinen Vaterarmen!


185-1 Griechischer Philosoph, aus der Schule der Cyniler.

185-2 Pietro Aretino (1491—1556), der berüchtigte Schriftsteller und Pamphletist (vgl. Bd. V, S. 189 und 211).