Anhang
Denkwürdigkeiten (1746)
Vorwort
Viele haben Geschichte geschrieben, aber sehr wenige haben die Wahrheit gesagt. Die einen wollten Anekdoten berichten, die sie nicht kannten, und sie dachten sich welche aus. Andere haben ein Flickwerk aus Zeitungsnachrichten gemacht. Sie haben Bände zusammengeschrieben, die nichts als formlose Anhäufungen von Gerüchten und Volksaberglauben enthalten. Wieder andere haben weitschweifige und abgeschmackte Kriegstagebücher verfaßt. Schließlich hat die Schreibwut einige Autoren verführt, die Geschichte von Ereignissen zu schreiben, die etliche Jahrhunderte vor ihrer Geburt stattfanden. In diesen Romanen sind die wichtigsten Tatsachen kaum wiederzuerkennen: die Helden denken, reden und handeln wie der Verfasser, und was der erzählt, sind Hirngespinste und nicht die Taten derjenigen, deren Leben er berichten soll. Alle diese Bücher verdienen es nicht, auf die Nachwelt zu kommen. Und doch ist Europa mit ihnen überschwemmt, und es gibt Leute, die töricht genug sind, ihnen Glauben zu schenken. Außer dem klugen de Thou1, Rapin de Thoyras2 und höchstens zwei bis drei anderen besitzen wir nur schwache Geschichtschreiber. Man muß sie mit verdoppelter, skeptischer Aufmerksamkeit lesen und zwanzig Seiten voller Fehlschlüsse überschlagen, bevor man nur eine anziehende Tatsache oder eine Wahrheit findet. Wahr zu sein, ist in der Geschichtschreibung also viel; es ist aber nicht alles. Man muß auch unparteiisch sein, mit Wahl und Urteil schreiben und vor allem die Dinge mit philosophischem Blick betrachten und prüfen.
In der Überzeugung, daß es nicht irgendeinem Pedanten noch einem Benediktiner, die im 19. Jahrhundert zur Welt kommen werden, zustehe, die Menschen unseres Zeitalters, unsere Verhandlungen, unsere Intrigen, unsere Kriege und Schlachten
1 Vgl. S. 12.
2 Paul de Rapin-Thoyras († 1725), französischer Geschichtsschreiber.