2. Aus den Denkwürdigkeiten
Vor der Thronbesteigung
Betrachtet man mit politischen Blicken die Lage des preußischen Staates, so bemerkt man unschwer, daß sie zur Offensive wenig geeignet ist. Preußen erstreckt sich in der Länge über 180 deutsche Meilen. Bei Memel stößt es an Rußland, dazwischen schiebt sich Polen; bei Krossen berührt es die Kaiserlichen Staaten; die Kurmark und das Bistum Magdeburg grenzen an Sachsen, Pommern an Schweden. Eingeschoben sind das Land Hannover, die Staaten des Kurfürsten von Köln, und endlich ist das preußische Kleve benachbart mit Holland. Was sollte man bei dieser Lage gegen das Herzogtum Berg unternehmen, wenn dort die Frage der Erbfolge eintrat3-1? Im Rücken hatte man den Kaiser, der sich von Frankreich leiten ließ, den Kurfürsten von Sachsen, der gleichfalls Erbansprüche erhob, Schweden, über das Frankreich ver<4>fügen konnte, und die Nachbarschaft von Hannover, das nur auf eine Gelegenheit lauerte, um Preußen zu demütigen, dank der erblichen Eifersucht zwischen beiden Höfen und einem Rest von Gereiztheit, der seit dem Zerwürfnis des verstorbenen Königs von Preußen mit dem König von Großbritannien4-1, seinem Schwager, bestand. In der Flanke hatte man zudem die Holländer, deren republikanischer Geist die etwaige Erwerbung Bergs durch Preußen nicht dulden wollte, und schließlich in der Front das am schwersten zu bezwingende Hindernis, nämlich die Streitkräfte der französischen Monarchie.
Der Versailler Hof hatte dem Pfalzgrafen von Sulzbach, der einer Seitenlinie angehörte, die Erbfolge in Jülich gewährleistet, um durch diesen Schritt den Kurfürsten von der Pfalz zur Neutralität während des 1732 ausgebrochenen Krieges4-2 zu bewegen. Die französische Politik sah alle festen Plätze am Rhein und die Einfallspforten ins Reich lieber in den Händen kleiner Fürsten, über die sie verfügen konnte, als in denen von mächtigeren, mit denen sie hätte kämpfen müssen, um diese Grenzsperre Deutschlands zu durchbrechen.
Um die dem verstorbenen König gegebene Garantie der Erbfolge ein für allemal zu beseitigen, hatte der Kaiser den Grafen von Seckendorff, der die Verhandlungen darüber geführt hatte, gefangensetzen lassen4-3. Man nahm ihm alle Papiere fort, durch die er seinen Schritt rechtfertigen konnte; dadurch wurde er öffentlich dementiert. Bei diesem Sachverhalt wird man leicht einsehen, daß ich gezwungen war, mich an das mit dem verstorbenen König über diese Erbfolge getroffene Abkommen zu halten, was weder mein Vorteil war, noch meinen Ehrgeiz befriedigte.
Das Herz blutete mir von all den Demütigungen, die man dem verstorbenen König in seinen letzten Regierungsjahren zugefügt hatte. Europa hatte seinen Charakter erforscht, und man legte ihm den Wunsch, mit seinen Nachbarn in Frieden zu leben, als Schwäche aus. Einige Zerwürfnisse, die er im Jahre 1727 mit Hannover und ein paar Jahre darauf mit den Holländern gehabt und bei denen er angeblich nicht Tatkraft genug bewiesen hatte, hatten dies falsche Urteil veranlaßt.
3-1 Der Große Kurfürst hatte in dem Klevischen Erbvergleich von 1666 den Ansprüchen auf Jülich und Berg entsagt. Nach preußischer Auffassung lebten diese mit dem Aussterben der Neuburgischen Linie wieder auf, während nach pfälzischer Ansicht für die beiden Herzogtümer die weibliche Deszendenz galt. Sie fielen nach dem Tode des letzten männlichen Sprossen des Hauses Neuburg, Karl Philipp († 1742), an den Erben der Kurlande, Karl Theodor von Pfalz-Sulzbach.
4-1 Georg II. Die Streitigkeiten betrafen vor allem Werbeangelegenheiten.
4-2 Gemeint ist der Polnische Erbfolgekrieg (1733—1735), der nach dem Tode König Augusts II. ausbrach und definitiv durch den Frieden von Wien (1738) und die Erhebung Augusts III. auf den polnischen Thron beendet wurde.
4-3 Graf Seckendorff, bis 1734 Gesandter in Berlin, wurde 1737 vielmehr wegen seiner unglücklichen Kriegführung gegen die Türken verhaftet. In dem sogenannten Ewigen Bündnis von Berlin (1728) hatte Friedrich Wilhelm I. seinen Rechten auf Jülich entsagt, der Kaiser ihm dagegen die Erbfolge in Berg garantiert. Bereits 1732 schränkte der Wiener Hof seine Zusage ein und suchte 1738 die Streitfrage der Entscheidung der Großmächte zu unterwerfen.