1. Denkschrift über die gegenwärtige politische Lage Deutschlands1
(Ende Juni 1756)
Die Unterzeichnung des Neutralitätsvertrages zwischen Preußen und England2 bildet einen Wendepunkt in der bisherigen Gruppierung der europäischen Mächte. Die Ereignisse, die man voraussieht, sind lediglich die Folgen des verschiedenen Eindrucks, den dieser Vertrag auf die europäischen Höfe gemacht hat. Frankreich rechnete darauf, daß jeder aus Versailles ergehende Befehl von Preußen blindlings befolgt würde. Das Ministerium fand es höchst strafwürdig, daß Preußen nicht — Frankreichs Antrieben gehorsam — unverzüglich mit Feuer und Schwert gegen das Kurfürstentum Hannover vorgegangen ist3. Es war Herrn Rouillé nicht beizubringen, daß das Bündnis zwischen Preußen und Frankreich ablief, daß der Anlaß zum gegenwärtigen Kriege in jenem Vertrage ausdrücklich als Casus foederis ausgeschlossen war und daß sich beim besten Willen keine Silbe darin finden läßt, die auf ein Offensivbündnis deutet, daß also der Neutralitätsvertrag, über den Frankreich so verletzt scheint, nur ein Mittel mehr ist, um Europa vor einem Kriege zu bewahren, der im Grunde bloß die französischen und englischen Interessen in Amerika berührt. Die Versalller Minister ließen sich im ersten Augenblick vom Zorn völlig hinreißen und gaben zu erkennen, wie gerechtfertigt ihr Groll über den angeblichen Ungehorsam Preußens gegen ihre Befehle sei. Später zogen sie mildere Saiten auf, um zu imponieren, aber die Heftigkeit ihrer ersten Zorneswallung hatte sie allzusehr verraten.
Der Wiener Hof erhielt Kunde von den Verhandlungen zwischen Preußen und England. Mit Verdruß sah er sich in seinen Hoffnungen getäuscht. Hatte er doch sicher
1 Als infolge des Vormarsches der Russen gegen Ostpreußen (vgl. S. 36 und 185) der Ausbruch des Krieges unmittelbar bevorzustehen schien, setzte König Friedrich die obige „Denkschrift“ auf. Sie wurde auf Befehl vom 28. Juni 1756 dem englischen Hofe mitgeteilt.
2 Die Westminsterkonvention vom 16. Januar 1756 (vgl. S. 33).
3 Vgl. S. 31 ff.