<102> den Franzosen Abtretungen in Flandern versprochen, falls sie seiner widerrechtlichen Besitznahme von Bayern zustimmten? Zogen sie der Garantie des Westfälischen Friedens den Versailler Vertrag vor? Kurz, würden sie in den bevorstehenden Wirren neutral bleiben oder Österreich beistehen? Es war von äußerster Wichtigkeit, über all diese Punkte genau Bescheid zu wissen, um sich nicht in ein Unternehmen zu stürzen, dessen Folgen man nicht voraussehen konnte.

Alle diese Fragen wurden nach und nach in Versailles geklärt. Wie man erfuhr, mißbilligte das Ministerium innerlich das Vorgehen der Österreicher, wollte sich aber aus Rücksicht auf die Königin von Frankreich, Maria Theresias Tochter1, nicht gegen den Kaiser erklären, doch auch die Garantie des Westfälischen Friedens nicht fallen lassen. Mit anderen Worten: Frankreich wollte neutral bleiben — offenbar eine recht bescheidne Rolle für eine Großmacht, auf die zu Ludwigs XIV. Zeiten das erstaunte Europa die Augen geheftet hatte. Allein diese Haltung war durch vielerlei Gründe gerechtfertigt. Frankreich seufzte unter der ungeheuren Schuldenlast, die, wenn sie noch vergrößert wurde, den Staatsbankrott herbeiführen mußte; Maurepas war alt und dem sechzehnten Lustrum nahe2; der französischen Nation widerstrebte ein Krieg in Deutschland um so mehr, als sich die französischen Waffen in ihren letzten Feldzügen gegen die Alliierten unter Prinz Ferdinand von Braunschweig wenig mit Ruhm bedeckt hatten. Schließlich war Frankreich durch sein Bündnis mit den englischen Kolonien in Amerika3 gezwungen, deren Unabhängigkeit zu wahren, und das in einem Augenblick, wo es beschlossen hatte, England zur See zu bekriegen4. Zur Ausrüstung so vieler Schisse wurde auf allen Werften gearbeitet; hatte doch England durch einen Geheimartikel des letzten Friedens von 1763 die französische Flotte auf zwölf Linienschiffe beschränkt. Nun waren sechzig neue im Bau. Alles Geld, das man mit Mühe und Not aufbringen konnte, wurde für die Flotte bestimmt, und für andere Zwecke blieb nichts übrig.

Trotz dieses Zustands der Ohnmacht sah das französische Ministerium den kecken und verwegenen Anlauf des jungen Kaisers zum Despotismus mit Verdruß. Er schuf sich in Bayern einen Zugangsweg zu Elsaß und Lothringen; zugleich bahnte er sich einen Weg nach der Lombardei, ein Anschlag, dessen böse Folgen der König von Sardinien befürchtete, weshalb dieser denn auch in Frankreich laute Klagen erhob. Alle diese verschiedenen Perspektiven, alle diese Motive zusammen stimmten das Versailler Ministerium für den König von Preußen günstig: war es ihm doch sehr erwünscht, daß irgend eine Macht dem schrankenlosen Ehrgeiz des jungen Kaisers entgegentrat. Wurde ihm nicht im Beginn seines Unternehmens Einhalt geboten, so konnte er in seinen Vergrößerungsplänen sehr weit gehen. Frankreich verblieb also in einer Art von Apathie und sah zugleich die beiden mächtigsten Fürsten Deutschlands sich gegenseitig Abbruch tun.


1 Marie Antoinette.

2 Vgl. S. 51 f. und 83 f.

3 Vertrag von Versailles vom 6. Februar 1778.

4 Vgl. S. 94.