Allerdings wäre es ein unverzeihlicher politischer Fehler gewesen, sich blindlings auf die Ehrlichkeit der Österreicher zu verlassen. Unter den damaligen Umständen jedoch, wo das Übergewicht Rußlands zu bedeutend wurde und unmöglich vorauszusehen war, welche Grenzen es seinen Eroberungen setzen würde, war es sehr zweckmäßig, sich dem Wiener Hofe zu nähern. Preußen verspürte die Schläge noch, die Rußland ihm im letzten Kriege versetzt hatte. Es lag durchaus nicht im Interesse des Königs, selbst an der Vergrößerung einer so furchtgebietenden und gefährlichen Macht zu arbeiten.
Man stand vor der Wahl, Rußland entweder im Laufe seiner gewaltigen Eroberungen aufzuhalten, oder, was klüger war, daraus auf geschickte Weise Nutzen zu ziehen. Der König hatte in dieser Hinsicht nichts versäumt. Er hatte nach Petersburg ein politisches Projekt geschickt, das er einem Grafen Lynar zuschrieb, der aus dem letzten Kriege bekannt war, weil er die Konvention von Kloster Zeven zwischen den bei Stade lagernden Hannoveranern unter dem Herzog von Cumberland und den Franzosen unter dem Herzog von Richelieu zustande gebracht hatte1. Das Projekt enthielt die Skizze einer zu veranstaltenden Teilung einiger polnischer Provinzen zwischen Rußland, Österreich und Preußen2. Der Nutzen dieser Teilung lag darin, daß Rußland ruhig seinen Türkenkrieg fortsetzen konnte, ohne befürchten zu müssen, in seinen Unternehmungen durch eine Diversion gehemmt zu werden, die die Kaiserin-Königin ihm leicht hätte machen können, indem sie ein Truppenkorps an den Dnjester sandte; denn dadurch wären die russischen Armeen von Polen abgeschnitten worden, aus dem sie den größten Teil ihrer Lebensmittel bezogen. Allein die großen Erfolge der Russen in der Moldau und Walachei und ihre Seesiege im Archipel hatten den Hof so glückstrunken gemacht, daß er die sogenannte Denkschrift des Grafen Lynar ganz unbeachtet ließ.
Da dieser Versuch fehlschlug, glaubte man also andere Maßregeln ergreifen zu müssen. Es lag nicht in Preußens Interesse, daß die türkische Macht völlig erdrückt
1 Vgl. Bd. III, S. 91.
2 Das eigenhändig vom König entworfene Lynarsche Projekt war ln einem Erlaß an den Grafen Solms vom 2. Februar 1769 enthalten. Der Erlaß lautet: „Graf Lynar lst nach Berlin gekommen, um seine Tochter mit dem Sohne des Grafen Kamele zu verheiraten. Es lsi derselbe, der die konvention von Kloster Zeven abgeschlossen hat. Er ist ein großer Politiker und lenlt Europa noch von seinem Dorf aus, wohin er sich zurückgezogen hat (Lübbenau im Spreewald). Dieser Graf Lynar ist auf etwas recht Merkwürdiges verfallen, um alle Interessen der Fürsten zugunsten Rußlands zu vereinen und den europäischen Staatsgeschäften mit einem Schlage eine ganz andere Wendung zu geben. Nach seinem Plan soll also Rußland dem Wiener Hofe, damit er ihm gegen die Türken beistehe, die Stadt Lemberg mit Umgebung und die Zips anbieten, uns dagegen Polnisch-Preußen mit Ermland und dem Schutzrecht über Danzig. Rußland selbst soll sich zur Entschädigung für seine Kriegskosten ein beliebiges Stück von Polen aneignen, und da dann jede Eifersucht zwischen Österreich und Preußen beseitigt sei, würden beide den Russen um die Wette gegen die Türken beistehen. Dieser Plan hat etwas Blendendes und Bestechendes. Ich glaubte ihn Ihnen mitteilen zu müssen. Sie kennen die Denkweise des Grafen Panin, Sie werden also das Ganze verschweigen oder es nach Gutdünken verwerten Allerdings scheint mir der Vorschlag mehr glänzend als sicher.“