<22> demütigt sie; bei zuviel Glück werden sie übermütig. Gedachte man in Petersburg aber die osmanische Macht zu erdrücken, st nahmen in Wien Argwohn und Eifersucht mit den Erfolgen der Russen zu. Verglichen die Österreicher ihren letzten unglücklichen Türkenkrieg1 mit dem Siegeszuge der Russen, so konnten sie sich nicht verhehlen, wie sehr ihre Eigenliebe dadurch gekränkt wurde. Außerdem fürchteten sie, Nachbarn einer so großen Macht zu werden, wenn Rußland die eben eroberte Moldau und Walachei behielt. Um dieser Gefahr zu begegnen, mehr noch, um Rußland offen entgegenzutreten, hatten die Österreicher ihre Truppen in Ungarn verstärkt. Sie legten dort Magazine an und trafen alle Vorkehrungen, um ins Feld zu rücken, sobald die Umstände es erforderten. Sie machten kein Hehl daraus und sagten jedem, der es hören wollte, wenn der Krieg nicht bald aufhörte, sähe die Kaiserin-Königin sich genötigt, daran teilzunehmen.
Die zweite Zusammenkunft zwischen dem Kaiser und dem König fand im Lager bei Neustadt in Mähren statt2. Man begegnete keinem Österreicher, der nicht eine Äußerung der Erbitterung gegen die russische Nation getan hätte. Der Kaiser erschien dem König genau so, wie er ihn bei der ersten Zusammenkunft in Neiße eingeschätzt hatte3.
Fürst Kaunitz, der gleichfalls in Neustadt war, hatte lange Unterredungen mit dem König. Er war ein Mann von geradem Sinn, aber von wunderlichen Eigenheiten. Ihn unterbrechen, wenn er sprach, hieß ihn beleidigen. Anstatt sich zu unterhalten, trug er vor und hörte sich lieber selbst reden, als daß er auf das hörte, was andere ihm antworteten. Es war vorgekommen, daß die Kaiserin-Königin den Minister um Erklärung eines Gegenstandes ersuchte, den er bedächtig erörterte. Statt ihr zu antworten, machte er eine Verbeugung und verließ brüsk den Audienzsaal. In seinen Unterredungen mit dem König entwickelte er salbungsvoll das System seines Hofes und stellte es als ein Meisterstück der Staatskunst dar, dessen Urheber er war. Dann betonte er die Notwendigkeit, den ehrgeizigen Absichten Rußlands entgegenzutreten, und erklärte, die Kaiserin-Königin würde niemals dulden, daß die russischen Heere die Donau überschritten, noch daß der Petersburger Hof Erwerbungen machte, durch die er zum Nachbarn Ungarns würde. Er fügte hinzu, das Bündnis Preußens mit Österreich sei der einzige Damm, den man diesem ausgetretenen Strom entgegensetzen könne, der ganz Europa zu überschwemmen drohe.
Als er ausgeredet hatte, erwiderte der König, er werde stets bemüht sein, die Freundschaft mit Ihren Kaiserlichen Majestäten zu pflegen, auf dle er unendlichen Wert lege. Andrerseits bäte er Fürst Kaunitz, die Verpflichtungen zu berücksichtigen, die ihm sein Bündnis mit Rußland auferlege. Er könne ihnen auf keine Weise entgegen handeln; wie Fesseln hinderten sie ihn, auf die Anträge des Fürsten Kaunitz einzugehen. Der König fügte hinzu, sein einziger Wunsch sei, dem vorzubeugen, daß der russisch-türkische Krieg zu einem Weltbrande führte. Zu diesem Zwecke er-
1 Vgl. Bd. I, S. 158 ff
2 3. bis 7. September 1770.
3 Vgl. S. 19.