Schreiben eines Schweizers an einen Genuesen
(Februar 1760)
Mein Herr! Die starke Einbildungskraft Ihrer Landsleute muß weit über den Instinkt der armen Schweizer gehen, die zwischen ihren Bergen eingeschlossen sind, deren ewiger Schnee die Geister erkältet und ihnen nur das Denkvermögen läßt. Ihr Brief hat mir fast die Glut Ihrer Gefühle mitgeteilt; auf ein Haar hätten die beiden Kaiserinnen und alle mit ihnen verbündeten Könige mich mit Staunen und Bewunderung erfüllt. Also diese Allianz, die mir nur schrecklich, furchtgebietend und verhängnisvoll erscheint, flößt Ihnen Begeisterung ein! Mit Entzücken sprechen Sie von Dem, der durch seine Staatskunst so viele sich widersprechende Tendenzen zusammengeführt und die Pläne so vieler Ehrgeiziger auf einen Gegenstand vereinigt hat.
Wie ich gestehen muß, würde ich ebenso gern die fürchterliche Pest bewundern, die in Marseille wütete226-1, das Erdbeben, das Quito und Mekines in Schutt legte, oder das, welches Lissabon zerstörte226-2, die Ausbrüche der Vulkane, die Blitzschläge, Überschwemmungen und alle Plagen, die die Menschheit heimsuchen. Alle diese verderblichen Ursachen unseres Mißgeschicks haben etwas Großes, Imposantes. Ihre schreckensvollen Wirkungen machen Eindruck auf die Phantasie, und solche tragischen Szenen packen uns, indem sie uns rühren. Der menschliche Geist ist so geartet, daß er alles, was ihm große, gewaltige oder wunderbare Vorstellungen erweckt, leidenschaftlich ergreift. Daher kommt es, daß erlauchte Schurken sich den Ruf großer Staatsmänner erwarben, daß bekannte Räuber sich den Heldennamen anmaßten und ihr Andenken im Gedächtnis der Menschen fortlebt226-3, während wahre Wohltäter der Menschheit, Männer, die ihrem Vaterland in der Stille nützten, indem sie Künste erfanden oder ermunterten, in schmähliche Vergessenheit sinken. Seien wir also vorsichtig und verwechseln wir das Große nicht mit dem Lobenswerten, das Imposante nicht mit dem Nützlichen.
Der einzige Gesichtspunkt, unter dem ein Staatsbürger die Handlungsweise der Politiker prüfen soll, ist sicherlich ihre Beziehung zum Wohle der Menschheit, das in öffentlicher Sicherheit, Freiheit und Frieden besieht. Gehe ich von diesem Grundsatz<227> aus, so machen mir alle Worte wie Macht, Größe, Stärke keinen Eindruck mehr. Ich verachte die Kniffe und die Fertigkeit der Diplomaten, die aus den fernsten Winkeln Europas die gewaltigen Heere zusammenbrachten, die Ihnen imponieren, und ich bemühe mich lediglich, im Geist dieser Staatsmänner zu schürfen, um ihre Anschauungen und die Grundlagen ihres Systems zu ergründen.
Diese Allianz erscheint mir als eine Verschwörung der Stärkeren zur Vernichtung der Schwächeren. Sie ist eine Liga von Ehrgeizigen, die Hab und Gut von Feinden an sich reißen wollen, die ihnen nach ihrer Meinung nicht gewachsen sind. Sie ist ein Kampf von Riesen gegen Zwerge, von Herrschern, die sich schon im voraus in die Beute derer teilen, die sie besiegen wollen, um ihre Verbündeten durch die Loch speise der Selbstsucht desto enger an sich zu ketten. Sehen wir bei dieser Allianz von den glanzvollen Namen ab, die sie sanktionieren, und schreiben wir einmal die politischen Machenschaften, die Ihnen raffiniert erscheinen, Privatleuten zu, welchen Namen werden wir ihnen dann geben? Setzten wir an Stelle der Krieger- und Heldenscharen, die den Erdball bedecken, eine Rotte obskurer, hergelaufener Menschen: wie werden wir dann ihr Benehmen kennzeichnen? Sagen Sie mir nicht, die Herrscher hätten keinen Richter Über sich und wären darum berechtigt, ihre Zwistigkeiten mit dem Degen auszufechten. Ich weiß es, und niemand streitet ihnen dies Recht ab. Aber folgt daraus, daß zehn sich gegen zwei verbünden müssen, um sie zu vernichten? Und soll die Politik auf die Ideen der Billigkeit, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, die alle Völker üben, völlig verzichten? Mehr noch: Gelingt es dieser großen Allianz, ihre Feinde zu zerschmettern, so wird ihr das nicht zur Ehre gereichen; denn der Ruhm ist nur ein Lohn für bezwungene Hindernisse und die schwierigsten Unternehmungen.
Die Geschichte liefert uns nur ein Beispiel, die Ligue von Cambrai227-1, die zur Aufteilung der Republik Venedig geschlossen ward, als Gegenstück zu der großen Allianz, die gegenwärtig das Ziel verfolgt, Preußen zu zertrümmern. Im Altertum sehen wir wohl den Römern die Unterjochung vieler Völker gelingen, aber nur, weil diese Völker, größtenteils Barbaren, nie so geschickt waren, sich zum Widerstand gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden. Sobald der Koloß des römischen Reiches zerstört war, erhoben sich auf seinen Trümmern große Reiche, deren Kraft durch mächtige Vasallen geschwächt wurde. Die Herrscher waren ohne Autorität und kämpften immerfort gegen ihre eigenen Untertanen. Durch diese inneren Wirren wurden sie zu sehr in Schach gehalten, um ihren Nachbarn furchtbar zu werden. Nach vielen Jahrhunderten befestigte sich die Fürstenmacht und schlug tiefe Wurzeln. Wir datieren die Epoche der monarchischen Gewalt von der Regierung Franz' I. und Karls V.
Seitdem ward alles anders. Die Ehrsucht der Könige, durch keinen Zügel mehr gehemmt, griff nach allem, was ihre Habgier und Vergrößerungssucht befriedigen<228> konnte. Heinrich VIII. von England hielt durch sein geschicktes Benehmen die Wage zwischen Karl V. und Franz I.; sonst hätte der Kühnere oder Erfolgreichere von beiden ganz Europa umgewälzt. Seitdem ward die Erhaltung dieses Gleichgewichts das Hauptbestreben der europäischen Politik, und die Schwachen fanden einen Rückhalt gegen die Bedrückungen der Starken. Die neuere Geschichte liefert uns tausend Beispiele dafür. Bald unterstützt Frankreich den Bund der protestantischen Fürsten Deutschlands228-1, um zu verhindern, daß die Kaiser ihrenDespotismus aufrichten. Bald kommen die Könige von Schweden oder Dänemark der deutschen Freiheit zu Hilfe228-2. Bald steht ganz Europa dem Haus Österreich bei, dessen Hauptstadt Soliman II. belagern ließ228-3. In anderen Fällen verbünden sich die Kaiser, England, Holland und fast ganz Europa, um ein Gegengewicht gegen die Übermacht Ludwigs XIV. zu schaffen, der alles an sich zu reißen drohte. Dieser weisen Politik danken wir den Bestand der verschiedenen europäischen Regierungen. Sie war ein Damm, der sich dem Überfluten des Ehrgeizes stets entgegenschob.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß Europa mit einem Schlage dies Gleichgewicht verloren hat,und zwar zu einer Zeit, wo es seiner vielleicht am dringensten bedurfte. Vielleicht ist es eine Folge dieses plötzlichen Systemwechsels, der uns wie ein Theatercoup vorkam. Und doch sprach viel dafür, daß es den Herrschern ebenso ergehen würde, wie den Flüssigkeiten, die die Chemiker in eine Phiole einschließen: nachdem sie eine Weile durcheinander gewirbelt sind, setzen sie sich mit der Zeit von selbst, je nach der ihnen innewohnenden Schwere. Allein es ist ganz anders gekommen; denn die Ursachen in der Natur bleiben stets die gleichen, wogegen die Gründe, die im Rate der Fürsten entscheiden, von den menschlichen Leidenschaften abhängen.
Nun werden Sie selber beurteilen können, welche verderblichen Wirkungen dies Monarchen komplott haben kann, diese Verschwörung, die Ihnen so reizvoll dünkt! Gelingt es den Herrschern, die Könige von England und Preußen zu zerschmettern, so werden sie solchen Geschmack daran bekommen, daß die Zuschauer bald das gleiche Los ereilt, und diese mächtige Liga wird in Europa einen unerträglichen tyrannischen Despotismus aufrichten, der für alle Nationen gleich schmachvoll ist. Wohin käme dann die Sicherheit des Besitzes? Welcher Herrscher wäre seines Thrones sicher? Müßte nicht jeder befürchten, daß er von heute auf morgen entthront wird, und daß seine Staaten ihm entrissen werden? Königreiche, Kurfürstentümer, Republiken, kleine Regierungen, alle führten dann nur ein unsicheres Dasein und würden schließlich von dem Schlund der vorherrschenden Mächte verschlungen. Die Herrscher, die in diesem Kriege ganz von selbst hätten Partei nehmen müssen, sind sämtlich isoliert oder neutral geblieben. Keiner von ihnen hat an den Wahlspruch unter dem Pfeilbündel im holländischen Wappen gedacht: Meine Kraft liegt in meiner Einigkeit. Ihre Sicherheit erscheint mir trügerisch; sie glauben, der Friede sei ihnen vorläufig<229> geschenkt, und sie sind offenbar zufrieden, wenn sie doch untergehen müssen, wenigstens als letzte dranzukommen.
Alles wiederholt sich, mein Herr. Salomo hat mit Recht gesagt: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Die gleichen Szenen kehren wieder, nur der Name der Handelnden wechselt. Die Liga der mächtigen Monarchen, die Europa bedroht, gleicht auf ein Haar dem Triumvirat des Augusius, Antonius und Lepidus. Hier wie dort hat man damit begonnen, sich seine ältesten Freunde zum Opfer zu bringen. Damals proskribierte man Senatoren, jetzt proskribiert man Herrscher. Nach Niederwerfung des Brutus, nach Vernichtung der Freiheit und der Republik hielt die Triumvirn kein Band des Interesses mehr zusammen, und sie wandten die Waffen gegeneinander. Lepidus ward ihr erstes Opfer, und nachdem der schurkischeste der drei, nämlich Augusius, die beiden anderen vernichtet hatte, riß er schließlich die Macht und die Herrschaft der Welt an sich.
Was bei den Römern eine rasche Umwälzung war, vollzieht sich heutzutage langsamer, aber das Wesen der Ehrsucht ändert sich nicht. Haben unsere modernen Triumvirn Erfolg, so werden sie die gleichen Pläne entwerfen und das gleiche Los erleiden wie in der Antike. Meine Schlußfolgerung fußt aufAnalogie und Erfahrung. Zum Wohle der Menschheit wünsche ich, daß meine Vermutungen falsch sind. Ich bin kein Prophet und will es nicht sein.
Sie werden aus diesem Gedankengang ersehen, daß das Gold, dessen Glanz Sie blendet, nicht ohne Schlacke ist; nun können Sie es in Ihrem Schmelztiegel läutern. Ich unterdrücke eine Fülle von Betrachtungen, die der Gegenstand nahelegt, und überlasse sie ganz Ihnen; Sie werden sie auch ohne Andeutung meinerseits anstellen. Verzeihen Sie mir alle, mit denen ich Sie belästige; es sind Früchte meines Landes. Vielleicht bewahren sie den Erdgeruch; jedenfalls kommen sie nicht den Reizen gleich, mit denen Ihre glänzende Phantasie alle Dinge ausschmückt, die sie berührt. Glauben Sie mir wenigstens, daß ich diese Schönheiten zu empfinden und zu bewundern vermag. Ja, seien Sie dessen ebenso versichert wie meiner Hochachtung usw.
226-1 1720.
226-2 1755 (vgl. Bd. III, S. 27).
226-3 Vgl. S. 196.
227-1 Geschlossen 1508 zwischen Kaiser Maximilian I., Ludwig XII. von Frankreich, Papst Julius II. und Ferdinand dem Katholischen gegen Venedig (vgl. Bd. III, S. 187.214).
228-1 Gegen Karl V.
228-2 Im Dreißigjährigen Kriege (vgl. Bd. l, S. 39 ff.).
228-3 1529.