<378> General Creutz, der während des Kampfes den Russen in die Flanke fallen sollte, verirrte sich in den umliegenden Waldern und erreichte sein Ziel nicht. So griffen denn 12 000 Schweden 82 000 Russen in ihrer furchtgebietenden, verderbenspeienden Stellung an. Und das war nicht mehr eine Barbarenhorde wie die bei Narwa zersprengte, sondern wohlbewaffnete, gut postierte Soldaten, von geschickten ausländischen Generalen geführt, durch starke Schanzen gedeckt und durch verheerendes Artilleriefeuer geschützt. Die schwedische Kavallerie attackierte die Batterien, mußte aber trotz aller Tapferkeit dem Geschützfeuer weichen. Die nun vorrückende Infanterie wurde durch das Feuer der Schanzen niedergeschmettert; trotzdem eroberte sie die beiden ersten. Aber die Russen griffen sie nun in der Front, in den Flanken und von allen Seiten an, warfen sie wiederholt zurück und zwangen sie schließlich, das Feld zu räumen. Nach und nach riß Verwirrung bei den Schweden ein. Der verwundete König tonnte der Unordnung nicht steuern. Seine besten Generale waren schon zu Beginn der Schlacht gefangen genommen. Es war also niemand da, um die Truppen schnell genug wieder zu sammeln, und bald war die Flucht allgemein. Da man es verabsäumt hatte, die rückwärtigen Verbindungen der Armee durch Stützpunkte zu sichern, so hatte sie nun keinen Zufluchtsort und mußte sich, nachdem sie bis zum Dnjepr geflohen war, dem Sieger auf Gnade und Ungnade ergeben.

Ein höchst geistreicher Schriftsteller1, der aber seine militärischen Kenntnisse nur aus Homer und Virgil geschöpft hat, scheint den Schwedenkönig zu tadeln, weil er sich nicht an die Spitze der Flüchtlinge stellte, die Lewenhaupt zum Dnjepr führte. Den Grund dafür sieht er in dem Wundfieber, an dem der König damals litt und das nach seiner Behauptung den Mut schwächt. Ich erlaube mir aber zu entgegnen, daß ein solcher Entschluß passend sein mochte, als man noch mit blanker Waffe kämpfte. Heutzutage jedoch fehlt es der Infanterie nach einer Schlacht fast stets an Pulver. Die schwedische Munition war bei der Bagage geblieben, und diese war vom Feinde erbeutet worden. Wäre also Karl XII, so toll und eigensinnig gewesen, an der Spitze der Flüchtlinge zu bleiben, die weder Pulver noch Lebensmittel hatten (weshalb sich beiläufig die festen Plätze ergeben muffen), so hätte der Zar bald die Genugtuung gehabt, den so sehnlichst erwarteten Bruder Karl eintreffen zu sehen. Der König hätte also auch bei voller Gesundheit unter so verzweifelten Umständen nichts Klügeres tun können, als seine Zuflucht bei den Türken zu suchen2. Herrscher sollen zweifellos die Gefahr verachten, aber ihr Stand nötigt sie auch, sich sorgfältig vor Gefangennahme zu hüten, nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der verhängnisvollen Folgen, die daraus für ihre Staaten erwachsen. Die französischen Schriftsieller sollten sich erinnern, wie nachteilig für ihre Nation die Gefangennahme Franz' I. war3. Frankreich spürt noch heute ihre Wirkungen. Der Mißbrauch der


1 Voltaire, Geschichte Karls XII,, Buch 4.

2 Karl XII, flüchtete nach Bender.

3 In der Schlacht bei Pavia 1525 (vgl. Bd. VII. S. 252 f.; VIII, 77).