24. Kapitel Angriff und Verteidigung fester Plätze
I. Angriff
Die Belagerungskunst ist zum Handwerk geworden wie das Tischler- oder Uhrmacherhandwerl. Bestimmte untrügliche Regeln haben sich herausgebildet, nach denen alles stets denselben Gang geht. Die gleiche Theorie wird immer wieder auf den gleichen Fall angewandt. So weiß jedermann, daß für das Depot am Ende des Laufgrabens ein gedeckter Platz angelegt wird, daß man die erste Parallele so nahe wie möglich an den gedeckten Weg heranschiebt, daß man, außer bei besonderer Eile, Sappen benutzt, um die Leute zu schonen, daß man Schächte gräbt, um die Minen zu entdecken, daß man die Minen des Feindes ausbläst, daß man die Überschwemmungen nach vorheriger Nivellierung des Geländes abläßt, daß man stets den schwächsten Punkt angreift, daß die ersten Batteiien das Geschütz des Verteidigers zum Schweigen bringen55-1, daß man in dem Maße, wie man neue Parallelen anlegt, auch die Batterien näher an die Festung heranrückt, daß man bei der zweiten oder dritten Parallele Rikoschettbatterien errichtet, um die Wallinien zu bestreichen, daß man, sobald man auf dem Glacis ist, die Kontreskarpe stürmt und auf ihr Batterien55-2 errichtet, um in die vor dem Hauptwall liegenden Werte Bresche zu schießen, daß man diese Werte durch neue Sturmangriffe nimmt, bis man an die Kernumwallung herankommt, die man durch neue Batterien breschiert, um schließlich durch die Sturmgasse zum Hauptsturm zu schreiten, und daß der Kommandant dann kapituliert und die Stadt übergibt. Das alles ist genauer Berechnung unterworfen, sodaß man, auch wenn man abwesend ist, ziemlich genau ausrechnen kann, an welchem Tage etwa sich die Festung ergeben wird, sofern nicht außergewöhnliche Umstände eintreten oder ein besonders tüchtiger Kommandant die Fortschritte der Belagerer durch die Zähigkeit seines Widerstandes länger als gewöhnlich aufhält.
Ich will hier nicht wiederholen, was der Fürst von Anhalt55-3 und Vauban gesagt haben. Sie sind unsre Meister und haben eine Kunst, die vordem nur sehr wenigen bekannt war, in bestimmte Regeln gebracht. Ich füge nur einige Gedanken hinzu, die mir beim Nachdenken über diesen Gegenstand eingefallen sind. Sie lassen sich vielleicht benutzen, besonders, wenn die belagerten Plätze nur trockne Gräben besitzen und der General seine Absicht gut verbirgt. Ich glaube z. B., man könnte eine<56> Stadt von zwei Seiten angreifen. Nachdem man nahe genug an den gedeckten Weg herangekommen ist, um die Kontreskarpe zu stürmen, könnte man dann in der Nacht ein starkes Detachement, das man zu diesem Zweck bereitgestellt hat, von einer andren Seite gegen die Stadt anrücken lassen. Es müßte dort eine halbe Stunde vor Tagesanbruch stürmen. Zugleich müßten alle Geschütze der beiden Angriffsfronten feuern, damit der Feind im Glauben, Ihr wolltet die Kontreskarpe stürmen, sein ganzes Augenmerk auf die beiden offenen Angriffe richtet und die Überrumpelung durch das Detachement ohne Widerstand gelingt. Ich bin überzeugt, der Feind würde seine Kräfte nur gegen den einen oder andern der offenen Angriffe wenden und den dritten außer acht lassen. Das müßten die Belagerer benutzen und den Platz von dieser Seite erobern. Solche Unternehmungen darf man jedoch nur dann wagen, wenn die Zeit drängt und man gewichtige Gründe hat, die Belagerung rasch zu beenden.
II. Verteidigung
Durch nichts wird eine Festung besser verteidigt als durch Minen und Überschwemmungen. Es bedarf aber großer Geschicklichkeit, um alle ihre Vorteile zu erkennen und sie zur rechten Zeit zu benutzen. Die Kunst der Verteidigung fester Plätze besieht hauptsächlich darin, ihre Übergabe hinauszuschieben. Die Mittel zu diesem Zweck sind nicht immer die gleichen. Manche Offiziere legen zuviel Wert auf die Ausfälle. Mich dünkt aber, daß der Verlust eines einzigen Mannes für die Besatzung schwerer wiegt als der Verlust von zwölf Mann für die Belagerer. Große Ausfälle bringen schwere Verluste mit sich und führen sogar oft zu nichts. Ich würde sie als Festungskommandant nur dann machen, wenn die Armee, die mich entsetzen soll, heranrückt; dann würde ich bei meinem Ausfall nicht viel aufs Spiel setzen. Während der Schlacht zwischen dem Feind und dem Entsatzheer würde ich sogar die Laufgräben mit größter Energie angreifen, um den Feind dadurch abzulenken. Hätte ich aber keinen Entsatz zu erwarten und wäre lediglich auf meine eigenen Kräfte angewiesen, so würde ich alles daran setzen, Zeit zu gewinnen. Ich habe bei allen Belagerungen, die ich geleitet habe, die Wahrnehmung gemacht, daß ein einziger Flintenschuß die Schanzarbeiter in Verwirrung bringt. Sie reißen aus und sind die ganze Nacht lang nicht mehr zur Arbeit heranzukriegen. Ich habe mir also ausgedacht, wenn man allnächtlich zu verschiedenen Malen Ausfälle mit zwölf Mann auf die Schanzarbeiter machte, so würde man sie zerstreuen, und der Feind verlöre eine Nacht nach der andern. Derart würde ich, ohne etwas aufs Spiel zu setzen, viel ausrichten und meine Besatzung schonen, um sie dafür in den Werken zu benutzen, wo die wirtliche Verteidigung des Platzes anfängt. Dort würde ich mein Feuer von langer Hand vorbereiten56-1. Stände z. B. der Sturm auf den gedeckten Weg bevor, so ließe<57> ich nur wenige Leute dort, besetzte aber das unmittelbar dahinterliegende Werk und die Seitenwerke stark mit Infanterie und Geschütz und bereitete zwei Ausfälle vor. Dann fiele ich dem Feinde, während er sich dort einzubauen beginnt, in beide Flanken und jagte ihn fort. Dies Manöver kann der Kommandant beliebig oft wiederholen, und wird es gut ausgeführt, so ist es für den Feind sehr verlustreich.
III. Verteidigung gegen Überfälle
Vor Überfällen schützt man eine Festung, indem man das Vorgelände, besonders vor dem Zapfenstreich und vor der Reveille, oft rekognoszieren läßt. An Markttagen verdoppelt man die Wachen und läßt alle zur Stadt Kommenden auf Waffen untersuchen. Im Winter läßt man die Festungsgräben aufeisen und die Wälle mit Wasser begießen. Dann werden sie durch den Frost glatt und unersteiglich. Außerdem legt man in die der Festung benachbarten Häuser kleine Infanterieposten, die beim Anmarsch des Feindes Alarmschüsse abgeben. Auf die Wälle stellt man Posten von der Besatzung und behält sich eine Reserve zurück, um sie nach Bedarf zu verwenden57-1.
55-1 Die Demontierbatterien. Die Reihenfolge war aber umgekehrt: Zuerst wurden Rikoschettbatteiien errichtet, dann bei der zweiten Parallele Demontierbatterien, auf die vor der dritten Parallele die Wurfbatterien und schließlich auf dem Glacis die Breschbatterien folgten.
55-2 Die Breschbatterien,
55-3 In seinem Werke: „Deutliche und ausführliche Beschreibung, wie eine Stadt soll belagert und nachher die Belagerung mit gutem Succeß bis zur Übergabe geführet werden“ (1738).
56-1 Für das sogenannte „präparierte Feuer“ vgl. die Instruktion an Lattorff.
57-1 Zusatz von 1752: „Ohne die Garnison zu ermüden, schützt man sich vor Überfällen, indem man im gedeckten Weg und in den einspringenden Winkeln der Wallinie Kaponnieren anlegt, die man mit 12 Mann besetzt.“