9. Vorrede zum Auszug aus Quincys „Kriegsgeschichte Ludwigs XIV.“
(5. Oktober 1771)353-1
In allen Ländern ergreifen viele Edelleute den Waffenberuf, aber die Beweggründe, aus denen sie sich einem so ruhmvollen Berufe widmen, sind sehr verschieden. Die einen sind arm an Glücksgütern und betrachten den Militärdienst als Notbehelf, der ihnen schlecht und recht einen anständigen Unterhalt gewährt. In ihrer Sorglosigkeit vertrauen sie auf die Zeit und meinen, wenn die Reihe an sie kommt, werden sie schon avancieren. Lange gedient haben und gut gedient haben halten sie für das gleiche, und kann man ihnen keine grobe Pfiichtwidrigkeit vorwerfen, so sind sie mit sich selbst durchaus zufrieden. Andre geben sich den seichten Genüssen hin, an denen unsre Zeit so reich ist, stürzen sich in Vergnügungen und Zerstreuungen und sind alles andre, nur nicht Soldaten, was doch ihr Beruf ist. Endlich gibt es unter ihnen einige wenige, die, von edlem Ehrgeiz beseelt, danach streben, sich durch ihren Mut, ihre Fähigkeit und Klugheit in der Welt vorwärtszubringen, die stets lernbegierig, nur die Gelegenheit herbeiwünschen, sich aufzuklären und den Kreis ihrer Kenntnisse zu erweitern. Für diese hat man einen Auszug aus einer Schrift über die am Ende des vorigen und am Anfang des jetzigen Jahrhunderts angegriffenen und verteidigten Städte angefertigt. Man hat Sorge getragen, eine Auswahl der berühmtesten Belagerungen zu treffen, um den Wißbegierigen die Hilfsmittel zu zeigen, die Kunst und Geist zum Angriff und zur Verteidigung fester Plätze finden.
Wer für einen tüchtigen Offizier gelten will, muß eine Fülle von Kenntnissen und Talenten in sich vereinigen. Er muß seine Truppen zu schulen verstehen, damit<354> der Soldat imstande ist, die erforderlichen Evolutionen auszuführen. Ein Offizier, der nur im geringsten daran denkt, sich zu höheren Stellen aufzuschwingen, muß gründliche Kenntnisse in der Taktik oder der Manövrierkunst, in Angriffen, Verteidigungen, Rückzügen, Märschen, Flußübergängen, Transportbedeckungen, Fouragierungen und allen Dispositionen besitzen, die der Feldkrieg erfordert. Er muß genaue Kenntnis des Landes haben, in dem er Krieg führen soll, muß die Lagerkunst beherrschen, die Vorteile des Geländes kennen und zu benutzen wissen, die Art, wie man seine Truppen aufstellt und ihnen beim Kampfe die Überlegenheit verschafft.
Abgesehen von all diesen Kenntnissen aber muß ein Infanterieoffizier sich schämen, wenn er nicht über den Fesiungskrieg Bescheid weiß. Dieser Dienst betrifft einzig und allein die Infanterie, und es werden wenige Feldzüge geführt, in denen nicht Städte belagert oder verteidigt werden. Hier findet er Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Ein Offizier, der die Belagerungskunst nicht kennt, kann sie nicht benutzen, denn seine Unwissenheit versagt ihm die Mittel dazu; wogegen ein Offizier, der ein paar Mußestunden dazu verwandt hat, diesen Teil des Krieges gut zu studieren, hundert Gelegenheiten findet, sich auszuzeichnen, was ihn notwendig vorwärtsbringen muß.
Um den Erwerb dieser Kenntnisse zu erleichtern und Neigung dafür zu erwecken, hat man dies Buch übersetzt und es in der vorliegenden Form herausgegeben. Man hofft, daß die, welche ihren Beruf lieben, dies neue Mittel zu ihrer Belehrung begrüßen werden. Der Übersetzer wird sich für seine Mühe reichlich belohnt fühlen, wenn er mit Hilfe der in diesem Buch enthaltenen Kenntnisse zur Beförderung und Auszeichnung derer beitragen kann, die es mit Vorteil lesen.
Jede Kunst hat ihre Regeln und Grundsätze. Man muß sie studieren; die Theorie erleichtert die Praxis. Ein Menschenleben reicht nicht hin, um vollkommene Erkenntnis und Erfahrung zu erwerben. Die Theorie muß sie vervollständigen. Sie gibt der Jugend frühreife Erfahrung und macht sie sogar durch die Fehler andrer geschickt. Im Kriegshandwerk verstößt man nie gegen die Regeln der Kunst, ohne vom Feinde dafür gestraft zu werden. Er freut sich stets, uns bei einem Fehler zu ertappen. Ein Offizier kann sich viele falsche Schritte ersparen, wenn er sich unterrichtet, ja wir wagen zu sagen: er muß es tun; denn die Fehler, die er aus Unwissenheit begeht, bedecken ihn mit Schande, und selbst wenn man seinen Mut lobt, kann man nicht umhin, seine Dummheit zu tadeln. Welch ein Ansporn zum Fleiß! Wie viele Beweggründe, den dornigen Pfad zu beschreiten, der zum Ruhme führt! Und wo winkt ein schönerer und edlerer Lohn für Mühe und Arbeit, als der, seinen Namen unsterblich zu machen!
353-1 Der Titel des Werkes lautet: „Auszug derer gegen das Ende des verwichenen und im Anfange des gegenwärtigen Seculi angegriffenen und vertheidigten Städte, nebst einigen Lehrsätzen und Unterricht in der Kriegskunst, durch 16 Tabellen erläutert und mit nöthigen Kupfern versehen. Aus der Kriegsgeschichte ludewigs XIV., die der Herr Marquis de Quincy 1726 beschrieben, auf Allerhöchsten Könige lichen Befehl ins Deutsche übersetzt durch G. A. v. Clair, Königl. Preuß. Ingenieur-Capitain“ (Berlin, 1771). Der erste Teil behandelt die lehre vom Angriff und der Verteidigung fester Plätze, der zweite bringt 9 Belagerungen aus den Jahren 1677 bis 1713 zur Darstellung. Der König ließ den „Auszug“ 1772 den Regimentern zum Studium durch die Offiziere zugehen. Vgl. S. 38 und 293 f.