<226> den Gedanken wachgerufen, sich mit anderen Familienverbänden zusammenzuschließen, um ihre Besitztümer in gegenseitiger Verteidigung zu schützen. Daraus entsprangen die Gesetze, die den Gemeinschaften beibringen, daß das Interesse der All-gemeinheit dem persönlichen Wohl des einzelnen vorangehe. Ohne Bestrafung zu gewärtigen, wagte seitdem niemand, sich fremden Gutes zu bemächtigen oder das Leben des Nächsten anzutasten. Jeder mußte Weib und Güter des anderen als geheiligte Werte anerkennen, und wenn die Gesamtheit angegriffen war, mußte jeder einzelne zu Hilfe eilen.

Die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen, wird zur Grundlage der Gesetze und des Gesellschaftsoertrags. Hier ist der Ursprung der Liebe zum Vaterland, in dem wir das Obdach unseres Glückes erblicken. Da jedoch die Gesetze ohne unaufhörliche Überwachung weder fortbestehen noch Anwendung finden konnten, so bildeten sich Obrigkeiten heraus, die das Volk erwählte und denen es sich unterordnete. Man präge sich dies wohl ein: die Aufrechterhaltung der Gesetze war der einzige Grund, der die Menschen bewog. sich Obere zu geben; denn das bedeutet den wahren Ursprung der Herrschergewalt. Ihr Inhaber war der erste Diener des Staates1. Hatten die Volksgemeinschaften im Entstehen etwas von den Nachbarn zu befürchten, so bewaffnete dies Oberhaupt das Volt und sehte schleunig die Verteidigung der Bürger ins Werk.

Der allgemeine Trieb der Menschen, sich den größtmöglichen Glücksanteil zu verschaffen, gab Anlaß zur Bildung der unterschiedlichen Regierungsformen. Die einen glaubten, dies Glück zu finden, wenn sie etlichen weisen Männern die Führung überließen; daher entstand die aristokratische Regierung. Andere entschieden sich für die Oligarchie. Athen und die meisten anderen Republiken Griechenlands wählten die Demokratie. Persien und der übrige Orient beugten sich unter den Despotismus. Die Römer hatten eine Zeitlang Könige; als sie aber der gewalttätigen Tarquinier müde wurden, wandelten sie die Form ihrer Regierung in Adelsherrschaft. Bald danach bekam das Volk die Härte der Patrizier satt, die es wucherisch bedrückten. Es trennte sich von ihnen und kehrte nicht früher wieder nach Rom zurück, als bis der Senat die Tribunen bestätigte, die das Volk zum Schutz gegen die Vergewaltigung durch die Großen gewählt hatte; von da ab ward das Volk beinahe zum Träger der höchsten Machtfülle. Tyrannen wurden die genannt, die gewaltsam die Herrschaft in ihren Besitz brachten und, lediglich ihren Leidenschaften und Launen folgend, die zur Erhaltung des Gemeinwesens geschaffenen Gesetze und Grundprinzipien umstürzten.

Allem wie weise die Gesetzgeber und die ersten Staatengründer, wie trefflich ihre Einrichtungen sein mochten, es hat doch unter all den Regierungsformen keine gegeben, die sich in voller Reinheit erhalten hätte. Warum? Weil die Menschen und


1 Vgl. S. 6.154.