<235> haben. Oft sind die Bekenntnisse gänzlich verschieden voneinander; einige gibt es, die man Sekten nennt. Da erhebt sich die Frage: müssen alle Bürger ein und dasselbe glauben, oder darf man jedem erlauben, nach seiner eigenen Weise zu denken? Sofort kommen finstere Politiker und sagen uns: jedermann muß denselben Glauben haben, damit nichts die Bürger trenne. Der Theologe setzt hinzu: Wer da nicht denkt wie ich, der ist verdammt, und es geht nicht an, daß mein Herrscher ein König der Verdammten sei; man muß sie also auf dieser Welt verbrennen, auf daß ihnen in der anderen um so höheres Glück beschieden sei.
Darauf ist zu erwidern, daß niemals eine Allgemeinheit gleichmäßig denken wird; daß bei den christlichen Nationen die meisten ihrem Gott menschliche Gestalt beUegen; daß bei den Katholiken die Mehrzahl Abgötterei treibt. Denn niemand wird mich je überzeugen, daß ein Bauer zwischen Anbetung und Verehrung einen Unterschied zu machen wisse; gutgläubig betet er das Bild an, das er anruft. Es gibt also eine gute Anzahl Ketzer in allen christlichen Sekten. Überdies glaubt jeder an das, was ihm wahrscheinlich dünkt. Ein armer Unglücklicher kann wohl mit Gewalt dazu gebracht werden, eine bestimmte Formel herzubeten, er kann ihr aber seine innere Zustimmung versagen; auf diese Art hat der Verfolger gar nichts erreicht.
Geht man jedoch auf den Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft zurück, so ist es ganz augenscheinlich, daß der Herrscher keinerlei Recht über die Denkungsart der Bürger hat. Müßte man nicht von Sinnen sein, um sich vorzustellen, Menschen hätten zu einem ihresgleichen gesagt: Wir erheben dich über uns, weil wir gern Sklaven sein wollen, und wir geben dir die Macht, unsere Gedanken nach deinem Willen zu lenken? Sie haben im Gegenteil gesagt: Wir bedürfen deiner, damit die Gesetze, denen wir gehorchen wollen, aufrechterhalten werden, damit wir weise regiert und verteidigt werden; im übrigen verlangen wir von dir, daß du unsere Freiheit achtest. Damit ist das Urteil gesprochen; es gibt keine Berufung dagegen. Diese Toleranz ist für die Gemeinschaft, in der sie eingeführt ist, sogar dermaßen vorteilHaft, daß sie das Glück des Staates begründet. Sobald jede Glaubensweise ftei ist, hat alle Welt Ruhe; wogegen die Glaubensverfolgung die blutigsten, langwierigsten und verderblichsten Bürgerkriege verursacht hat. Das geringste Übel, das die Verfolgung nach sich zieht, besieht darin, daß sie die Verfolgten zur Auswanderung treibt. Frankreich hat ganze Provinzen, deren Bevölkerung darunter litt und die heute noch die Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685) verspüren.
Dies sind im allgemeinen die Pflichten, die ein Fürst erfüllen muß. Damit er niemals von ihnen abirre, muß er sich oft ins Gedächtnis zurückrufen, daß er ein Mensch ist wie der geringste seiner Untertanen. Wenn er der erste Richter, der erste Feldherr, der erste Fmanzbeamte, der erste Minister der Gemeinschaft ist, so soll er das nicht sein, um zu repräsentieren, sondern um seine Pflichten zu erfüllen. Er ist nur der erste Diener des Staates, ist verpflichtet, mit Redlichkeit, mit überlegener Einficht und vollkommener Uneigennützigkeit zu handeln, als sollte er jeden Augenblick