<256> durch eine Stadt die Hausschilder liest. Ein Philosoph, der wissen muß, daß der Dinge Wesensgrund sich niemals ändert, wird sich nicht damit vergnügen, einer Eiche vorzuwerfen, daß sie keine Äpfel trägt, einem Esel, daß ihm Adlerfittiche fehlen, oder einem Stör, daß er keine Stierhörner hat. Er wird die tatsächlichen Übel, die schwer zu hellen sind, keinesfalls übertreiben, er wird nicht schreien: alles ist schlecht! wenn er nicht sagen kann, wie all das gut werden könnte. Seine Stimme wird nicht als Trompete des Aufruhrs dienen, nicht als Signal zur Sammlung der Mißvergnügten, als Vorwand zur Empörung. Er wird Achtung haben vor den geltenden, durch die Nation anerkannten Bräuchen und vor der Regierung, vor den Regierenden selbst wie vor ihren Untergebenen. So dachte auch der friedfertige du Marsais, den man nun, zwölf Jahre nachdem er tot und begraben ist, eine Schmähschrift ver, fassen läßt1, während der wirkliche Urheber nur ein Schulbube sein kann, ein leichtherziger Neuling in dieser Welt.

Was bleibt mir noch zu sagen übrig, wenn man in einem Land, wo der Verfasser des „Telemach“2 den Thronfolger erzog, gegen die Erziehung der Prinzen Geschrei erhebt? Sollte der Schulbube antworten, daß es keinen Fenelon mehr in Frankreich gibt, so müßte er sich an die Unfruchtbarkeit des Jahrhunderts halten, aber nicht an Prinzenerzieher.

Das wären im wesentlichen meine allgemeinen Bemerkungen zur Abhandlung „Über die Vorurteile“. Der Stil erschien mir langweilig, weil das Ganze eine eintönige Deklamation bildet, darin dieselben Ideen immer wiederkehren und sich allzu oft in derselben Gestalt darstellen. Inmitten des Chaos fand ich jedennoch ein paar ausgezeichnete Einzelheiten. Wollte man übrigens aus dem Werk ein nützliches Buch machen, so müßte man die Wiederholungen, genialischen Schiefheiten, falschen Schlußfolgerungen, die Wissensmängel und Beleidigungen streichen. Das würde die Schrift auf ein Viertel ihres Umfangs zusammendrängen.

Was habe ich nun aus dieser Lektüre gelernt? Welche Wahrheit hat der Verfasser mich gelehrt? Daß alle Geistlichen Ungeheuer sind, die man steinigen müßte. Daß der König von Frankreich ein barbarischer Tyrann ist, seine Minister Erzschelme sind, seine Höflinge feige Schurken, die vor den Stufen des Thrones kriechen, die Großen des Reiches Ignoranten, strotzend von Anmaßung. (Nähme er wenigstens den Herzog von Rivernais3 aus!) Ferner erfährt man, daß die französischen Marschälle und Offiziere gedungene Henker, die Richter infame Amtsfrevler sind, die Finanzbeamten Spitzbuben wie Cartouche4 und Mandrin5, die Geschichtsschreiber nichts als Fürsten-


1 Der französische Philosoph Cesar Chesneau du Marsais (1676—1756) galt anfangs als Verfasser der Abhandlung „Über die Vorurteile“, die 1769 veröffentlicht wurde.

2 Fenelon (vgl. S. 26).

3 Der Herzog von Nivernais, der sich auch dichterisch und schriftstellerisch betätigte, hatte sich die persönliche Hochschätzung König Friedrichs erworben, als er zu Beginn des Jahres 1756 in außerordentlicher politischer Mission am Berliner Hofe wellte (vgl. Bd. III, Kap. 3).

4 Vgl. S. 33.

5 Berüchtigter Straßenränder, 1755 in Paris hingerichtet.