<260> Die Wahrheit ist stärker als er; sie zwingt ihn, zu sagen, daß die Natur in ihrer unermeßlichen Werkstatt die Stoffe sammelt, um neue Geschöpfe zu bilden. Sie setzt sich also einen Zweck; folglich ist sie intelligent. Wenn man nur irgend aufrichtig ist, kann man sich unmöglich dieser Wahrheit verschließen. Selbst die Einwände, die von dem physisch und moralisch Schlechten hergeleitet werden, vermöchten nicht sie umzustoßen: die Ewigkeit der Welt überwältigt dieses Hemmnis. Die Natur ist demnach unbestreitbar intelligent. Sie handelt immer im Einklang mit den ewigen Gesetzen der Schwere, der Bewegung, der Trägheit usw., die sie weder aufheben noch ändern kann. Wiewohl unsere Vernunft uns dieses Wesen nachweist, wiewohl wir etwas davon sehen und etliches von seiner Tätigkeit ahnen, werden wir es doch niemals genügend erkennen, um es zu definieren. Jeder Philosoph, der das von den Theologen geschaffene Phantom angreift, kämpft in Wirklichkeit gegen die Wolke des Ixion1. Er reicht nicht an jenes Wesen, dem das ganze Weltall zu Beweis und Zeugnis dient.

Man wird ohne Zweifel sehr erstaunt sein, daß ein so aufgeklärter Philosoph wie unser Autor sich einfallen läßt, die alten Irrtümer von einer künstlichen Zeugung zu verbreiten. Er zitiert Needham2, jenen englischen Arzt, der sich durch ein falsches Experiment irreführen ließ und glaubte, er habe Aale hergestellt. Wären derartige Vorgänge wahr, so könnten sie wohl mit dem Wirken einer blinden Natur übereinstimmen; allein sie sind durch alle Versuche Lügen gestraft worden. Sollte man es ferner wohl glauben, daß derselbe Autor eine allgemeine Sintflut annimmt? Eine Absurdität, ein Wunder, das bei einem Mathematiker nicht zulässig und mit seinem System auf keine Weise vereinbar ist. Sind die Wasser, die unseren Erdball überschwemmten, eigens dazu hervorgebracht worden? Was für gewaltige Massen mußten das sein, die höher als die höchsten Berge emporstiegen! Wurden sie dann in Nichts aufgelöst? Oder was wurde aus ihnen? Wie? er schließt die Augen, um nicht ein intelligentes Wesen zu sehen, das über das Weltall herrscht und von der ganzen Natur ihm verkündet wird, und dann glaubt er an das Wunder, das der Vernunft mehr widerstrebt als alle, die man je erdichtet hat? Ich gesiehe, daß ich es nicht fasse, wie so viel Widersprüche sich in einem philosophischen Kopf miteinander vertragen konnten und wie der Autor dessen nicht gewahr wurde, als er sein Werk verfaßte. Doch gehen wir weiter.

Er hat das System der Fatalität, wie Leibniz es darstellte und Wolffes erläuterte, beinahe buchstäblich abgeschrieben. Zur besseren Verständigung glaube ich, die Idee, die man mit dem Wort Freiheit verbindet, definieren zu sollen. Ich versiehe darunter jeden Akt unseres Willens, der aus diesem allein und ohne Zwang erfolgt. Man denke nicht, daß ich von diesem Grundbegriff aus beabsichtige, das System der Fatalität im allgemeinen und in jeder Einzelheit zu bekämpfen. Ich suche nur die Wahr-


1 Juno hatte sich in eine Wolke verwandelt; Ixion zeugte mit ihr die Zentauren.

2 Johann Turberville Needham, englischer Physiker (1713—1781).