Wenn Machiavell über Tugend spricht, setzt er sich der Gefahr der Lächerlichkeit aus, wie einer, der von Dingen redet, die er nicht versieht, und verfällt obendrein in Übertreibungen, die er an anderen verdammt. Haben einige Darsteller ein allzu rosiges Bild von der Welt entworfen, so ist sie bei ihm ein Abgrund von Niederträchtigkeit. Aus den verkehrten Voraussetzungen seiner Wahnvorstellungen ergeben sich naturgemäß nur falsche Schlußfolgerungen — ohne festen Mittelpunkt läßt sich kein Kreis schlagen, ohne eine erste Grundwahrheit nicht richtig denken.
Die sittlichen Forderungen dieser Staatslehre laufen darauf hinaus: nur an die Lasier halte dich, die dir Vorteil versprechen; andere opfere deinem Machtstreben; der Verruchtheil derWelt passe dich an, willst du anders unfehlbarem Verderben entgehen.
Selbstsucht ist der Schlüssel für dies Gedankengebäude, die Urkraft, wie Descartes' Wirbel und Newtons Schwerkraft. Sie heißt für Machiavell die Seele der Welt, der sich alles beugen muß, bis auf die Regungen des Gemütes. Doch zeugt die Voraussetzung, daß es in des Menschen Macht siehe, diese seine Regungen sich zu geben oder zu nehmen, von einem argen Mangel an Weltkenntnis; beweist doch die ganze Anlage unseres Leibes, daß Freude und Niedergeschlagenheit, Sanftmut wie Zornmütigkeit, Liebe und Gleichgültigkeit, Beherrschtheit wie Maßlosigkeit, mit einem Wort: alle unsere Gemütsregungen lediglich von der Beschaffenheit bestimmter Organe unseres Leibes abhangen, von der mehr oder minder feinen Anlage etlicher Fibern, etlicher Membranen, von der Dick- oder Leichtfiüssigkeit unseres Blutes und der Leichtigkeit oder Trägheit seines Umlaufs, von der Stärke unseres Herzens, der Beschaffenheit unserer Galle, der Größe unseres Magens und dergleichen mehr. Nun frage ich aber: Sind alle diese Teile unseres Leibes wohl imstande, sich den Gesetzen unserer Selbstsucht willig unterzuordnen? Mehr Vernunft hat wohl die Annahme des Gegenteils! Machiavell wird jedenfalls viele Andersgläubige finden, die den Gott Epikurs dem Cäsars vorziehen.
Nein, es gibt nur einen berechtigten Grund für ein vernunftbegabtes Wesen, sich dem wohltuenden Zwange seiner inneren Regungen zu widersetzen: die Einsicht dessen, was zuletzt seinem Besten dient und was dem Gemeinwohl frommt. Diese leidenschaftlichen Regungen erniedrigen unser Wesen, wenn wir uns ihnen wehrlos ausliefern, und richten uns leiblich zugrunde, wenn wir ihre Zügel schleifen lassen; nicht ganz unterdrücken soll man sie, aber meistern und ihnen eine Richtung geben zu Nutz und Frommen der Gesellschaft, einfach, indem man ihnen einen neuen Gegenstand anweist. Sollten wir's auch nie zu einem großen, regelrechten Siege in einem Entscheidungskampfe über sie bringen, der kleinste Vorteil über sie sei uns ein tröstlich Zeichen dafür, daß wir auf dem Wege sind, Herren über uns selbst zu werden.
Ich muß in diesem Kapitel für den Leser noch einen groben Widerspruch Machiavells anstreichen. Im Anfange heißt es: „Eine ganze Welt liegt zwischen dem, was einer tut, und dem, was einer sollte; jeder Mensch, der sein Tun und Lassen danach einrichten wollte, was ihm von dieser Pflicht der Menschen vorschwebt, nicht aber nach“