<90> besonderer Fruchtbarkeit in jenen kalten Himmelsstrichen gewesen, und so gab's bald doppelt soviel Einwohner im Lande, als der Ackerbau ernähren konnte; da taten sich denn die jüngeren Söhne der Adelsgeschlechter zusammen, wurden notgedrungen zu Glücksrittern, überfielen fremde Länder und warfen da die Besitzer hinaus. In der Geschichte Ost- und Westroms war's denn auch die Regel, daß die Barbarenhorden nichts begehrten als Grund und Boden zur Bebauung, um ihren Lebensunterhalt zu finden. Die Nordlande sind heut nicht weniger dicht bevölkert als dazumal, aber inzwischen hat der Luxus wohlweislich unsere Bedürfnisse vervielfältigt und damit den Anstoß zu gewerblicher Tätigkeit und zu all jenen Fertigkeiten in der Herstellung gegeben, von denen ganze Völker leben können, die sonst ihren Unterhalt auswärts suchen müßten.
Diese verschiedenen Mittel, die einen Staat zur Blüte bringen, sind der fürstlichen Weisheit anvertraute Pfunde; der Fürst soll damit wuchern, soll sie nutzbringend an legen. Das sicherste Kennzeichen dafür, daß ein Land unter weiser Leitung des Glückes, der Wohlhabenheit und Fülle genießt, ist dann das Erwachen der schönen Künste und der Wissenschaften; denn diese Blumen gedeihen nur auf fettem Boden und unter mildem Himmel; bei Trockenheit, beim Ungestüm nördlicher Winde sterben sie hin.
Nichts gibt einem Reiche mehr Glanz, als wenn die Künste unter seinem Schutz erblühen. Das Zeitalter des Perikles dankt seinen Ruhm ebenso dem Phidias, dem Praxiteles und zahlreichen anderen Großen, die damals zu Athen lebten, wie den Schlachten, die dieselben Athener gewannen. Das augusteische ist bekannter durch einen Cicero, Ooid, Horaz und Vergil als durch die Ächtungslisten jenes grausamen Kaisers, der schließlich doch ein gut Teil seines Nachruhms der Leier des Horaz verdankt. Das Jahrhundert des großen Ludwig ist gefeierter um solcher Größen willen wie Corneille, Racine, Molière, Boileau, Descartes, Coypel, Le Brun1, Regnaudin2, als durch den über alles Maß gelobten Rheinübergang3, die Belagerung von Mons4, an der Ludwig in Person teilnahm, und die Schlacht bei Turin, die Marsin auf allerhöchsten Befehl den Herzog von Orleans verlieren ließ 5.
Die Könige ehren die ganze Menschheit in der Auszeichnung und Belohnung derer, die ihr am meisten Ehre machen; wer wäre das sonst als jene überragenden Geister, die der Vervollkommnung unserer Erkenntnis, dem Dienste der Wahrheit sich weihen, die keinem irdischen Werte nachfragen, um die Fähigkeit des reinen Gedankens zu immer höherer Vollendung zu steigern? Wie die Weisen die Leuchten der Welt sind, so sollten sie eigentlich ihre Gesetzgeber sein.
1 Noël Coypel (1628—1707) und Charles le Brun (1619—1690), französische Maler.
2 Thomas Regnaudin (1627—1706), französischer Bildhauer.
3 Der Übergang über den Niederrhein bei Tolhuys 1672 bei Beginn des Feldzugs gegen Holland, der den Franzosen den Weg in die nieder, ländische Republik öffnete.
4 Die Einnahme von Mons erfolgte am 9. April 1691.
5 Durch die Weigerung des Marschalls von Frankreich, Graf Ferdinand Marsin, dem Feinde, der zum Entsatz von Turin herbeieilte, entgegenzugehen, wie der Herzog Philipp von Orleans es wollte, ging die Schlacht bei Turin (7. September 1706) für die Franzosen verloren.