<94> allen Vorzügen des Herzens ohne jene lebendige und glänzende Treffsicherheit, die dem Genie eigen ist. Da haben denn kluge Fürsien gewöhnlich solchen Männern, bei denen die Gemütsseite überwog, den Vorzug gegeben für die Verwendung im Innern des Landes; für ihre auswärtigen Verhandlungen dagegen bedienten sie sich lieber der lebhaften und feurigen Köpfe. Mit gutem Grunde, denk' ich: handelt es sich nur um die Auftechterhaltung von Ordnung und Recht im eigenen Staate, so ist Redlichkeit dafür Bürgschaft genug; gilt's aber, den Nachbar durch Scheingründe hinters Licht zu führen, den Pfad des Ränkespiels zu beschreiten und sogar Bestechungen anzuwenden, wozu Gesandte im Ausland oftmals gezwungen sind, dann ist's mit der Ehrlichkeit nicht getan, das liegt auf der Hand, dann braucht's Witz und Geschmeidigkeit.
Ich meine, ein Fürst kann Treue und Diensteifer gar nicht genug belohnen, eine Erkenntlichkeit, die uns schon unser natürliches Gerechtigkeitsgefühl zum unabweisbaren Bedürfnis macht. Außerdem aber gebietet's den Großen der eigene Nutzen, Dankbarkeit mit ebensoviel Hochherzigkeit zu üben, wie sie mit Milde strafen sollen: kommt ein Minister dahinter, daß die Tugend gar kein so schlechtes Geschäft, so fühlt er sich ganz gewiß nicht mehr auf verbrecherische Streiche angewiesen und wird sich lieber die Wohltaten des eigenen Herrn gefallen lassen als die Bestechungen eines fremden. So begegnen sich hier durchaus die Forderung der Gerechtigkeit und die der Weltklugheit, und wollte einer, statt großmütige Dankbarkeit zu üben, die Zuneigung seiner Minister auf eine gefährliche Probe stellen — ich weiß nicht, was dabei bedenklicher wäre: seine Herzlosigkeit oder sein Unverstand.
Manche Fürsten verfallen wieder in einen anderen Fehler, der ihrem wahren Vorteil genau so zuwiderläuft: sie wechseln ihre Minister mit bodenloser Leichtfertigkeit und ahnden mit übertriebener Härte die geringfügigsten Fehle. Arbeitet ein Minister unmittelbar unter den Augen seines Fürsien, so kann dem Herrn, nach einer geraumen Amtsdauer, unmöglich entgehen, wo jener etwa versagt; je scharfsichtiger er ist, desto leichter kommt er dahinter. Da wird denn ein Herrscher ohne philosophische Besonnenheit gar bald die Geduld verlieren, wird außer sich geraten über die Schwächen seines Beamten, wird ihm seine Gnade entziehen, ihn fallen lassen. Ein Fürst, der tiefer denkt, kennt die Menschen besser, er weiß sie allzumal gezeichnet mit dem Mal der Menschlichkeit, wie es denn nichts Vollkommenes hienieden gibt, er weiß, daß alle wertvollen Eigenschaften gewissermaßen aufgewogen werden durch große Mängel, und daß ein Genie aus dem Guten wie dem Schlechten seinen Vorteil ziehen muß. Aus diesem Grunde behält er lieber, wofern keine Pflichtvergessenheit im Spiel ist, seine Minister mit ihren guten wie ihren schlechten Eigenschaften bei, hält sich lieber an die, die er schon ausgeprobt hat, statt es mit neuen, die er vielleicht fände, zu versuchen; so wird ein Musiker von Verstand sein altes Instrument, dessen Vorzüge und Schwächen ihm geläufig sind, einem neuen von unbekannter Güte vorziehen.