4. Kapitel
Warum das Reich des Darius nach dem Tode seines Eroberers Alexander nicht wider dessen Nachfolger sich erhob.
Den Geist der einzelnen Völker zu verstehen, braucht man sie nur nebeneinander zu betrachten, wie Machiavell in diesem Kapitel die Türken und die Franzosen, Völker, die sich in Gebräuchen, Sitten und Anschauungen außerordentlich unterscheiden. Warum ist die Eroberung des Türkenreiches so schwer, fragt er, ihre Behauptung aber so leicht? Ebenso führt er aus, was alles eine mühelose Unterjochung Frankreichs begünstige, was dann aber dauernd die Ruhe des Besitzers bedrohe, weil Aufruhr ohne Ende das Land erfülle.
Der Autor sieht die Dinge nur von einer Seite an: er hält sich lediglich an die Verfassung der Regierungen und scheint zu glauben, die Macht des türkischen und persischen Reiches beruhe nur auf der Oberherrlichkeit eines einzelnen Hauptes über knechtisch unterjochte Völker, well er nur die Vorstellung eines festgegründeten, uneingeschränkten Despotismus kennt, als des sichersten Mittels für einen Fürsten, ungestört zu herrschen und seinen Feinden kraftvoll zu widerstehen.
Zu Machiavells Zeiten sah man freilich in dem Hochadel und den Edelleuten Frankreichs gleichsam kleine Herrscher, in gewissem Sinne Teilhaber an der Fürstengewalt, was Anlaß zu allerhand Spaltungen, zu starken Parteibildungen schuf und häufigen Empörungen Nahrung gab. Und doch weiß ich nicht, ob der Großherr nicht eher der Gefahr einer Entthronung ausgesetzt ist als ein König von Frankreich. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur der: ein Türkenkaiser wird gewöhnlich von den Ia-nitscharen erdrosselt, während die Könige Frankreichs, die umgekommen sind16-1, gewohntermaßen von Mönchen umgebracht wurden. Doch Machiaoell spricht in diesem Kapitel mehr von Umwälzungen im allgemeinen als von Einzelfällen; er hat in der Tat einige Triebfedern in dem höchst kunstreich gebauten Uhrwerk herausgefunden, doch spricht er nur als Mann der Staatskunst. Vielleicht, daß der Philosoph das eine oder andere hinzufügen kann.
Die Unterschiede der Himmelsstriche, der Ernährung und Erziehung schassen eine völlige Ungleichheit in Lebensart und Denkweise, daher denn ein Wilder aus Amerika <17>ganz anders handelt, als ein gebildeter Chinese; daher denn das Temperament eines Engländers, tief wie Seneka, aber grillenhaft, etwas ganz anderes ist als der Mut und lächerlich-dumme Stolz eines Spaniers; daher denn ein Franzose mit einem Holländer so wenig Verwandtschaft hat wie die Lebhaftigkeit eines Affen mit der Schwerfälligkeit einer Schildkröte.
Von jeher erkannte man als die Seele der orientalischen Menschheit den Sinn der Beharrung bei der Lebensweise und den Sitten der Vorzeit, wovon sie niemals abgeht. Ihre Glaubenslehre, eine andere als die der Europäer, verpflichtet sie obendrein, niemals eine Unternehmung von sogenannten Ungläubigen zum Nachteil ihrer angestammten Herren zu begünstigen und gewissenhaft jeglichen Eingriff in ihren Glauben, jeglichen Umsturz ihrer Regierung zu verhüten. Auf diese Weise sichert die Sinnlichkeit ihrer Glaubensvorstellungen und die Unwissenheit, die nicht zuletzt sie so unverbrüchlich an ihren alten Sitten festhalten läßt, den Thron ihrer Herren wider die Begehrlichkeit der Eroberer. Ihre Denkweise verbürgt zuverlässiger die Dauer ihrer mächtigen Monarchie als ihre Staatsleitung.
Im Gegensatz zum Moslem ist die so völlig anders geartete seelische Veranlagung des französischen Volles ganz und gar oder mindestens zum guten Teil der Grund für die häufigen Umwälzungen in diesem Reiche: Leichtes Blut, unbeständiger Sinn war jederzeit ein Grundzug dieses liebenswürdigen Voltes. Die Franzosen sind unruhige und wilde Köpfe; gar bald langweilt sie, was den Reiz der Neuheit verlor; ihre Lust an der Veränderung hat vor den ernstesten Dingen noch nicht haltgemacht. Es scheint, als hätten es jene Kardinäle, die dort nacheinander, bald gehaßt, bald verehrt, das Reich lenkten, auf der einen Seite, bei der Niederwerfung der großen Herren, mit Machiavell gehalten, auf der andern Seite aber in ihrer Kenntnis der Volksseele es verstanden, die häufigen Stürme abzuwenden, die dem Throne der Herrscher immer wieder von der Untertanen leichtfertigem Sinne drohten.
Richelieu kannte nur ein Ziel seiner Politik: Niederwerfung der Großen, um die Königsmacht zu heben und sie zur Grundlage des Despotismus zu machen. Das gelang ihm in so hohem Maße, daß in diesem Augenblicke in Frankreich nur noch Spuren der alten Macht des Adels übrig sind und aller jener Standesvorrechte, die nach Ansicht der Könige der Hochadel des öfteren mißbrauchte.
Der Kardinal Mazarin trat in seines Vorgängers Fußtapfen. Trotz allem Widerstand, den er erfuhr, hatte er doch eine glückliche Hand und raubte obenein noch dem Parlamente seine alten Vorrechte, sodaß heutzutage das Ansehen dieser würdigen Körperschaft nur noch ein Schatten von ehedem ist; es ist ein Scheinwesen geworden, manchmal bildet sich's wohl ein, es könnte eines Tages noch einmal ein lebendiges Gebilde vorstellen, muß aber solchen Wahn regelmäßig bitter bereuen.
Die gleiche Politik, die jene beiden großen Staatsmänner zur Errichtung eines unbeschränkten Despotismus in Frankreich führte, gab ihnen das geschickte Mittel an die Hand, den leichtfertigen und unbeständigen Sinn der Nation, um ihre Gefähr<18>lichkeit zu mindern, ständig angenehm zu beschäftigen; tausend Nichtigkeiten, tausend Tändeleien und Vergnügungen mußten die Gedanken der Franzosen ablenken, und siehe, dieselben Menschen, die gegen Cäsar sich erhoben, unter den Valois die Fremden zu ihrer Hilfe ins Land gerufen hatten, die sich gegen Heinrich IV. verbündet, unter der Vormundschaftsregierung Verschwörungen angezettelt hatten18-1, diese selben Franzosen wußten in unsern Tagen nichts Gescheiteres, als in der Modejagd mitzurennen, mit großer Geflissenheit ihren Geschmack zu ändern, heute zu verachten, was sie gestern bewundert hatten, ihre Untreue und ihren Leichtsinn in all ihrem Tun an den Tag zu legen, ob sich's um ihre Geliebte handelte, ihren Aufenthalt, ihre Vergnügungen, ihre Ansichten oder Narrheiten — nur immer etwas Neues! Damit noch nicht genug. Auch starke Heere und Festungen in großer Zahl sichern jetzt den Herrschern Frankreichs für immer ihre Königsgewalt, sie haben nichts mehr zu fürchten, nichts von inneren Kriegen, nichts von etwaigen Erobererzügen ihrer Nachbarn.
Es ist anzunehmen, daß die französische Regierung, da sie mit einem Teil der Grundsätze Machiavells soviel Glück gehabt hat, auf so gedeihlichem Wege nicht stehenbleiben und nicht verfehlen wird, alle seine Lehren in Anwendung zu bringen. Am Erfolge braucht man nicht zu zweifeln angesichts der Einsicht und Geschicklichkeit des Ministers, der augenblicklich am Ruder ist18-2.
Doch hören wir lieber auf, sagte der Pfarrer von Colignac, damit wir keine Dummheiten sagen.
16-1 Heinrich III. († 1589), Heinrich IV. († 1610).
18-1 Gemeint sind vor allem die Unruhen der Fronde während der Minderjährigkeit König Ludwigs XIV.
18-2 Dieser offen gegen die französische Politik und ihren Leiter, Kardinal Fleury, gerichtete Absatz ist in der zur Veröffentlichung gelangten Fassung des Antimachiavell fortgeblieben.