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5. Kapitel

Wie Städte oder Fürstentümer zu beherrschen sind, die vor ihrer Eroberung nach eigenen Gesetzen lebten.

Der Mensch ist ein vernünftiges, zweibeiniges Wesen ohne Federn — so hat die Schulweisheit einmal über unsere Art entschieden. Für den einen oder andern mag's mit dieser Begriffsbestimmung seine Richtigkeit haben; für die große Mehrheit trifft sie durchaus nicht zu, denn vernünftig ist nur eine kleine Minderzahl, und selbst diese vielleicht in einer Hinsicht nur; in zahllosen anderen Fällen ist das Gegenteil richtig. Der Mensch, kann man allenfalls sagen, ist ein Lebewesen, das Gedanken faßt und Gedanken verkettet. Das gilt allgemein für das ganze Geschlecht. Hierin treffen sich der Weise wie der Schwachkopf, der, welcher hohe, wie der, welcher niedrige Gedanken in sich hegt, der Freund der Menschlichkeit wie ihr Widersacher, der ehrwürdige Erzbischof von Cambrai19-1 und der nichtswürdige Florentiner Politikus.

Hat jemals Machiavell sich der Vernunft entschlagen, beim Denken vergessen, was er seiner Gattung schuldig ist, so ist's in diesem Kapitel: drei Wege schlägt er da dem Fürsten vor, einen freien republikanischen Staat, den er erobert hat, zu behaupten.

Der erste gewährt dem Fürsien gar keine Sicherheit; auf den zweiten könnte höchstens ein Irrsinniger verfallen; der dritte, nicht ganz so übel wie die zwei andern, hat gleichwohl seine Bedenken.

Warum überhaupt diesen Freistaat mit Waffengewalt einnehmen? Warum durchaus das ganze Menschengeschlecht in Ketten werfen, freie Menschen in Knechtschaft beugen? Nur damit ja die ganze bewohnte Welt eures ungerechten und boshaften Sinnes inne werde; nur damit eine Machtordnung, die für das Glück der Bürger da war, eurer Selbstsucht gefügig gemacht werde! An solchen abscheulichen Grundsätzen müßte unfehlbar die ganze Welt zugrunde gehen, sofern sie viele Bekenner fänden. Jeder ist sich wohl zur Genüge darüber klar, wie Machiavell wider die Gebote der Sittlichkeit frevelt. Wie er sich an aller Vernunft und Klugheit versündigt, wollen wir jetzt sehen.

„Man bringt einen Freistaat nach seiner Eroberung in Botmäßigkeit, indem man eine beschränkte Anzahl von Männern als Obrigkeit und als die Hüter eurer Ober<20>Hoheit einsetzt.“ Schon diese erste Regel des Staatslehrers würde dem Fürsten nichts weniger als die geringste Sicherheit einbringen. Denn es ist nicht ersichtlich, wie ein Freistaat, den einzig und allein ein Häuflein von Anhängern des neuen Gebieters im Zaume hält, dazu kommen sollte, ihm Treue zu bewahren. Naturgemäß wird seine alte Freiheit ihm lieber sein als die Knechtschaft, und er wird sich der Gewalt des Zwingherrn zu entziehen suchen; der Aufruhr wird nicht länger als bis zur ersten günstigen Gelegenheit auf sich warten lassen.

„Kein zuverlässigeres Mittel, einen freien Staat, den man in seine Gewalt gebracht hat, zu behaupten, als seine Zerstörung.“ Allerdings das sicherste Mittel, keinen Aufruhr befürchten zu müssen! Vor Jahren beging ein Engländer in London die Narrheit, sich zu töten; man fand auf seinem Tische einen Zettel, auf dem er sein befremdliches Tun damit rechtfertigte, er habe sich das Leben genommen, um niemals krank zu werden. Ich weiß nicht, ob das Heilmittel nicht schlimmer war als das Leiden. Von Menschlichkeit spreche ich hier nicht mit einem Scheusal wie Machiavell, das hieße den ehrwürdigen Namen einer Tugend, in der das Glück der Menschheit ruht, entweihen. Man braucht nicht die Religion noch die Moral zu bemühen, mit seinen eigenen Waffen kann man Machiavell in die Enge treiben, eben mit jener Selbstsucht, die ja die Seele seines Buches ist, der Abgott seiner verbrecherischen Staatsweisheit, der einzige Gott, den er anbetet.

Also du meinst, Machiavell, ein Fürst, der sich des gesicherten Besitzes seiner Eroberung freuen will, müsse sein neues Gebiet verwüsten? Aber antworte mir: zu welchem Ende hat er wohl diese Eroberung unternommen? Du wirst sagen: seine Macht zu erweitern, sich selbst gefürchteter zu machen. Das wollte ich hören, um dir zu beweisen, daß er, wofern er dir folgt, das genaue Gegenteil erreicht; denn er richtet sich zugrunde mit dieser Eroberung und richtet in der Folge das einzige Land zugrunde, das ihn für seine Verluste entschädigen könnte. Du wirst mir zugeben: ein Land, verheert, ausgeplündert, seiner Einwohner, alles Lebens, aller Ortschaften, mit einem Wort: alles dessen, was erst einen Staat ausmacht, beraubt — ein Land in solchem Zustande dürfte kaum fähig sein, einem Fürsten eine mächtige und gebietende Stellung zu gewähren. Ich denke mir einen Monarchen, der etwa die weiten Einöden von Libyen und Barka sein nennt, durchaus nicht als so furchtbaren Gebieter, und eine Million Panther, Löwen und Krokodile wiegt nicht eine Million von Untertanen auf, reiche Städte, brauchbare Häfen voller Schisse, betriebsame Bürger, Truppen und was sonst ein wohlbevölkertes Land hervorbringt.

Darüber gibt's nur eine Meinung, daß die Stärke eines Staates nicht in der Ausdehnung seiner Grenzen, sondern in seiner Bewohnerzahl beruht. Vergleicht nur Holland und Rußland! Dort ein paar sumpfige und unfruchtbare Eilande, die aus dem Schoße des Ozeans aufsteigen, ein Neiner Freistaat von ganzen 48 Metten in der Länge und 40 in der Breite. Aber dieser kleine Körper ist ganz Nerv, ein zahlloses Volk wohnt da, und dieses fleißige Volk ist überaus mächtig und reich. Das<21> Joch der spanischen Herrschaft, die seinerzeit die mächtigste Monarchie Europas war, hat es abgeschüttelt. Der Handel dieser Republik reicht bis an die Grenzen der Erde, sie behauptet ihren Rang unmittelbar hinter den Großmächten und vermag in Kriegszeiten ein Heer von 100 000 Streitern zu unterhalten, ungerechnet eine zahlreiche, wohlgerüstete Flotte.

Nun werfen wir im Gegensatz dazu den Blick auf Rußland: da breitet sich vor uns ein unermeßliches Land aus, eine Welt, dem Chaos des ersten Schöpfungstages ähnlich; das Land begrenzt auf der einen Seite die Große Tartarei und Indien, auf der andern das Schwarze Meer und Ungarn, auf der europäischen Seite reichen seine Grenzen bis Polen, Litauen und Kurland, Schweden begrenzt es im Norden. Rußland mag wohl 300 deutsche Meilen in der Breite und mehr als das gleiche in der Länge messen. Das Land ist reich an Getreide und bringt alles, was zum Leben nötig ist, hervor; zumal in der Gegend von Moskau und auf der Seite der Kleinen Tartarei. Und doch, so reich begünstigt es ist, es zählt gutgerechnet nur 15 Millionen Einwohner. Diese jüngst noch barbarische Nation, die jetzt in Europa eine Rolle zu spielen beginnt, vermag zu Wasser und zu Lande keine größere Streitmacht aufzubringen als Holland und bleibt an Reichtum und Hilfsquellen weit hinter ihm zurück.

Eines Staates Stärke beruht also nicht auf der Ausdehnung seiner Landesgrenzen, nicht auf dem Besitz einer weiten Einöde oder einer ungeheuren Wüste, sondern im Reichtum seiner Einwohner und in ihrer Anzahl; darum liegt es im Interesse eines Herrschers, die Bevölkerungszahl zu heben und das Land zur Blüte zu bringen, nicht aber es zu verwüsten und zugrunde zu richten. Muß man sich über die Bosheit Machiavells entsetzen, so kann er einem als Denker leid tun; er hätte besser getan, vernünftig denken zu lernen, als seine ungeheuerliche Staatslehre zum besten zu geben.

„Ein Fürst soll in einem neueroberten Freistaat seinen Sitz nehmen“ — lautet die dritte Regel des Verfassers. Sie ist glimpflicher als die andern, doch wies ich im dritten Kapitel21-1 auf mögliche Schwierigkeiten hin.

Meine Meinung ist: ein Fürst, der über einen Freistaat Herr geworden — wobei ich gerechte Gründe für seinen Feldzug voraussetze —, sollte sich damit bescheiden, dem Staate eine Buße aufzuerlegen, und ihm dann seine Freiheit wiedergeben. Freilich werden nur wenige so denken; wer darüber eine andere Auffassung hat, der mag sich seinen Besitz sichern, indem er starke Garnisonen in die Hauptplätze des neuen Gebietes legt und im übrigen das Volk seine Freiheit genießen läßt.

Was sind wir doch für Narren! Alles möchten wir erobern, als hätten wir die Zeit dazu, alles zu besitzen, als wäre unserer Daseinsdauer kein Ziel gesetzt. Unsere Lebenszeit geht zu schnell dahin, und oft glaubt man, für sich selbst zu arbeiten, und arbeitet doch nur für unwürdige oder undankbare Erben.


19-1 Fénelon.

21-1 Vgl. S. 12.