<175> die sie bei ihm fanden, gaben ihm eine schlichte, aber tugendhafte Erziehung und flößten ihm neben der Pflichttreue auch die Liebe zum Vaterland ein. Er vergalt ihnen ihre Mühe und Zärtlichkeit durch Gehorsam, Fleiß und vor allem durch einen unwillkürlichen Hang zu allem, was ehrbar und löblich ist. Von ihnen lernte er das Handwerk, in dem er später ein Meister ward. Wer immer seinesgleichen durch seine Talente überragt, ist ein großer Mann. Ein großer Mann aber braucht keine Vorfahren, und in diesem Sinne kann man ihn wie Melchisedek ansehen, der weder Vater noch Mutter besaß1. Warum sollten wir gegen unsre Landsleute ungerechter sein als gegen die Alten, die nicht mehr leben? Sokrates und Plato sind berühmt, und doch kennt niemand ihre Herkunft. Homer, der Vater der Dichtkunst, den die Bewunderung der Nachwelt fast zum Gotte erhob, bettelte um Almosen in den Städten, die sich nach seinem Tode darum stritten, welche von ihnen seine Vaterstadt war. Fürwahr, ist es nicht schöner, sich selbst einen Namen zu machen, als ihn bloß zu ererben? Haben jene adelssiolzen Geschlechter nicht auch einen Anfang gehabt? Sie sind sämtlich aus dem Volke emporgestiegen. Irgend ein Mann von hervorragendem Verdienst trat aus dem ihn umgebenden Dunkel hervor und bahnte sich den Weg zu Ehren und Würden. Die erworbenen Titel gingen auf die Nachkommen über, nicht aber das Verdienst dessen, der sie erwarb. Prüft man, was der Eigenliebe am meisten schmeichelt, so ist es gewiß, daß Der, dessen Glanz auf seine Nachkommen zurückstrahlt, größer ist als Die, die diesen Glanz von ihm erborgen. Der, um den wir trauern, meine Brüder, verdankt seinen Namen allein sich selbst. Er machte ihn berühmt durch seine Talente, schätzbar durch seine Tugenden. Verwerfen wir die falschen Begriffe von Adel und Bürgertum und betrachten wir das Leben eines armen, aber fleißigen und nützlichen Handwerkers, seine Tätigkeit zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit und seine Sitten zum Zweck unsrer Erbauung. Folgen wir ihm in seine Werkstatt, zu seiner emsigen Arbeit, seinen Mühen und Plagen, die er zum Wohle der Gesellschaft ertrug. Folgen wir ihm ferner in den Schoß seiner Familie, zu seiner treuen Pflichterfüllung als Vater, Bürger und Christ: das soll der Gegenstand dieser Rede sein.
Erster Teil
Mathias Reinhart war nie müßig. Er hatte so viel Arbeit, daß er sie kaum zu bewältigen vermochte. Sobald der Ruf eines geschickten Handwerkers sich verbreitet, will jeder, daß er für ihn arbeite. Er kommt in Mode. Besonders die vornehme Welt, die ihr sklavisch Untertan ist, glaubt gegen den guten Geschmack zu verstoßen,
1 Epistel Pauli an die Hebräer, Kap. VII, Vers 1—3.