Über die Erziehung
Brief eines Genfers an Herrn Burlamaqui, Professor in Genf
(1769)1
ich Ihnen alles auseinandergesetzt hatte, was die Regierung dieses Landes betrifft, glaubte ich Ihre Wißbegier reichlich befriedigt zu haben, aber ich irrte mich. Sie finden, daß der Stoff nicht erschöpft sei. Sie betrachten die Erziehung der Jugend als eine der wichtigsten Aufgaben einer guten Regierung und möchten wissen, welche Beachtung man ihr ln dem Staate schenkt, in dem ich mich aufhalte. Die Frage, die Sie mir in wenigen Worten stellen, wird Ihnen eine Antwort zuziehen, die den Umfang eines gewöhnlichen Briefes überschreitet, da sie mich zu unumgänglichen Erörterungen zwingt.
Gern betrachte ich die unter unsren Augen heranwachsende Jugend, das künftige, der Aufsicht des gegenwärtigen anvertraute Geschlecht, die neue Menschheit, die sich anschickt, den Platz der jetzt lebenden einzunehmen. Sie ist die Hoffnung und die wiederaufblühende Kraft des Staates und wird, gut geleitet, seinen Glanz und Ruhm fortsetzen. Ich bin mit Ihnen der Ansicht, daß ein weiser Fürst seinen ganzen Fleiß daransetzen soll, nützliche und tugendhafte Bürger in seinem Staate heranzubilden. Nicht von gestern auf heute habe ich die Erziehung geprüft, die der Jugend in den verschiedenen Staaten Europas zuteil wird. Die Fülle großer Männer, die die griechische und römische Republik hervorbrachte, haben mich für die Erziehungsweise der Alten eingenommen und mich überzeugt, daß man bei Befolgung ihrer Methode ein Volk heranbilden könnte, das gesitteter und tugendhafter ist als unsre modernen Völker.
Die Erziehung, die der Adel erhält, verdient von einem Ende Europas bis zum andren Tadel. Hierzulande erhält der junge Edelmann den ersten Anstrich von Bildung im Elternhause, den zweiten auf Ritterschulen und Universitäten. Den dritten gibt er sich selbst, da man die jungen Leute zu früh sich selbst überläßt, und das ist der
1 Die Abhandlung wurde am 15. Dezember 1769 abgeschlossen und 1770 gedruckt. Der als Empfänger des Briefes fingierte Professor Johann Jakob Burlamaqui (1694—1748) lebte in Genf und hat zwei Werke über Völkerrecht verfaßt.