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Der König an d'Alembert
(28. Januar 1773)

Ihre Bestimmung zu meinem Urteil über den Patriarchen von Ferney war mir sehr schmeichelhaft. Die aufgeklärte Nachwelt wird die Franzosen um diesen Wundermann beneiden und sie schelten, daß sie seinen Wert nicht genug erkannt haben.

Solche Genies bringt die Natur nur in weiten Abständen hervor. Die griechische Antike bietet uns Homer, den Vater der epischen Dichtung, Aristoteles, der, wenn auch hier und da dunkel, universelles Wissen besaß, Epikur, der eines Dolmetschers wie Newton bedurfte, um voll gewürdigt zu werden. Die Lateiner gaben uns Cicero, der ebenso beredt war wie Demosthcnes und viel mehr Wissensgebiete umfaßte, Virgil, den ich für den größten Dichter halte. Dann klafft eine weite Lücke bis zu Bayle, Leibniz, Newton und Voltaire; denn eine Unzahl von Schöngeistern und talentvollen Leuten gehört nicht in diese höchste Klasse. Vielleicht bedarf es einer Kraftansirengung der Natur, um so erhabne Geister zu gebären; vielleicht sind viele durch die Zufälle der Geburt erstickt und durch das Spiel des Schicksals ihrer Besiimmung entfremdet. Vielleicht gibt es auch für den Geist unfruchtbare Jahre, genau wie für das Getreide und den Weinbau. Wie Sie sagen, spürt man diese Sterilität in Frankreich. Man sieht Talente, aber wenige Genies. Diese Sterilität wird zwar auch von den Nachbarn bemerkt, aber sie sind darum nicht besser dran. England und Italien versiegen. Ein Hume, ein Metastasio1 halten keinen Vergleich mit Bolingbroke noch gar mit Ariost aus.

Unsre biedren Deutschen haben zwanzig Mundarten und keine Sprache mit festen Regeln2. Das Fehlen dieses wesentlichen Werkzeuges schadet der Pflege der schönen Literatur. Der Sinn für gesunde Kritik ist bei ihnen noch nicht recht heimisch. Ich suche die Schulen in diesem so wesentlichen Zweig der humanistischen Studien zu verbessern, aber vielleicht bin ich ein Einäugiger, der Blinden den Weg weisen will. In den Wissenschaften fehlt es uns weder an Physikern noch an Mechanikern, aber für die Mathematik ist noch wenig Sinn vorhanden. Umsonst sage ich meinen Landsleuten, Leibniz brauche Nachfolger: er findet keine. Wenn Genies zur Welt kommen, wird sich das alles geben. Diesen Glücksfall haben Sie, glaube ich, nicht in Rechnung gesetzt3. Man muß abwarten, bis die Natur, die sich keine Vorschriften machen läßt, von selbst handelt. Wir armen Geschöpfe können weder Anstrengungen von ihr fordern noch den Maßregeln vorgreifen, die sie zu treffen gedenkt, um die so


1 David Hume (1711—1776), englischer Philosoph: Pietro Metastasio (1698—1782), geb. in Rom, gest. als Hofdichter in Wien. Vollender der ernsten Operndichtung (opera seria) der Italiener.

2 Vgl. S. 305-

3 D'Alembert sprach von dem allgemeinen Niedergang der schönen Literatur in Europa.