Der König an Voltaire
(28. Dezember 1774)
Die Zeitalter, wo die Völker einen Turenne, Conde, Colbert, Bossuet, Bayle und Corneille hervorbringen, folgen nicht dicht aufeinander. Von solcher Fruchtbarkeit war die Zeit des Perikles, des Cicero, Ludwigs XIV. Zu derartigem Aufschwung müssen die Geister durch alles vorbereitet werden. Er ist gewissermaßen eine Kraftanstrengung der Natur, eine Vergeudung ihrer Fruchtbarkeit wie ihres Überflusses, von der sie sich wieder erholen muß. Kein Herrscher kann zur Heraufkunft einer so glänzenden Epoche etwas beitragen. Die Natur selbst muß den Genies ihren Platz in der Welt derart anweisen, daß sie ihre Begabung in ihrer Lebensstellung auswirken können. Oft stehen sie am verkehrten Fleck, und ihr Same erstickt und bleibt fruchtlos.
Der König an Voltaire
(24. Juli 1775)
Die Deutschen haben den Ehrgeiz, auch ihrerseits die Segnungen der schönen Künste zu genießen. Sie streben danach, Athen, Rom, Florenz und Paris gleichzukommen. Bei aller Vaterlandsliebe wage ich doch nicht zu behaupten, daß es ihnen bisher gelingt. Zweierlei fehlt: die Sprache1 und der Geschmack. Die Sprache krankt am Wortschwall. Die vornehme Welt spricht Französisch, und die paar Schulfüchse und Professoren vermögen ihrer Muttersprache nicht die Glatte und die leichte Beweglichkeit zu geben, die sie nur in der guten Gesellschaft erwerben kann. Dazu kommt die Verschiedenheit der Mundarten. Jede Provinz behauptet die ihre, und bisher hat keine den Vorrang erlangt. An Geschmack fehlt es den Deutschen in allem. Die Nachahmung der Schriftsteller des Augusteischen Zeitalters ist ihnen noch nicht gelungen. Ihr Geschmack ist ein Mischmasch von römischem, englischem, französischem und deutschem Geschmack. Noch fehlt ihnen das kritische Urteil, das uns das Schöne ergreifen heißt, wo es sich findet, und uns zwischen dem Mittelmäßigen und Vollkommenen, dem Edlen und Erhabenen unterscheiden lehrt, um jedes an den rechten Fleck zu setzen. Kommt nur das Wort Gold recht oft in ihrer Poesie vor, so halten sie ihre Verse für
1 Vgl. S. 305.